05.02.2009
59. Berlinale 2009

»Etwas sehen, was man noch nie gesehen hat...«

Szenenbild aus »The International«
Clive Owen im Eröffnungsfilm The International

Berlinale-Leiter Dieter Kosslick über das Festival, sein Programm und das Publikum

Soeben wurde sein Vertrag bis 2013 verlän­gert: Dieter Kosslick, seit 2001 Leiter der Berliner Film­fest­spiele. Borsalino-Hut und Schal, Lieb­lings­farbe Rot – »wie beim Wein und in der Politik« – sind sein Marken­zei­chen. Seit seinem Amts­an­tritt hat Kosslick das Festival stark verbrei­tert: Der „Talent Campus“ für Studenten wurde gegründet, mit dem „World Cinema Fund“ tritt das Festival als Förderer und indi­rekter Produzent von Film­pro­jekten auf – die dann später oft im Berli­nal­e­pro­gramm gezeigt werden. Daneben wurde eine neue Sektion „Kuli­na­ri­sches Kino“ ins Leben gerufen, die kaum ein Cineast ernst nimmt, die aber als popu­lis­ti­sches Boulevard-Element taugt. An diesem Donnerstag startet nun Kosslicks achte Berlinale – für ihn selbst ein Marathon mit täglich 40 Terminen und nur vier Stunden Schlaf – ein Gespräch über das Festival und sein Programm.
Mit Dieter Kosslik sprach Rüdiger Suchsland.

artechock:Alle reden derzeit von der Finanz­krise. Ich weiß: Das fragen jetzt alle, aber die Frage liegt ja auch nahe: Merkt die Berlinale die Krise? Und wie?

Dieter Kosslik : Nein, wir merken sie nicht und wir merken sie doch. Das ist eine merk­wür­dige Sache. Wenn ich mir die Berlinale als Ganzes angucke, dann kann ich nicht sagen, dass wir die Krise voll abbe­kommen. Das ist einfach nicht so. Im Markt gibt es unwe­sent­lich weniger Filme, dafür aber enorm viele Scree­nings – über 1000. Auch gibt es zwei, drei Firmen-Stände weniger als im Vorjahr. Es ist schwierig, Parameter zu finden, die belegen, dass sich etwas grund­sätz­lich verändert. Warten wir mal das Festival ab.
Aber wir merken Verän­de­rungen. Diese Vorgänge haben jedoch weniger mit der Krise, als mit Umstruk­tu­rie­rungen in der Produk­ti­ons­land­schaft, mit Konzen­tra­ti­ons­vor­gängen, vor allem bei den Inde­pen­dent-Labels, zu tun haben.
Ansonsten merken es andere. Es trifft die Verlags­branche bei der Anzei­gen­schal­tung. Einbußen und Auftrags­stor­nie­rungen sind ganz offen­sicht­lich. Da kommt zum Vorschein – was manche sonst nicht mitkriegen –, was für ein riesiger Wirt­schafts­faktor die Berlinale ist. Wie heftig das zuschlägt, wenn die Gelder plötzlich nicht mehr fließen.
Aber tutto grosso ist die Krise vor allem im Programm zu sehen. Und zwar nicht in dem Sinn, dass das Film­pro­gramm schlechter wäre. In vielen Filmen wird die Krise aber inhalt­lich thema­ti­siert – nur hat das eher etwas mit dem Gespür der Film­künstler zu tun, als mit der Berlinale.
Nehmen Sie Tom Tykwers Eröff­nungs­film The Inter­na­tional – der ist ja lange vorher gedreht worden. Aber dessen Inhalt hat inzwi­schen eine beängs­ti­gende Nähe zur Realität. Das wird jetzt jeder verstehen und die meisten werden es auch glauben.

artechock: Die Berlinale ist ja immer schon ein Festival gewesen, das ziemlich seis­mo­gra­phisch und unmit­telbar in ihren Filmen auf das reagiert, was gerade los ist, politisch wie ökono­misch. Welche Filme im kommenden Programm tun das besonders?

