59. Berlinale 2009
»Etwas sehen, was man noch nie gesehen hat...« |
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Clive Owen im Eröffnungsfilm The International |
Soeben wurde sein Vertrag bis 2013 verlängert: Dieter Kosslick, seit 2001 Leiter der Berliner Filmfestspiele. Borsalino-Hut und Schal, Lieblingsfarbe Rot – »wie beim Wein und in der Politik« – sind sein Markenzeichen. Seit seinem Amtsantritt hat Kosslick das Festival stark verbreitert: Der „Talent Campus“ für Studenten wurde gegründet, mit dem „World Cinema Fund“ tritt das Festival als Förderer und indirekter Produzent von Filmprojekten auf
– die dann später oft im Berlinaleprogramm gezeigt werden. Daneben wurde eine neue Sektion „Kulinarisches Kino“ ins Leben gerufen, die kaum ein Cineast ernst nimmt, die aber als populistisches Boulevard-Element taugt. An diesem Donnerstag startet nun Kosslicks achte Berlinale – für ihn selbst ein Marathon mit täglich 40 Terminen und nur vier Stunden Schlaf – ein Gespräch über das Festival und sein Programm.
Mit Dieter Kosslik sprach Rüdiger Suchsland.
artechock:Alle reden derzeit von der Finanzkrise. Ich weiß: Das fragen jetzt alle, aber die Frage liegt ja auch nahe: Merkt die Berlinale die Krise? Und wie?
Dieter Kosslik : Nein, wir merken sie nicht und wir merken sie doch. Das ist eine merkwürdige Sache. Wenn ich mir die Berlinale als Ganzes angucke, dann kann ich nicht sagen, dass wir die Krise voll abbekommen. Das ist einfach nicht so. Im Markt gibt es unwesentlich weniger Filme, dafür aber enorm viele Screenings – über 1000. Auch gibt es zwei, drei Firmen-Stände weniger als im Vorjahr. Es ist schwierig, Parameter zu finden, die
belegen, dass sich etwas grundsätzlich verändert. Warten wir mal das Festival ab.
Aber wir merken Veränderungen. Diese Vorgänge haben jedoch weniger mit der Krise, als mit Umstrukturierungen in der Produktionslandschaft, mit Konzentrationsvorgängen, vor allem bei den Independent-Labels, zu tun haben.
Ansonsten merken es andere. Es trifft die Verlagsbranche bei der Anzeigenschaltung. Einbußen und Auftragsstornierungen sind ganz offensichtlich. Da kommt zum
Vorschein – was manche sonst nicht mitkriegen –, was für ein riesiger Wirtschaftsfaktor die Berlinale ist. Wie heftig das zuschlägt, wenn die Gelder plötzlich nicht mehr fließen.
Aber tutto grosso ist die Krise vor allem im Programm zu sehen. Und zwar nicht in dem Sinn, dass das Filmprogramm schlechter wäre. In vielen Filmen wird die Krise aber inhaltlich thematisiert – nur hat das eher etwas mit dem Gespür der Filmkünstler zu tun, als mit der Berlinale.
Nehmen
Sie Tom Tykwers Eröffnungsfilm The International – der ist ja lange vorher gedreht worden. Aber dessen Inhalt hat inzwischen eine beängstigende Nähe zur Realität. Das wird jetzt jeder verstehen und die meisten werden es auch glauben.
artechock: Die Berlinale ist ja immer schon ein Festival gewesen, das ziemlich seismographisch und unmittelbar in ihren Filmen auf das reagiert, was gerade los ist, politisch wie ökonomisch. Welche Filme im kommenden Programm tun das besonders?
Kosslick: Jetzt zu sagen: »Die Berlinale zeigt die Finanzkrise« wäre verkürzt. Wir zeigen seit Jahren Filme, die die Globalisierung widerspiegeln und alles was damit zusammenhängt. Wir haben auch 2009 eine ganze Palette dieser Filme im Programm: Geschichten von Opfern gibt es im Forum oder in den Kinderfilmen von Generation Kplus. Die Täter findet man in den Filmen des Wettbewerbs. Verkürzt gesagt.
