04.07.2024
41. Filmfest München 2024

»Die Deutschen sind pünktlich wie die Eisenbahn«

Empfänger unbekannt
Empfänger unbekannt: Existenzen der Achtzigerjahre
(Foto: Filmfest München | Sohrab Shahid Saless)

Das 41. Filmfest München widmet dem iranisch-deutschen Regisseur Sohrab Shahid Saless eine beeindruckende Hommage

Von Katrin Hillgruber

»Schreib mal wieder«: Dieser harmlose, fröhliche Imperativ prangte früher oft auf den gelben Brief­kästen, als Post und Bahn hier­zu­lande noch funk­tio­nie­rende Staats­be­triebe waren. In diese Anfangs­zeit der bleiernen Ära Kohl führt Sohrab Shahid Saless' Film Empfänger unbekannt aus dem Jahr 1983 zurück, ein Auftrags­werk des ZDF. Er bildete den Auftakt einer von dem Jour­na­listen Behrang Samsami und dem deutsch-irani­schen Filme­ma­cher Daniel Asadi Faezi kura­tierten Hommage des Münchner Filmfests an einen nach wie vor großen Unbe­kannten des Neuen Deutschen Films, die noch bis zum morgigen Freitag, 05.07., läuft. Samsami veröf­fent­lichte 2023 im Exil-Verlag mit »Die langen Ferien des Sohrab Shahid Saless« ein drei­bän­diges Stan­dard­werk zu diesem lang verkannten Künstler, das auch zahl­reiche Inter­views enthält und Saless' Bedeutung nicht nur für den Neuen Deutschen Film späte Gerech­tig­keit wider­fahren lässt.

Der Umstand, dass Saless mit dem Blick von außen und entspre­chend kühn bis plakativ die Konti­nuität von Anti­se­mi­tismus und Rassismus in der Bundes­re­pu­blik thema­ti­sierte, veran­lasste das NS-Doku­men­ta­ti­ons­zen­trum, sich erstmals als Austra­gungsort am Filmfest München zu betei­ligen. Zwar ist die Projek­tion im Veran­stal­tungs­saal subop­timal, doch lässt sich in der frisch restau­rierten Fassung von Empfänger unbekannt nun endlich der Name »Jochen Eschbach« als Absender jenes Briefes entzif­fern, der Marianne Eschbach nicht mehr erreichen wird. Jochen Eschbach ist ein gutbür­ger­li­cher Büro­hengst und Auto­lieb­haber (Audi!) aus der Provinz, den seine Frau mit zwei Kindern sitzen­ge­lassen hat, um mit einem türki­schen Archi­tekten in West-Berlin zu leben – ein Skandalon sonder­glei­chen. Verkör­pert wird der gehörnte Ehemann von keinem Gerin­geren als Manfred Zapatka mit der ihm eigenen mali­ziösen Sanftheit. Zapatka hat mehrfach mit Saless gedreht, besonders eindring­lich gelang ihm die Darstel­lung eines West-Berliner Zuhälters in dem beklem­menden und bedrü­ckenden Film Utopia, der unmit­telbar vor Empfänger unbekannt entstand.

Iris von Reppert-Bismarck spielt in Empfänger unbekannt eine empfind­same, reflek­tierte Frau zwischen zwei Männern: Während sie der zurück­ge­las­sene Ehemann mit vorwurfs­vollen Briefen überhäuft, bedrängt sie ihr türki­scher Freund (Umran Ertok) mit seinen Ängsten vor der Frem­den­feind­lich­keit und Kälte der Deutschen: Die Gast­ar­beiter seien wie Maschinen bestellt worden, sie seien Gäste ohne Gastgeber, der für sie sorgt. Das ist noch einer der harm­lo­seren Vorwürfe an die vom Natio­nal­so­zia­lismus entmensch­lichten und »frem­den­blinden« Deutschen, die sich bis zur Gleich­set­zung der Verfol­gung und Vernich­tung der Juden in der NS-Zeit und dem Frem­den­hass insbe­son­dere Türken gegenüber in der BRD steigern. Manches an diesem Film wirkt hölzern und gestellt, wozu die für Saless typischen langen Kame­ra­ein­stel­lungen beitragen. Das erinnert nicht von ungefähr an Rainer Werner Fass­bin­ders uner­reichtes Liebes- und Rassis­mus­drama Angst essen Seele auf, das bereits 1974 entstand. Ande­rer­seits gelingt Saless eine umwer­fende Situa­ti­ons­komik, etwa wenn »Ausländer raus!«-Parolen direkt neben einer »Heute ist Miracoli-Tag«-Werbung zu sehen ist.