Kosslick: Jetzt zu sagen: »Die Berlinale zeigt die Finanz­krise« wäre verkürzt. Wir zeigen seit Jahren Filme, die die Globa­li­sie­rung wider­spie­geln und alles was damit zusam­men­hängt. Wir haben auch 2009 eine ganze Palette dieser Filme im Programm: Geschichten von Opfern gibt es im Forum oder in den Kinder­filmen von Gene­ra­tion Kplus. Die Täter findet man in den Filmen des Wett­be­werbs. Verkürzt gesagt.
Erweitert gesehen gibt es bei der Berlinale sehr viele Filme, die davon erzählen. Wie reagieren eigent­lich die normalen Menschen auf diese gesell­schaft­lich völlig unkon­trol­lier­baren, indus­tri­ellen und mili­täri­schen Systeme? Und wie reagieren eigent­lich die Menschen auf den ganz großen Kultur­kampf unserer Zeit: Wenn man die Welt 2000 Jahre zurück­dreht ist am Euphrat und Tigris im Irak die Zivi­li­sa­tion erfunden worden. Wir maßen uns heute an, die Menschen dort alle zu kultur­losen Barbaren und zu Gottes­krie­gern zu stempeln. Das wird anders werden.
Das sieht man bei der Berlinale zum Beispiel in einem Film wie Mammoth von Lukas Moodysson, der die Globa­li­sie­rung thema­ti­siert und zugleich den Rückzug der Menschen auf eine über­schau­bare kleine Einheit, die Familie, zeigt.
Oder man sieht es in The Messenger von Oren Moverman über einen Irak-Heim­kehrer, ebenso in Little Soldier von Anette K. Olsen aus Dänemark. Man sieht nicht mehr den Krieg, sondern wir sehen eine Frau, die aus dem Krieg heimkommt, und Taxi fährt. In ihrem Gesicht und ihrem Verhalten spiegeln sich ihre trau­ma­ti­schen Erfah­rungen.
Es gibt mehrere Filme im Wett­be­werb, aber auch im Forum und Panorama mit einer ähnlichen Perspek­tive, die ich sehr inter­es­sant finde: Norma­ler­weise ist das Thema »Rückzug auf die Familie« eher ein Nega­tiv­label. Aber jetzt ist diese Familie, die kleine über­schau­bare Einheit, offen­sicht­lich das Modell, diesen entfes­selten Irrsinn irgendwie noch zu begreifen und da durch­zu­kommen.
Dass das möglich ist in einem Programm, das bereits drei Monate nach Ausbruch der Krise entsteht, hat damit zu tun, dass sich die Künstler schon seit längerem mit diesem Thema beschäf­tigen.

artechock: Wenn Sie auf die Berlinale als Ganzes schauen: Welche Bereiche der Berlinale funk­tio­nieren besonders gut, wo könnte es nicht besser sein? Und welche könnten noch besser laufen? Wo ist noch Arbeits­be­darf?

Kosslick: Wir haben ja ein Luxus­pro­blem: Wir haben das Problem, dass wir nicht genügend Karten fürs Publikum hatten, da es mehr Nachfrage als Angebot an Publi­kums­karten gibt. Ich gehe von den Zahlen der letzten Berlinale aus. Aufgrund des Anwach­sens der Akkre­di­tie­rungen für Fach­be­su­cher – also Einkäufer, Rechtehändler Produ­zenten, Filme­ma­cher, TV-Vertreter, Jour­na­listen usw. – würden weniger Plätze fürs Publikum bleiben. Und je mehr Akkre­di­tie­rungen, um so weniger Plätze bleiben fürs Publikum übrig. Das nur zum Hinter­grund. Wir sind aber auch ein Publi­kums­fes­tival und brauchen also zusätz­liche Säle. Daher haben wir in diesem Jahr mit dem Fried­rich­stadt­pa­last einen neuen Auffüh­rungsort hinzu­ge­wonnen – damit begegnen wir dem Platz­mangel. Ein schlechter Film führt zu Kritik. Aber keine Karten zu bekommen, oder immer die falschen, führt zu Unmut.
Ansonsten hatten wir während der letzten Jahre keine großen Probleme. Ich rede jetzt nicht über die Einschät­zung der Filme, sondern rein als Festival. Es lief gut. Die Stars waren in Berlin, es gab eine gute Stimmung. Ansonsten können wir gar nicht mehr so viel machen, außer zu versuchen, die Glüh­birnen durch Ener­gie­spar­lampen zu ersetzen und die Berlinale etwas grüner zu machen, und nicht so viel Papier zu verbrau­chen. Und aufs Essen zu achten, damit nicht der letzte Schrott gegessen wird. Wir wollen zeigen, dass wir uns auch nach­haltig verhalten. Es ist wichtig, dass wir als Festival selber ein Statement abgeben zur Welt, in der wir leben. Also auch darauf achten, dass es am Ende der Berlinale nicht überall Papier­müll­berge gibt.
An der Qualität kann man also immer etwas verbes­sern, aber an der grund­sätz­li­chen Orga­ni­sa­tion können wir nichts verbes­sern. Wir sind auch nicht viel größer geworden, auch wenn es so scheint. Aber das wirkt nur so, weil es mehr Vorstel­lungen gibt. Ich sehe in Quantität keine Tugend an sich.

artechock: Manchmal hat man den Eindruck, dass es zuletzt eine Vergröße­rung in die Breite gibt, dass die Filme in Berlin selbst vergleichs­weise immer unwich­tiger wurden: Frank­furter Buchmesse auf der Berlinale, Kochen und Kino. Geht da nicht der Fokus verloren?

