41. Filmfest München 2024
Wer bin ich und warum bin ich auf dieser Welt? |
||
Leis Bagdachs „Identitätsdrama“ Im Rosengarten... | ||
(Foto: Neufilm / 41. Filmfest München) |
Von Axel Timo Purr
Hatten die letzten Ausgeben der Sektion neues deutsches Kino auf dem Filmfest München noch relativ eng umrissene Schnittmengen wie 2022 die der Heimat oder 2023 die eher toxische Welt der sozialen Blasen, ist der gegenwärtige Jahrgang gar nicht so einfach auf ein Schlagwort festzulegen. Es ist vielmehr eine neue Diversität, die heraussticht und die vielleicht als Gegengewicht zu der zunehmenden Verdichtung populistischer Politik begriffen werden muss. Denn sucht die populistische Politik ja stets nach einer sogenannten einfachen Lösung im Minions-Stil, so geht zumindest der neue deutsche Film den schwierigeren Weg – er zeigt Tendenzen auf, mal privatistisch, dann wieder politisch oder einfach nur eskapistisch, die zeigen, wohin unser gesellschaftlicher Weg in den kommenden Jahren führen kann.
In einer Gesellschaft, die, wie Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim schon Mitte der 1990er Jahre konstatierten, riskanten Freiheiten ausgesetzt ist, bedeutet Freiheit immer auch, sie sich immer wieder neu erkämpfen zu müssen. Auch wenn dies noch so »privatistisch« und vielleicht »eskapistisch« aussehen mag, ist diese Möglichkeit natürlich immer auch das Spiegelbild eines noch freien politischen Systems, in dem für einen Filmemacher, wie den Helden aus Fabians Stumms Sad Jokes, Traurigkeit erlaubt sein muss, mehr noch sogar gefragt werden darf, ob nicht Traurigkeit und Scheitern die eigentliche Grundlage jeden Humors sind? Stumm gibt nicht nur eine Antwort, sondern über sein bis in die kleinste Nebenrolle großartiges Ensemble variiert er Antworten auf beruflicher und persönlicher Ebene mit Dialogen, die fast immer unter die Haut gehen und überraschen und dann auch wirklich komisch sind. Allein der sich grandios entwickelnde Monolog aus Schillers Jungfrau von Orleans erzählt ein ganzes Leben, so traurig wie schön. Keine Überraschung also, dass Stumms Film sowohl den FIPRESCI- als auch den Förderpreis Neues Deutsches Kino für Regie erhalten hat.
Auch in Aaron Arens’ Sonnenplätze ist eine tiefe Traurigkeit omnipräsent, gibt es Liebe ohne Leiden nicht und ist die Hölle immer zuerst die eigene Familie. Da hilft es natürlich auch nicht, wenn die Familie sich wie in Arens Familiendrama im intellektuellen Milieu einer Schriftsteller- und Verlegerfamilie bewegt und das Reflektieren über das eigene Leben zum beruflichen und privaten Alltag wie die Butter aufs Brot gehört. Arens Introspektive einer dysfunktionalen Familie überzeugt vor allem durch den mutigen Ansatz, keine Person sympathisch zu zeichnen und irgendwie alle schlecht wegkommen zu lassen – so wie in dem Debütroman der hier gezeigten Tochter und Jungschriftstellerin. Dass es auch hier ein Sehnsuchtsort der Deutschen sein muss, so wie in Sabbatical und All We Ever Wanted, um eine deutsche Familie zu dekonstruieren, also eine etwas banale Hinterfragung eines vermeintlichen Paradieses, hätte nicht unbedingt sein müssen, aber für den Drehbuch-Förderpreis Neues Deutsches Kino hat es dennoch gereicht.
Leider ist der eben genannte Sabbatical bezüglich der Preise leer ausgegangen, doch hat er alles, was ein gutes Familiendrama braucht, das mit der Prämisse beginnt, dass es allen gut geht. Was natürlich alles andere als wahr ist, so wie bei jedem, der das von sich und seiner Beziehung behauptet. In Judith Angerbauers dichtem Psychogramm über ein Paar mit Kind während einer Auszeit auf einer griechischen Insel bricht das Kartenhaus der behaupteten Familienidylle jedoch schneller als erwartet zusammen, gibt es wuchtige, wahrhaftige Streitszenen und nicht mal der Sex ist noch schmerzfrei. Angerbauer zieht die Schrauben mit weiteren Protagonisten souverän und psychologisch differenziert an, so dass am Ende ein Totentanz der Dysfunktionalität entsteht, der kaum besser inszeniert sein könnte und immer wieder an den großen Klassiker einer erodierenden Beziehung, an Ingmar Bergmans Szenen einer Ehe erinnert.
