07.03.2024
74. Berlinale 2024

Zwischen Zensur und Exil

Shahid
Derwische der Vergangenheit: Narges Kalhors imaginärer Shahid
(Foto: Berlinale | Shahid (Narges Kalhor))

Iranische Filme gehören zur guten Tradition der Berlinale. Quer durch die Sektionen zeugen sie auch 2024 von einer lebendigen Kinematographie unter schweren Bedingungen

Von Wolfgang Lasinger

Es war in den letzten zehn Jahren immerhin dreimal ein irani­scher Film, der den Goldenen Bären gewann. Das waren 2011 Nader und Simin von Asghar Farhadi, 2015 Taxi Teheran von Jafer Panahi, und 2022 Doch das Böse gibt es nicht von Mohammad Rasoulof. Für die ganz großen Preise reichte es dieses Jahr nicht, doch vermochten es einige Achtungs­er­folge, wieder mit Nachdruck auf die Präsenz des irani­schen Kinos zu verweisen.

Über­ra­schend komö­di­an­tisch

My favourite cake von Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha im Wett­be­werb über­raschte mit einer Tonalität, wie man sie von irani­schen Filmen erst mal nicht gewöhnt ist – ein vergnüg­lich-komö­di­an­ti­scher Liebes­film um die verwit­wete 70-Jährige Mahin (gespielt von der groß­ar­tigen Lily Farhad­pour). Ein ausge­las­senes Treffen mit ihren Freun­dinnen lässt sie in Erin­ne­rungen an die besseren Zeiten schwelgen. Die Gene­ra­tion, die jung war zur Zeit des Schahs, in den 70ern, kannte noch die Verhält­nisse, als unter dem Einfluss einer ökono­misch moti­vierten Libe­ra­li­sie­rung im Iran auch Frauen indi­vi­du­elle Frei­heiten genossen. Mit der isla­mi­schen Revo­lu­tion 1979 erfolgte eine radikale Beschnei­dung dieser Frei­heiten und Repres­sion bestimmte seitdem in immer stärkerer Form den Alltag. Dieser drückenden Stimmung versucht das Kränzchen der alten Freun­dinnen zu entkommen.

Die schon lange an Einsam­keit leidende Prot­ago­nistin lässt sich ermuntern, es doch auch wieder mal mit einem Mann zu probieren… Und tatsäch­lich ist es dann für iranische Verhält­nisse in mehr­fa­chem Sinne unerhört, wie Mahin sich aufmacht, in einem Restau­rant für Pensio­nisten einen rüstigen Rentner aufzu­ga­beln, ihn zu sich nach Hause einzu­laden und dort zu bewirten. Und in einer magischen Nacht alte Frei­heiten aufleben zu lassen. Die Unbe­schwert­heit, die dabei beschworen wird, bleibt immer eine prekäre. Die neugie­rigen Nachbarn könnten einen ja denun­zieren.

Nicht immer erfolgt die Thema­ti­sie­rung der Unter­drü­ckung so beiläufig, manchmal wirken die Hinweise auf die Bedrohung durch die Sitten­po­lizei allzu kalku­liert-didak­tisch und bringen den betö­renden Balan­ceakt zwischen Screwball-Comedy und frecher Aufleh­nung ins Kippen. Das Ende mit seiner forcierten Pointe könnte man gar als Einkni­cken vor dem mora­li­schen Verdikt der Sitten­wächter lesen, als wollten sich die Filme­ma­cher selbst für ihren Übermut, für ihren Wagemut auf die Finger klopfen. Mit der filmisch-künst­le­ri­schen Qualität der Ballade von der weißen Kuh, mit dem das Regieduo vor zwei Jahren im Wett­be­werb vertreten war, kann My favourite cake nicht mithalten. Die Fipresci-Jury der inter­na­tio­nalen Film­kritik zeichnete My favourite cake mit ihrem Preis aus, eine Aner­ken­nung dieses Versuches, aus dem gewohnten Muster irani­scher Düster­keit auszu­bre­chen, und sicher auch ein Zeichen der Unter­s­tüt­zung für Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha, die für Regie und Drehbuch Verant­wort­li­chen, die nicht aus dem Iran ausreisen durften, um den Film in Berlin zu präsen­tieren.

Para­bel­hafte Sinnsuche

Dem bekannten Muster irani­scher Kine­ma­to­grafie eher verpflichtet zeigte sich The Great Yawn of History von Aliyar Rasti in der Sektion Encoun­ters, der hier (ex-aequo mit Some Rain Must Fall des Chinesen Qiu Yang) mit dem Spezi­al­preis der Jury ausge­zeichnet wurde. Es ist das Spiel­film­debüt des Iraners, der aus dem Video- und Kunst­be­reich kommt und vor allem Musik­vi­deos für iranische Bands wie Pallett, Bomrani oder Damahi und Kurzfilme gedreht hat.

