74. Berlinale 2024
Zwischen Zensur und Exil |
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Derwische der Vergangenheit: Narges Kalhors imaginärer Shahid | ||
(Foto: Berlinale | Shahid (Narges Kalhor)) |
Es war in den letzten zehn Jahren immerhin dreimal ein iranischer Film, der den Goldenen Bären gewann. Das waren 2011 Nader und Simin von Asghar Farhadi, 2015 Taxi Teheran von Jafer Panahi, und 2022 Doch das Böse gibt es nicht von Mohammad Rasoulof. Für die ganz großen Preise reichte es dieses Jahr nicht, doch vermochten es einige Achtungserfolge, wieder mit Nachdruck auf die Präsenz des iranischen Kinos zu verweisen.
My favourite cake von Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha im Wettbewerb überraschte mit einer Tonalität, wie man sie von iranischen Filmen erst mal nicht gewöhnt ist – ein vergnüglich-komödiantischer Liebesfilm um die verwitwete 70-Jährige Mahin (gespielt von der großartigen Lily Farhadpour). Ein ausgelassenes Treffen mit ihren Freundinnen lässt sie in Erinnerungen an die besseren Zeiten schwelgen. Die Generation, die jung war zur Zeit des Schahs, in den 70ern, kannte noch die Verhältnisse, als unter dem Einfluss einer ökonomisch motivierten Liberalisierung im Iran auch Frauen individuelle Freiheiten genossen. Mit der islamischen Revolution 1979 erfolgte eine radikale Beschneidung dieser Freiheiten und Repression bestimmte seitdem in immer stärkerer Form den Alltag. Dieser drückenden Stimmung versucht das Kränzchen der alten Freundinnen zu entkommen.
Die schon lange an Einsamkeit leidende Protagonistin lässt sich ermuntern, es doch auch wieder mal mit einem Mann zu probieren… Und tatsächlich ist es dann für iranische Verhältnisse in mehrfachem Sinne unerhört, wie Mahin sich aufmacht, in einem Restaurant für Pensionisten einen rüstigen Rentner aufzugabeln, ihn zu sich nach Hause einzuladen und dort zu bewirten. Und in einer magischen Nacht alte Freiheiten aufleben zu lassen. Die Unbeschwertheit, die dabei beschworen wird, bleibt immer eine prekäre. Die neugierigen Nachbarn könnten einen ja denunzieren.
Nicht immer erfolgt die Thematisierung der Unterdrückung so beiläufig, manchmal wirken die Hinweise auf die Bedrohung durch die Sittenpolizei allzu kalkuliert-didaktisch und bringen den betörenden Balanceakt zwischen Screwball-Comedy und frecher Auflehnung ins Kippen. Das Ende mit seiner forcierten Pointe könnte man gar als Einknicken vor dem moralischen Verdikt der Sittenwächter lesen, als wollten sich die Filmemacher selbst für ihren Übermut, für ihren Wagemut auf die Finger klopfen. Mit der filmisch-künstlerischen Qualität der Ballade von der weißen Kuh, mit dem das Regieduo vor zwei Jahren im Wettbewerb vertreten war, kann My favourite cake nicht mithalten. Die Fipresci-Jury der internationalen Filmkritik zeichnete My favourite cake mit ihrem Preis aus, eine Anerkennung dieses Versuches, aus dem gewohnten Muster iranischer Düsterkeit auszubrechen, und sicher auch ein Zeichen der Unterstützung für Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha, die für Regie und Drehbuch Verantwortlichen, die nicht aus dem Iran ausreisen durften, um den Film in Berlin zu präsentieren.
Dem bekannten Muster iranischer Kinematografie eher verpflichtet zeigte sich The Great Yawn of History von Aliyar Rasti in der Sektion Encounters, der hier (ex-aequo mit Some Rain Must Fall des Chinesen Qiu Yang) mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde. Es ist das Spielfilmdebüt des Iraners, der aus dem Video- und Kunstbereich kommt und vor allem Musikvideos für iranische Bands wie Pallett, Bomrani oder Damahi und Kurzfilme gedreht hat.