Erweitert gesehen gibt es bei
der Berlinale sehr viele Filme, die davon erzählen. Wie reagieren eigentlich die normalen Menschen auf diese gesellschaftlich völlig unkontrollierbaren, industriellen und militärischen Systeme? Und wie reagieren eigentlich die Menschen auf den ganz großen Kulturkampf unserer Zeit: Wenn man die Welt 2000 Jahre zurückdreht ist am Euphrat und Tigris im Irak die Zivilisation erfunden worden. Wir maßen uns heute an, die Menschen dort alle zu kulturlosen Barbaren und zu
Gotteskriegern zu stempeln. Das wird anders werden.
Das sieht man bei der Berlinale zum Beispiel in einem Film wie Mammoth von Lukas Moodysson, der die Globalisierung thematisiert und zugleich den Rückzug der Menschen auf eine überschaubare kleine Einheit, die Familie, zeigt.
Oder man sieht es in The Messenger von Oren Moverman über einen Irak-Heimkehrer, ebenso in Little Soldier von Anette K. Olsen aus Dänemark. Man sieht nicht mehr den Krieg, sondern wir sehen eine Frau, die aus dem Krieg heimkommt, und Taxi fährt. In ihrem Gesicht und ihrem Verhalten spiegeln sich ihre traumatischen Erfahrungen.
Es gibt mehrere Filme im Wettbewerb, aber auch im Forum und Panorama mit einer ähnlichen Perspektive, die ich sehr interessant finde:
Normalerweise ist das Thema »Rückzug auf die Familie« eher ein Negativlabel. Aber jetzt ist diese Familie, die kleine überschaubare Einheit, offensichtlich das Modell, diesen entfesselten Irrsinn irgendwie noch zu begreifen und da durchzukommen.
Dass das möglich ist in einem Programm, das bereits drei Monate nach Ausbruch der Krise entsteht, hat damit zu tun, dass sich die Künstler schon seit längerem mit diesem Thema beschäftigen.
artechock: Wenn Sie auf die Berlinale als Ganzes schauen: Welche Bereiche der Berlinale funktionieren besonders gut, wo könnte es nicht besser sein? Und welche könnten noch besser laufen? Wo ist noch Arbeitsbedarf?
Kosslick: Wir haben ja ein Luxusproblem: Wir haben das Problem, dass wir nicht genügend Karten fürs Publikum hatten, da es mehr Nachfrage als Angebot an Publikumskarten gibt. Ich gehe von den Zahlen der letzten Berlinale aus. Aufgrund des Anwachsens der Akkreditierungen für Fachbesucher – also Einkäufer, Rechtehändler Produzenten, Filmemacher, TV-Vertreter, Journalisten usw. – würden weniger Plätze fürs Publikum
bleiben. Und je mehr Akkreditierungen, um so weniger Plätze bleiben fürs Publikum übrig. Das nur zum Hintergrund. Wir sind aber auch ein Publikumsfestival und brauchen also zusätzliche Säle. Daher haben wir in diesem Jahr mit dem Friedrichstadtpalast einen neuen Aufführungsort hinzugewonnen – damit begegnen wir dem Platzmangel. Ein schlechter Film führt zu Kritik. Aber keine Karten zu bekommen, oder immer die falschen, führt zu Unmut.