Um Familie etwas anderer Art, aber auch um eine gruppendynamische Selbstfindung an einem Sehnsuchtsort geht es in Frédéric Jaegers Abschlussfilm an der UdK Berlin. All We Ever Wanted ließe sich am besten als eine Aneinanderreihung uninteressanter Gespräche uninteressanter Menschen in uninteressanten Landschaften beschreiben. Dabei ist die Grunddisposition durchaus interessant, weil der Sehnsuchtsort Fuerteventura wunderbar gegen den Strich gebürstet wird und Jaeger dafür großartige Bilder findet. Doch das Personal, das hier ein wenig experimentell sein spätpubertäres Coming-of-Age erlebt, bleibt bei all den Leerstellen so schemenhaft wie der Ort und die Gespräche, die hier geführt werden. Ein paar Realo-Anleihen aus Mithu M. Sanyals Identitti oder Yandé Secks Weiße Wolken hätten dem Film gut getan. Stattdessen gibt es neben leeren Blicken und dürftigen Erklärdialogen eine Portion magischen Realismus in Form einer erratischen Griot, die mit mahnendem Blick klärt, was nicht zu klären ist.
Viel zu klären und zu finden hat auch die Heldin in Camilla Guttners Die Akademie. Wie schon vor zwei Jahren in der Reihe Neues Deutsches Kino mit The Ordinaries, ist auch Guttners Film ein wunderschöner, wenn auch manchmal etwas zu durchkomponierter München-Film. Das München von Camilla Guttner ist jedoch kein Gedankenspiel wie in den Ordinaries, sondern die sehr reale, bitter-böse Welt des Münchner Kunstbetriebs. Guttner mag sich nicht zwischen Satire und Drama entscheiden, aber das ist auch egal, denn mit einer großartig leuchtenden Maja Bons und ihrer düsteren Antagonistin Luise Aschenbrenner muss und will dieser Film mehr als nur über ein Jahr über ein Coming-of-Age als Künstlerin an der Akademie in München zu erzählen. Das gelingt auch deshalb so gut, weil sich Guttner über ihr kluges Drehbuch der Schwarz-Weiß-Malerei verweigert und selbst die toxischen, alten, weißen Männer-Professoren eben nicht nur als Gift, sondern auch als Möglichkeit zeichnet. Jeder, der regelmäßiger Gast der Jahresausstellungen an der Akademie ist – in zwei Wochen ist es wieder soweit –, dürfte nicht nur sie, sondern auch das auf diesem Weg vergossene Blut junger Künstler mit anderen Augen sehen.
In Zeiten populistischer Politik, in denen wider besseres Wissen das Thema Migration nur allzu gerne instrumentalisiert wird – jeder lese bitte unbedingt Hein de Haas’ Migration – 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt – ist es natürlich ein wirklicher Segen, wenn sich auch der Film dieses Themas annimmt und Hintergründe liefert, die in der Alltagspolitikbetrachtung eher vom Tisch fallen.
Klandestin von Angelina Maccarone ist ein gutes Beispiel dafür, ein Film, der alles will und wenig dabei verliert. Der die Sehnsucht nach Europa, die Flüchtlingspolitik und Flüchtlingsmisere in die richtigen, doppelbödigen und doppelmoralischen Bilder gießt und sich dabei immer wieder genug Zeit lässt, um seine ebenso politisch angelegten Charaktere nach und nach zu angemessener Komplexität zu entwickeln. Wie ein Schachspiel, das aus seiner schwarz-weißen Polarität subtile Spannung und Grauzonenanalyse entwickeln kann. Überragend spielt Barbara Sukowa, die ein Herz aus Stein gibt und Europapolitik mit Privatpolitik furios amalgamiert und in ihrer Ambivalenz ähnlich angelegt ist wie die von Anne Ratte-Polle verkörperte Marion Bach in İlker Çataks Es gilt das gesprochene Wort.