Es handelt sich um eine parabelhafte Geschichte, die – anders als My favourite cake – versucht, unter Wahrung der durch die Zensur gesetzten Schranken existentielle Sinnfragen zu thematisieren. Beitollah hat sich im Traum ein fabelhafter Münzschatz offenbart – um ihn zu bergen, benötigt er einen nicht-gläubigen Helfer. Denn er selbst darf seinem Glauben gemäß das fremde Geld nicht an sich nehmen. Nur als Geschenk seines Begleiters dürfte er es behalten, ohne sich zu versündigen. So legt er Geldscheine mit dem Jobangebot in der Stadt aus. Aus den überraschend zahlreichen Bewerbern wählt er dann Shoja aus, der aus allen sozialen und ökonomischen Bindungen am stärksten herausgefallen ist – und der jeden Glauben und jede Illusion verloren hat, einen exemplarischen Nihilisten gewissermaßen.
Das Geld soll in einer Höhle liegen, in einer abgelegenen Gebirgsregion. So machen sich die beiden Männer auf die Reise, zunächst mit dem Zug, dann zu Fuß – der Weg führt durch sehr konkrete, überaus eindrucksvoll gefilmte Landschaften von großartiger Monotonie, doch sind die durchstreiften Gefilde bald eher metaphysischer Art. In die Richtung wies schon früh im Film ein nicht besonders beiläufig platziertes Porträt Samuel Becketts im Schaufenster einer Buchhandlung, vor der Beitollah einen seiner Geldscheine verteilt hat.
Das Narrativ der Suche mit der aufs Lineare beschränkten Handlung und dem reduzierten Personal erinnert dabei an große existentialistische Sinnbilder des Lebens, wie sie Franz Kafka mit seinem »Schloss« oder Dino Buzzati mit seiner »Tatarenwüste« entworfen haben. Die spezifisch iranische Note liegt aber vor allem in den moralischen Dilemmata, die in den Dialogen durchexerziert werden. Und hier ist es die Binnenlogik eines rigiden Glaubenssystems, das sich in immer absurder wirkende Konstruktionen versteigt – und am Ende nur das Nichts als letzten Sinn ergibt. Das entbehrt nicht eines spröden Witzes, strahlt aber dann doch zu viel der Trostlosigkeit aus, die diesen Film nicht heranreichen lässt an entsprechende Vorbilder wie Kiarostami.
Mit My stolen planet von Farahnaz Sharifi fand sich ein Komplementärfilm zu My favourite cake in der Reihe Panorama. Der Unterdrückung, die dort mit dem Versuch komödiantischer Leichtigkeit herausgefordert wurde, spürt My stolen planet dokumentarisch nach. Die Regisseurin ist 1979, im Jahr der islamischen Revolution Khomeinis, geboren: mit ihrer Einschulung ein paar Jahre später muss sie erstmals den Hijab, das Kopftuch, tragen. Damit erlebt sie die Trennung des Privaten und Öffentlichen als einschneidende Erfahrung. In den unbeschwerten Jahren der Kindheit davor wurde sie in der nicht religiösen Familie vor dem Kontakt mit islamischer Rigidität bewahrt: sie spricht von dieser Zeit als »my stolen planet«.
Die Filmemacherin rekonstruiert diesen »gestohlenen« Bereich anhand von Bild- und Tondokumenten, mit Fotos aus dem Familienalbum, mit Super-8-Filmen ihrer Eltern, die ausgelassenes Feiern und Tanzen zu Hause unter dem Konterfei Khomeinis an der Wohnzimmerwand zeigen. In dem als persönlich-intimen Tagebuch-Essay angelegten Film sammelt sie obsessiv solche Momenten der Freiheit, die im Gegenzug der moralisch-sittlichen Repression abgerungen werden müssen – und das geht für die Frauen nur im privaten Raum. Farahnaz Sharifi filmt mit Kameras aller Art, und fahndet nach Filmmaterial (Super8, Video, digitale Files) aus anonymen privaten Nachlässen, die dieses in den Innenraum abgedrängte Leben evozieren – eine immer gespenstischer wirkende Gegenwelt zur von der Sittenpolizei der Revolutionsgarden regulierten Welt, in der Frauen nicht singen, nicht tanzen, sich nicht artikulieren dürfen und sich verhüllen müssen: »Sie haben die Waffen, wir haben uns« – so heißt es einmal im Kommentar.
