08.08.2024

Die Schweiz und die Welt

Die letzte Chance
Die letzte Chance entstand 1945 und erzählte von der Flucht jüdischer Menschen
(Foto: SRF)

Die 72. Filmkunstwochen zeigen drei Werke der legendären Schweizer Produktionsfirma. Zwielichtige Aufklärungsfilme sind der rote Faden ihrer Erfolgsstory

Von Ulrich Mannes

Genau besehen brachte die Weimarer Republik nur einen Spielfilm hervor, den man als kommu­nis­tisch bezeichnen könnte: Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt? von Slatan Dudow. Diese 1932 zum Höhepunkt der Welt­wirt­schafts­krise unter Mitwir­kung von Bertolt Brecht entstan­dene Mischung aus Propa­gan­da­werk, Lehrstück und Sozi­al­studie gilt als Meilen­stein des prole­ta­risch-agita­to­ri­schen Kinos. Doch das Produk­ti­ons­kol­lektiv musste damals nicht nur einen zähen Kampf mit der Zensur ausfechten, sondern am Ende auch noch die Pleite ihrer Produk­ti­ons­firma Prome­theus-Film in Kauf nehmen. Ein Retter in der Not fand sich in der Schweiz: Der Produzent Lazar Wechsler, Inhaber der Praesens-Film, schoss in letzter Minute Geld zu und ermög­lichte damit die Fertig­stel­lung und den inter­na­tio­nalen Vertrieb des Films. Wie es zu dieser Rettungs­ak­tion kam und wie die Entste­hungs- und Distri­bu­ti­ons­ge­schichte von Kuhle Wampe zu einer kuriosen Fußnote der deutsch-schwei­ze­ri­schen Film­be­zie­hungen wurde, lässt sich in »Heidi, Helle­barden & Hollywood – Die Praesens-Film-Story« von Benedikt Eppen­berger nachlesen.

Kurz­weilig und kennt­nis­reich zeichnet Eppen­berger in seinem zum 100-jährigen Jubiläum der Praesens-Film bei NZZ-Libro erschie­nenen Buch die windungs­reiche Geschichte der wohl wich­tigsten Schweizer Filmfirma nach, die vor allem in der Mitte des letzten Jahr­hun­derts die Außen­wahr­neh­mung der Schweizer Kine­ma­to­gra­phie entschei­dend prägte: mit Lite­ra­tur­ad­ap­tionen, Dialekt- und Heimat­filmen, Gesell­schafts­dramen und nicht zuletzt mit einer Reihe von Aufklärungs- und Sitten­filmen.

Letztere sind eine Konstante der Praesens-Geschichte und bilden den Schwer­punkt einer Spezial-Reihe in der Theatiner-Filmkunst, die das 100-jährige Jubiläum bei den 72. Münchner Film­kunst­wo­chen mit Benedikt Eppen­berger als Gast begeht.

Höhepunkt des Specials ist die Film­lec­ture »Die Praesens-Aufklärungs­rolle«. Mit vielen Beispielen aus den zahl­rei­chen zwie­lich­tigen Aufklärungs­filmen, die die Praesens in einem halben Jahr­hun­dert produ­ziert hat, zieht Eppen­berger in seiner Lecture einen roten Faden durch die Firmen­ge­schichte – darunter gibt es auch Ausschnitte des ersten Großer­folgs der Praesens: den 1929 von Sergej Eisen­stein mitver­ant­wor­teten Abtrei­bungs­film Frauennot – Frau­en­glück.

Neben Kuhle Wampe, der als Schweizer Produk­tion nunmehr in einem ganz anderen Licht erscheint, kann die Reihe mit einer bemer­kens­werten Entde­ckung aufwarten: Die Schatten werden länger (1961), einem abge­kochten Drama um eine verwahr­loste Halb­wüch­sige, die in einem Mädchen­pen­sionat wieder auf die Spur gebracht werden soll, copro­du­ziert von Artur Brauners CCC und mit einem beacht­li­chen bundes­re­pu­bli­ka­ni­schen Cast (Barbara Rütting, Loni von Friedl, Luise Ullrich, Hansjörg Felmy). Insze­niert hat der europäi­sche Regie-Vagabunde Ladislao Vajda, der zuvor den Praesens-Super­erfolg Es geschah am hellichten Tag gedreht hat.

Aber es gibt noch ein anderes großes Zeitthema, das der Schweizer Film und besonders die Praesens nicht igno­rieren wollte: Die eidgenös­si­sche Sonder­stel­lung im Zweiten Weltkrieg, in dem die Schweiz ihre Neutra­lität offenbar nur um den Preis einer restrik­tiven Flücht­lings­po­litik bewahren konnte. Zum Auftakt der Filmreihe im Münchner Theatiner (mit Empfang des Schwei­ze­ri­schen Konsulats) läuft einer der größten Prestige-Erfolge der Praesens, das heute immer noch eindring­liche Flücht­lings­drama Die letzte Chance von Leopold Lindtberg. Der kurz vor Kriegs­ende fertig­ge­stellte Film handelt von einer Gruppe alli­ierter Offiziere, die in Ober­ita­lien der Kriegs­ge­fan­gen­schaft entkommen ist und sich mit Flücht­lingen verschie­dener Natio­na­lität auf den Weg über die Alpen in die neutrale Schweiz macht. Regisseur Leopold Lindtberg, selbst Emigrant aus Öster­reich, der hier größ­ten­teils Amateure als Darsteller gefunden hat, erzählt seine Geschichte nüchtern, realis­tisch und streng, und er färbt die Probleme der Schwei­ze­ri­schen Flücht­lings­po­litik nicht schön.

100 Jahre Prae­sens­film
72. Film­kunst­wo­chen München

9.-13.08.24, Theatiner Filmkunst
Benedikt Eppen­berger am 9.8. und 10.8. zu Gast.

Ergänzen kann man die Filmreihe noch mit einem Long­seller der Praesens: Es geschah am hellichten Tag läuft noch bis 20.08.2024 in der 3sat-Mediathek.