Es handelt sich um eine para­bel­hafte Geschichte, die – anders als My favourite cake – versucht, unter Wahrung der durch die Zensur gesetzten Schranken exis­ten­ti­elle Sinn­fragen zu thema­ti­sieren. Beitollah hat sich im Traum ein fabel­hafter Münz­schatz offenbart – um ihn zu bergen, benötigt er einen nicht-gläubigen Helfer. Denn er selbst darf seinem Glauben gemäß das fremde Geld nicht an sich nehmen. Nur als Geschenk seines Beglei­ters dürfte er es behalten, ohne sich zu versün­digen. So legt er Geld­scheine mit dem Joban­gebot in der Stadt aus. Aus den über­ra­schend zahl­rei­chen Bewerbern wählt er dann Shoja aus, der aus allen sozialen und ökono­mi­schen Bindungen am stärksten heraus­ge­fallen ist – und der jeden Glauben und jede Illusion verloren hat, einen exem­pla­ri­schen Nihi­listen gewis­ser­maßen.

Das Geld soll in einer Höhle liegen, in einer abge­le­genen Gebirgs­re­gion. So machen sich die beiden Männer auf die Reise, zunächst mit dem Zug, dann zu Fuß – der Weg führt durch sehr konkrete, überaus eindrucks­voll gefilmte Land­schaften von groß­ar­tiger Monotonie, doch sind die durch­streiften Gefilde bald eher meta­phy­si­scher Art. In die Richtung wies schon früh im Film ein nicht besonders beiläufig plat­ziertes Porträt Samuel Becketts im Schau­fenster einer Buch­hand­lung, vor der Beitollah einen seiner Geld­scheine verteilt hat.

Das Narrativ der Suche mit der aufs Lineare beschränkten Handlung und dem redu­zierten Personal erinnert dabei an große exis­ten­tia­lis­ti­sche Sinn­bilder des Lebens, wie sie Franz Kafka mit seinem »Schloss« oder Dino Buzzati mit seiner »Tata­ren­wüste« entworfen haben. Die spezi­fisch iranische Note liegt aber vor allem in den mora­li­schen Dilemmata, die in den Dialogen durch­ex­er­ziert werden. Und hier ist es die Binnen­logik eines rigiden Glau­bens­sys­tems, das sich in immer absurder wirkende Konstruk­tionen versteigt – und am Ende nur das Nichts als letzten Sinn ergibt. Das entbehrt nicht eines spröden Witzes, strahlt aber dann doch zu viel der Trost­lo­sig­keit aus, die diesen Film nicht heran­rei­chen lässt an entspre­chende Vorbilder wie Kiaros­tami.

Sie haben die Waffen, wir haben uns

Mit My stolen planet von Farahnaz Sharifi fand sich ein Komple­men­tär­film zu My favourite cake in der Reihe Panorama. Der Unter­drü­ckung, die dort mit dem Versuch komö­di­an­ti­scher Leich­tig­keit heraus­ge­for­dert wurde, spürt My stolen planet doku­men­ta­risch nach. Die Regis­seurin ist 1979, im Jahr der isla­mi­schen Revo­lu­tion Khomeinis, geboren: mit ihrer Einschu­lung ein paar Jahre später muss sie erstmals den Hijab, das Kopftuch, tragen. Damit erlebt sie die Trennung des Privaten und Öffent­li­chen als einschnei­dende Erfahrung. In den unbe­schwerten Jahren der Kindheit davor wurde sie in der nicht reli­giösen Familie vor dem Kontakt mit isla­mi­scher Rigidität bewahrt: sie spricht von dieser Zeit als »my stolen planet«.

Die Filme­ma­cherin rekon­stru­iert diesen »gestoh­lenen« Bereich anhand von Bild- und Tondo­ku­menten, mit Fotos aus dem Fami­li­en­album, mit Super-8-Filmen ihrer Eltern, die ausge­las­senes Feiern und Tanzen zu Hause unter dem Konterfei Khomeinis an der Wohn­zim­mer­wand zeigen. In dem als persön­lich-intimen Tagebuch-Essay ange­legten Film sammelt sie obsessiv solche Momenten der Freiheit, die im Gegenzug der moralisch-sitt­li­chen Repres­sion abge­rungen werden müssen – und das geht für die Frauen nur im privaten Raum. Farahnaz Sharifi filmt mit Kameras aller Art, und fahndet nach Film­ma­te­rial (Super8, Video, digitale Files) aus anonymen privaten Nach­lässen, die dieses in den Innenraum abge­drängte Leben evozieren – eine immer gespens­ti­scher wirkende Gegenwelt zur von der Sitten­po­lizei der Revo­lu­ti­ons­garden regu­lierten Welt, in der Frauen nicht singen, nicht tanzen, sich nicht arti­ku­lieren dürfen und sich verhüllen müssen: »Sie haben die Waffen, wir haben uns« – so heißt es einmal im Kommentar.