Sharifi macht die Trennung zwischen Öffentlich und Privat emblematisch am Hijab fest, diesem Stück Stoff, an dem sich die Unruhen des Jahres 2022 entzündeten, nachdem die Kurdin Mahsa Amini wegen Verstößen gegen die Kleiderordnung verhaftet wird und dabei stirbt. Da lebt Farahnaz Sharifi nicht mehr im Iran. Für ein mehrwöchiges Stipendium in Deutschland hat sie den Iran verlassen, kehrt dorthin aber nicht mehr zurück, als Dokumentarfilmerinnen, Künstlerinnen aus ihrem Freundeskreis verhaftet und ihre Wohnung durchsucht, ihr Archiv beschlagnahmt wurden. Die Revolte, die wieder erstickt wird, muss sie von außen mitverfolgen. So wird dieser Film zu einem eindringlich persönlichen Dokument: der gestohlene Planet ist durch die einschneidende Erfahrung des Exils nun auch das im Iran zurückgelassene Leben.
Narges Kalhor arbeitet sich in Shahid (im Forum zu sehen) an ihrer im Iran zurückgelassenen Familiengeschichte ab. Die in München lebende Iran-Exilantin setzt in ihrem autofiktionalen Spiel ein Alter Ego von sich selbst in Szene, das einen Teil ihres Familiennamens loswerden möchte: »Shahid« (was soviel wie Märtyrer bedeutet) soll aus den Papieren und aus ihrer Existenz getilgt werden. Die Beantragung bei den Verwaltungsbehörden gestaltet sich jedoch als sehr mühsam. Insbesondere ein psychologisches Gutachten soll die im Namen manifeste traumatische Belastung nachweisen. Narges Kalhor setzt den Marsch durch die Institutionen, den ihre Protagonistin zu bestreiten hat, in eine vor szenischen Einfällen überbordende Reihe von Tableaus um. Wenn die Protagonistin morgens das Haus verlässt, findet sie sich in einem Straßentheater wieder: in einer düster-faszinierenden Choreographie wird sie begleitet von Wiedergängern ihres Urgroßvaters, der gemäß der Familienlegende den Märtyrer im Namen implantiert hat. In einer Art Exorzismus der eigenen Vergangenheit wird diese Szene ritualhaft in jedes Mal neu überraschenden Varianten durchgespielt. Mantraartig wiederholte Verse wehren die Heimsuchungen durch die Mullahs ab und führen leitmotivartig durch den Film, um eine poetisch-existentielle Ortsbestimmung der Exilerfahrung vorzunehmen.
Der Film greift in performativ-ritualhaften Abläufen Situationen bei den Behörden, beim Therapeuten auf und führt sie in spielerische Konstellationen jenseits von Theater und Film über. Auch die Dreharbeiten werden transparent gemacht, das Making-of des Films selbst wird Thema, ohne dass die Mittel des Aus-der-Rolle-Fallens bemüht oder abgegriffen wirkten. Das Ganze ist vielmehr von unermüdlicher Energie und sprühendem Witz vorangetrieben.
Narges Kalhor, deren erster Langfilm In the Name of Scheherazade oder Der erste Biergarten in Teheran die dokumentarische Form auflöste und überschrieb, gelingt mit Shahid ein Kunststück, das das mittlerweile zur Beliebigkeit verkommene Modeetikett der Autofiktion wirklich verdient – weil hier eine ganz eigene schöpferische Form des Umgangs mit der eigenen Biographie zwischen Ernst und Spiel gefunden wird. Dieser Film wurde dieses Jahr mit dem Caligari-Preis und dem CICAE Arthouse Cinema Award ausgezeichnet.