So wie in Maccarones Klandestin, so korrumpiert die Macht auch in Irene von Albertis Die Geschützten Männer. Diese Binsenweisheit dekliniert Irene von Alberti für eine queere Partei durch, die durch eine bizarre Epidemie, die nur Alpha-Männchen trifft (also alle Politiker), an die Macht kommt. Das erinnert in den Auswüchsen an Thomas Cailleys exzellente Dystopie Animalia. Doch Alberti will die Komödie und zeigt einmal mehr, wie schwer die Königsdisziplin Komödie ist und wie wenig funktionieren kann, auch und vielleicht gerade, wenn die Absichten besonders gut ist. Das mag auch daran liegen, dass die Realität im Grunde die Fiktion und die Gedankenspiele dieses Films schon längst von unserer woken Cancel-Realität und den Irrungen und Wirrungen der Grünen eingeholt worden sind. Der schwächste der politischen Selbstfindungsfilme in der diesjährigen Ausgabe Neues Deutsches Kino.
Auch Jan Henrik Stahlbergs Muxmäuschenstill x scheitert gerade an seinem politischen Anspruch, denn wie bei Alberti überholt die Realität die Satire auch hier, funktioniert die Filmsatire nicht mehr. Vor 20 Jahren, als Stahlberg den großartigen ersten Muxmäuschenstill gemacht hat, ging das noch. Jetzt gibt es kaum noch überraschende Momente, weder wenn die Deutsche Bahn abgewatscht wird, noch die Melange aus AFD, BSW und Selbstjustizformaten lustvoll inszeniert wird. Zwar gibt es kluge Andeutungen an Nicht-Satiren wie Je Suis Karl und The East, doch Stahlbergs Mockumentary dreht sich im Kreis und zündet nur ganz selten die anarchische Wucht, mit der Stahlberg etwa in seinem letzten Film Fikkefuchs noch so gnadenlos wie brillant jonglierte.
Doch zum Glück geht politisches Kino und das Thema Migration auch andere Wege, abseits der Satire, so wie Im Rosengarten von Leis Bagdach mit seinen Vexierbildern migrantischer Realität. Bagdachs Roadmovie ist einer der überraschendsten Filme dieses Jahrgangs Neues Deutsches Kino. Nicht nur, weil er die richtigen Fragen bezüglich migrantischer Realität(en!) stellt, sondern auch, weil er dafür die richtigen und immer wieder hervorragend fotografierten Bilder findet. Wie in Max Frisch’s »Andorra« geht es auch bei Bagdach um die »Bildnisproblematik«: wie kann sich der einzelne seine eigene Identität bewahren gegenüber dem Bild, das sich die Umwelt von ihm macht? Vor allem auch gegenüber dem Bild, das er von sich selbst macht! Dieser so hochpolitisch wie tiefprivate Ansatz wird in eine hyperreale, winterliche Reise durch Deutschland eingebettet, die durch überraschende Begegnungen und exzellente Dialoge eine subtile Spannung erzeugt. Dass Bagdachs Held viel mehr ist und sogar der Prototyp eines Coming-of-Age eines Neuen Deutschland – so schön, dass es schmerzt – sein könnte, wird in der letzten Szene deutlich, in der die Musik dem Wort die Show stiehlt. Oder anders: Worüber man nicht reden kann, darüber muss man singen.
Auch Xoftex von Noaz Deshe wird sehr konkret, wenn es um den Traum der neuen Heimat Europa geht: Mit einem eindringlichen Elektro-Score erzählt Noaz Deshe von dem surrealen, dann wieder hyperrealen Alltag in einem griechischen Flüchtlingscamp. Ein wenig stört der magische Realismus, den Deshe immer wieder benutzt, um seine Geschichte mit einem allzu vagen moralischen Impetus zu verankern. Doch der Film ist gerade dann am stärksten, wenn er sich wie die Fortsetzung von Agnieszka Hollands Green Border sieht, wenn er von Traumatisierung und Kleingruppenpolitisierung und von völlig grotesken Sehnsüchten nach einem Europa spricht, das es so natürlich gar nicht gibt, das dann auch in dem finalen Teil des Films einem aseptischen Tagtraum gleicht.