Am 28. Juni wäre Sohrab Shahid Saless, dem unter anderem das Münchner Film­mu­seum mehrere Retro­spek­tiven widmete, achtzig Jahre alt geworden. Er starb jedoch bereits 1998 mit knapp 54 in den USA, wohin er sich nach Aufent­halten in Frank­reich, Deutsch­land und der damaligen Tsche­cho­slo­wakei zurück­ge­zogen hatte. Saless begann seine unge­wöhn­lich multi­na­tio­nale Karriere mit rund zwanzig Doku­men­tar­filmen, die er für das iranische Kultur­mi­nis­te­rium drehte. 1974 verließ er aus poli­ti­schen Gründen das Land und lebte anschließend in West­deutsch­land, Frank­reich und Öster­reich. Im selben Jahr wurde er für Still­leben mehrfach auf der Berlinale ausge­zeichnet, sein Lite­ra­tur­film Grabbes letzter Sommer erhielt den Adolf-Grimme-Preis in Gold, gefolgt von vielen weiteren Preisen.

Doch Sohrab Shahid Saless persön­lich, dessen Ruhe­lo­sig­keit sich immer wieder in Zug- und Straßen­ver­kehrs­szenen mani­fes­tierte, nützten diese Erfolge wenig: »Die Aufent­halts­er­laubnis ersetzt nicht die Arbeits­er­laubnis«, beschieden ihm die deutschen Behörden, obwohl er hier­zu­lande bis 1991 dreizehn Spiel- und Doku­men­tar­filme reali­sierte. Er habe seine Filme jedoch nie selbst produ­zieren dürfen, erklärt der Biograf Beharang Samsami, der im Anschluss an die erste Vorfüh­rung von Empfänger unbekannt mit dem Schweizer Film­wis­sen­schaftler Daniel Wiegand über »Stunde null? Sohrab Shahid Saless und der Blick von außen« disku­tierte.

Saless verfügte über die Gabe, Gefühle wie Wut, Sehnsucht und Schmerz so intensiv mitein­ander zu vermengen, bis am Schluss ein kunst­volles trauriges Skandalon heraus­kommt. Das verband ihn mit dem 2021 verstor­benen Schrift­steller Ludwig Fels, von dem er mehrere Romane wie »Wech­sel­balg« oder »Rosen für Afrika« fürs Fernsehen adap­tierte. Das waren sperrige Stern­stunden, ausge­dehnte, kaum erträg­liche Blicke auf Außen­seiter, wie sie die heutigen Fern­seh­ver­ant­wort­li­chen dem Publikum wohl nicht mehr zumuten wollen.

Und doch erreichte Sohrab Shahid Saless mit seiner Methode der ruhigen, genauen Menschen­er­kun­dung eine erschüt­ternde Wahr­haf­tig­keit. 149 Minuten nimmt sich sein Schwarz­weiß­film Hans – Ein Junge in Deutsch­land Zeit, um die zuneh­mende Diskri­mi­nie­rung und exis­ten­zi­elle Gefähr­dung eines Jugend­li­chen (Martin Prasko) in der NS-Zeit erlebbar zu machen, dessen allein­ste­hende Mutter (Imke Barnstedt) als »Judenhure« denun­ziert wird.

Das Film­mu­seum zeigt als Premiere eine 4k-Restau­rie­rung des 1985 entstan­denen Werks, präsen­tiert von der Film­his­to­ri­kerin Vivien Buchhorn, die das Shahid Saless Archive initiiert hat. Und auch die im Foyer ausge­stellten Szenen­fotos von Saless’ Kostüm­bild­nerin Monika Grube erinnern an einen Künstler, dessen Aktua­lität berührt und frappiert: »Die Deutschen sind pünktlich wie die Eisenbahn und nehmen nichts wahr«, heißt es in Empfänger unbekannt.

Empfänger unbekannt: Wieder­ho­lung am 05.07.24 um 17:00, Film­mu­seum München