Kosslick: Das kann man so sagen, und es auch kriti­sieren. Trotzdem: Der Fokus geht meiner Meinung nach deshalb keines­falls verloren, weil die Konzen­tra­tion nach wie vor auf dem Wett­be­werb liegt. Das ist so. Der Wett­be­werb ist das Zentrum, und daran werden wir zunächst gemessen.
Die Berlinale ist bei ihrer Größe – und das war schon immer so – ein Spar­ten­pro­gramm für Ziel­gruppen. Wir machen ein Programm für sehr verschie­dene Zuschau­er­ziel­gruppen. Es gibt auch Leute, die leiden­schaft­lich gern nur die Retro­spek­tive angucken, oder nur das Forum. Oder das Kuli­na­ri­sche Kino.
Hier haben wir ganz neue Zuschau­er­schichten erschlossen. Außerdem haben wir jetzt auch das »Forum Expanded«. Das ist ein Versuch, in den Grenz­be­rei­chen des Kinos zur Kunst ein völlig neues Programm zu machen.
Das zeichnet aber die Berlinale – jeden­falls seit ich da bin – sowieso aus: Dass ich den Film als Kunstwerk, als Team­ar­beit zerlege in seine Einzel­teile, und versuche, diese Einzel­teile nun aufzu­be­reiten für ein spezi­fi­sches Publikum. Das hängt damit zusammen, dass wir lebendig bleiben wollen. Darum fördern wir im Talent Campus den Nachwuchs, binden ihn ans Festival, und verjüngen es dadurch auto­ma­tisch.
Und darum bieten wir Spar­ten­pro­gramme, die auch unge­wöhn­lich sind. Zum Kuli­na­ri­sche Kino: Das ist nicht der Treff­punkt der Fein­schme­cker dieser Erde. Ich glaube, dass das Kuli­na­ri­sche Kino eine sehr enga­gierte Reihe ist.

artechock: So schön es bestimmt ist, Berlinale-Chef zu sein, so sehr sind Sie auf dem Posten bestimmt auch ein Getrie­bener. Sie müssen jeden Tag ein neues Event produ­zieren

Kosslick: Und zwar in jeder Sektion…

artechock: Ein Festival lebt aber ja auch von seinen ruhigen Momenten, von der Möglich­keit persön­li­cher Begeg­nungen in relaxter Atmo­sphäre, jenseits vom Lärm des Boule­vards. Das gilt für die Filme­ma­cher und Gäste genau so, wie für das Publikum. Wie schafft man solche Ruhepole?

Kosslick: Ruhepole müssen die Leute sich schon selbst schaffen. Weil wir es als Program­mie­rungs­ma­schine damit sehr, sehr schwer haben. Nicht wenn wir das einzelne Programm kura­tieren. Aber weil wir immer die zehn verschie­denen Programme neben­ein­ander legen müssen. Da wird das plötzlich unmöglich. Da gibt es so viele Abhän­gig­keiten, so viele Bedin­gungen, so viele Unwäg­bar­keiten. Wir können die Berlinale jetzt nicht so perfekt wie eine Matrix mit zehn Programmen mal zehn Tage orga­ni­sieren, dass sich sagen ließe: Hier atmen wir mal aus und dort durch die Nase wieder ein. Dafür ist das Ding einfach zu groß und zu komplex.
Aber ich glaube schon, dass es Momente der Kontem­pla­tion gibt. Man trifft eine persön­liche Auswahl. Das ist wie früher an der Univer­sität: »Ich geh jetzt mal in Geologie«. Da kann man dann konzen­triert verschnaufen, ein bisschen auffüllen. Denn nur da 'rum zu rennen, ist nicht notwendig – außer man ist profes­sio­nell dazu verpflichtet.
Ich denke, man sollte unser Programm als Angebot nehmen. Und die einzige echte Arbeit für den Zuschauer, und seine wich­tigste Arbeit ist die, sich vor Beginn einmal zwei Stunden mit dem Programm­heft hinzu­setzen, die Kommen­tare zu lesen, und sich sein persön­li­ches Programm zusammen zu stellen.
Niemand wird am Dienstag nach der Berlinale im Fami­li­en­kreis gefragt, ob alle 18 Beiträge im Wett­be­werb wirklich auf der Höhe der Zeit gewesen sind. Diese Diskus­sion wird es nicht geben. Aber es wird viel­leicht disku­tiert werden, ob diese zehn Tage, die jemand erlebt hat, inspi­rie­rend waren, ob man etwas gehört hat, was man noch nicht gehört hat, etwas gesehen hat, was man noch nie gesehen hat,
Für uns wäre es wichtig, dass die Leute das Gefühl haben, dass sie mit ihren Gedanken, die sie sich zur Welt machen, nicht allein sind. Sondern dass es in 130 Ländern Menschen gibt, die ganz ähnlich denken. Und dass es doch einen Zusam­men­hang des Guten in der Welt gibt – so wie es leider auch einen Zusam­men­hang des Bösen gibt.
Das zu erkennen finde ich eine aufre­gende Sache.

artechock: Wo steht die Berlinale im Vergleich zu anderen Festivals wie Cannes?

Kosslick: Wir haben eine gute Beziehung, auch wenn mal der eine oder andere Film geklaut wird. Das ist nunmal so. Das zeigt, dass Cannes uns ernst nimmt, sogar so ernst, dass es manchmal um dieselben Filme geht. Wir haben ein freund­schaft­li­ches Verhältnis – auch persön­lich zwischen mir und dem Cannes-Leiter Thierry Fremaux. Und das bleibt auch so.