Dass es nicht immer Migration sein muss, auch wenn es um ein klassisches Herkunftsland für Migration geht, zeigt der exzellente O Chale von Jan Hendrik Lübbers. Überhaupt ist hier einiges anders und manch einer dürfte sich die Frage stellen: Ja, darf man das noch? Als deutscher Regisseur nach Ghana gehen und einen Film über das Coming-of-Age von ein paar basketballbegeisterten Jugendlichen in Ghanas Hauptstadt Accra machen, ohne dass irgendwer den Vorwurf kultureller Aneignung äußert? Man sollte, man muss dürfen, denn Jan Hendrik Lübbers Hybrid aus Spiel- Dokumentar- und modernem ethnografischem Film ist eine großartige Liebeserklärung an Accra und seine Bewohner. Lübbers dringt mit einer präzise suchenden Kamera und einem subtilen und gottseidank überhaupt nicht folkloristischen Score bis in den intimsten Alltag seiner Helden, zeigt die Hinterhöfe und Wäscheleinen genauso wie das Essen und Alltagshandlungen wie Busfahrten mit irren Predigern. Und dann gibt es genaue, wichtige Dialoge, wie der zwischen Mutter und Sohn, der so viel mehr von der ghanaischen Gesellschaft erzählt als der Reuters-Journalismus und man merkt, dass Lübbers nach dem Abitur elf Monate lang als freiwilliger Basketballtrainer in Accra gearbeitet hat. Lübbers’ Film ist auch ein hervorragendes Beispiel dafür, dass man anders als etwa Matteo Garrone in Io Capitano auch ohne magischen Realismus und einen Schwerpunkt Migration (obwohl das Thema durchaus zur Sprache kommt) auskommen kann, wenn man von Westafrika erzählt.
Statt nach Westafrika führt der neue deutsche Filme aber auch dieses Jahr ins Herz unserer deutschen Heimat und stellt die Frage, ob das, was einst war, doch noch gültig sein könnte. Justine Bauer findet dafür in Milch ins Feuer gleich noch ein paar mehr Fragen, wie etwas jene, warum Schnecken nicht 5 Meter hoch werden? Darum geht es auch, aber vor allem um bäuerliches Leben im Hier und Jetzt. Wer sich vor zwei Jahren nicht so recht mit der Darstellung bäuerlichen Lebens in Sabrina Sarabis Niemand ist bei den Kälbern anfreunden konnte, sollte sich Justine Bauers Film ansehen. Mit einer starken, eigenwilligen Bildsprache erzählt sie von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die dem Leben und Sterben des bäuerlichen Berufs, ja sogar einer Schwangerschaft, mit überraschender und beeindruckender Nonchalance begegnen und dementsprechend auch Verlockungen und Berufsverbesserungsalternativen wie bei Aldi an der Kasse zu arbeiten, eine atemberaubende Resilienz entgegenbringen. Und wenn es auch nur in diesem einen erzählten Sommer so ist, in dem die stillen Heldin dieses stillen Films aufs Joghurtglas gekommen sind. Allein die Eingangssequenz mit Schaukel und der immer wiederkehrenden Stimme aus dem Off ist es wert, diesen Film anzusehen. Und das nicht nur wegen des umwerfenden deutschen Dialekts des Alemannisch-Hohenlohischen, der hier gesprochen wird.
Auch Another German Tank Story von Jannis Alexander Kiefer erzählt von einer verlorenen Heimat und überrascht mit seinem Film an diesem Ort. Denn gibt es im Literaturbetrieb gerade auf allen Ebenen Aufarbeitungen und Preise für Post-DDR-Themen, scheint es zumindest in dieser Ausgabe Neues Deutsches Kino gerade ad acta gelegt zu sein. Jannis Alexander Kiefers Film ist wie schon angedeutet die große Ausnahme. Kiefer variiert das Thema sehr originell und immer wieder überraschend. Sein Film im Film integriert intelligent auch die Zeit, ohne die es weder BRD noch DDR gegeben hätte, und erzählt mit exzellent fotografierten Bildern ein Kleinstadtleben, das in seiner Absurdität und fast schon zärtlich anmutenden Hoffnungslosigkeit an das Kino von Aki Kaurismäkis erinnert. Hoffnung und Verzweiflung sind hier offensichtlich die Seiten der gleichen Medaille, doch viel schöner als in der Szene, als sich einer der Protagonisten über seine Beatboxing-Fähigkeiten für Momente aus der Umklammerung seiner Sozialisierung befreien kann, lässt sich davon kaum erzählen.
Passend zu Kiefers Film nimmt sich Doris Metz’ einfühlsame, dokumentarische Suche nach dem Leben Petra Kellys aus. Denn obwohl Metz in Petra Kelly – Act Now! vom privaten Leben dieses charismatischen Gründungsmitglieds der Grünen erzählt, ist ihr Porträt auch ein Porträt der alten BRD und den Ursprungsideen einer Partei, die sich immer wieder selbst erfinden musste, um zu überleben, ganz so wie die von Barbara Sukowa dargestellte Politikerin in Klandestin oder all die anderen Charaktere, die die neuen deutschen Filme dieses Jahrgangs bevölkerten, denn nur wer seine Identität neu erfindet oder seine alte Identität »reloaded«, hat eine Chance die Zukunft zu erleben und zu überleben.