Sharifi macht die Trennung zwischen Öffent­lich und Privat emble­ma­tisch am Hijab fest, diesem Stück Stoff, an dem sich die Unruhen des Jahres 2022 entzün­deten, nachdem die Kurdin Mahsa Amini wegen Verstößen gegen die Klei­der­ord­nung verhaftet wird und dabei stirbt. Da lebt Farahnaz Sharifi nicht mehr im Iran. Für ein mehr­wöchiges Stipen­dium in Deutsch­land hat sie den Iran verlassen, kehrt dorthin aber nicht mehr zurück, als Doku­men­tar­fil­me­rinnen, Künst­le­rinnen aus ihrem Freun­des­kreis verhaftet und ihre Wohnung durch­sucht, ihr Archiv beschlag­nahmt wurden. Die Revolte, die wieder erstickt wird, muss sie von außen mitver­folgen. So wird dieser Film zu einem eindring­lich persön­li­chen Dokument: der gestoh­lene Planet ist durch die einschnei­dende Erfahrung des Exils nun auch das im Iran zurück­ge­las­sene Leben.

Auto­fik­tio­nale Virtuo­sität

Narges Kalhor arbeitet sich in Shahid (im Forum zu sehen) an ihrer im Iran zurück­ge­las­senen Fami­li­en­ge­schichte ab. Die in München lebende Iran-Exilantin setzt in ihrem auto­fik­tio­nalen Spiel ein Alter Ego von sich selbst in Szene, das einen Teil ihres Fami­li­en­na­mens loswerden möchte: »Shahid« (was soviel wie Märtyrer bedeutet) soll aus den Papieren und aus ihrer Existenz getilgt werden. Die Bean­tra­gung bei den Verwal­tungs­behörden gestaltet sich jedoch als sehr mühsam. Insbe­son­dere ein psycho­lo­gi­sches Gutachten soll die im Namen manifeste trau­ma­ti­sche Belastung nach­weisen. Narges Kalhor setzt den Marsch durch die Insti­tu­tionen, den ihre Prot­ago­nistin zu bestreiten hat, in eine vor szeni­schen Einfällen über­bor­dende Reihe von Tableaus um. Wenn die Prot­ago­nistin morgens das Haus verlässt, findet sie sich in einem Straßen­theater wieder: in einer düster-faszi­nie­renden Choreo­gra­phie wird sie begleitet von Wieder­gän­gern ihres Urgroß­va­ters, der gemäß der Fami­li­en­le­gende den Märtyrer im Namen implan­tiert hat. In einer Art Exor­zismus der eigenen Vergan­gen­heit wird diese Szene ritu­al­haft in jedes Mal neu über­ra­schenden Varianten durch­ge­spielt. Mantra­artig wieder­holte Verse wehren die Heim­su­chungen durch die Mullahs ab und führen leit­mo­tiv­artig durch den Film, um eine poetisch-exis­ten­ti­elle Orts­be­stim­mung der Exil­er­fah­rung vorzu­nehmen.

Der Film greift in perfor­mativ-ritu­al­haften Abläufen Situa­tionen bei den Behörden, beim Thera­peuten auf und führt sie in spie­le­ri­sche Konstel­la­tionen jenseits von Theater und Film über. Auch die Dreh­ar­beiten werden trans­pa­rent gemacht, das Making-of des Films selbst wird Thema, ohne dass die Mittel des Aus-der-Rolle-Fallens bemüht oder abge­griffen wirkten. Das Ganze ist vielmehr von uner­müd­li­cher Energie und sprühendem Witz voran­ge­trieben.

Narges Kalhor, deren erster Langfilm In the Name of Sche­he­ra­zade oder Der erste Bier­garten in Teheran die doku­men­ta­ri­sche Form auflöste und über­schrieb, gelingt mit Shahid ein Kunst­stück, das das mitt­ler­weile zur Belie­big­keit verkom­mene Mode­eti­kett der Auto­fik­tion wirklich verdient – weil hier eine ganz eigene schöp­fe­ri­sche Form des Umgangs mit der eigenen Biogra­phie zwischen Ernst und Spiel gefunden wird. Dieser Film wurde dieses Jahr mit dem Caligari-Preis und dem CICAE Arthouse Cinema Award ausge­zeichnet.