Ansonsten hatten wir während der
letzten Jahre keine großen Probleme. Ich rede jetzt nicht über die Einschätzung der Filme, sondern rein als Festival. Es lief gut. Die Stars waren in Berlin, es gab eine gute Stimmung. Ansonsten können wir gar nicht mehr so viel machen, außer zu versuchen, die Glühbirnen durch Energiesparlampen zu ersetzen und die Berlinale etwas grüner zu machen, und nicht so viel Papier zu verbrauchen. Und aufs Essen zu achten, damit nicht der letzte Schrott gegessen wird. Wir wollen zeigen, dass wir
uns auch nachhaltig verhalten. Es ist wichtig, dass wir als Festival selber ein Statement abgeben zur Welt, in der wir leben. Also auch darauf achten, dass es am Ende der Berlinale nicht überall Papiermüllberge gibt.
An der Qualität kann man also immer etwas verbessern, aber an der grundsätzlichen Organisation können wir nichts verbessern. Wir sind auch nicht viel größer geworden, auch wenn es so scheint. Aber das wirkt nur so, weil es mehr Vorstellungen gibt. Ich sehe in
Quantität keine Tugend an sich.
artechock: Manchmal hat man den Eindruck, dass es zuletzt eine Vergrößerung in die Breite gibt, dass die Filme in Berlin selbst vergleichsweise immer unwichtiger wurden: Frankfurter Buchmesse auf der Berlinale, Kochen und Kino. Geht da nicht der Fokus verloren?
Kosslick: Das kann man so sagen, und es auch kritisieren. Trotzdem: Der Fokus geht meiner Meinung nach deshalb keinesfalls verloren, weil die Konzentration nach wie vor auf dem Wettbewerb liegt. Das ist so. Der Wettbewerb ist das Zentrum, und daran werden wir zunächst gemessen.
Die Berlinale ist bei ihrer Größe – und das war schon immer so – ein Spartenprogramm für Zielgruppen. Wir machen ein Programm für sehr
verschiedene Zuschauerzielgruppen. Es gibt auch Leute, die leidenschaftlich gern nur die Retrospektive angucken, oder nur das Forum. Oder das Kulinarische Kino.
Hier haben wir ganz neue Zuschauerschichten erschlossen. Außerdem haben wir jetzt auch das »Forum Expanded«. Das ist ein Versuch, in den Grenzbereichen des Kinos zur Kunst ein völlig neues Programm zu machen.
Das zeichnet aber die Berlinale – jedenfalls seit ich da bin – sowieso aus: Dass ich den Film
als Kunstwerk, als Teamarbeit zerlege in seine Einzelteile, und versuche, diese Einzelteile nun aufzubereiten für ein spezifisches Publikum. Das hängt damit zusammen, dass wir lebendig bleiben wollen. Darum fördern wir im Talent Campus den Nachwuchs, binden ihn ans Festival, und verjüngen es dadurch automatisch.
Und darum bieten wir Spartenprogramme, die auch ungewöhnlich sind. Zum Kulinarische Kino: Das ist nicht der Treffpunkt der Feinschmecker dieser Erde. Ich glaube,
dass das Kulinarische Kino eine sehr engagierte Reihe ist.
artechock: So schön es bestimmt ist, Berlinale-Chef zu sein, so sehr sind Sie auf dem Posten bestimmt auch ein Getriebener. Sie müssen jeden Tag ein neues Event produzieren
Kosslick: Und zwar in jeder Sektion…
artechock: Ein Festival lebt aber ja auch von seinen ruhigen Momenten, von der Möglichkeit persönlicher Begegnungen in relaxter Atmosphäre, jenseits vom Lärm des Boulevards. Das gilt für die Filmemacher und Gäste genau so, wie für das Publikum. Wie schafft man solche Ruhepole?
Kosslick: Ruhepole müssen die Leute sich schon selbst schaffen. Weil wir es als Programmierungsmaschine damit sehr, sehr schwer haben. Nicht wenn wir das einzelne Programm kuratieren. Aber weil wir immer die zehn verschiedenen Programme nebeneinander legen müssen. Da wird das plötzlich unmöglich. Da gibt es so viele Abhängigkeiten, so viele Bedingungen, so viele Unwägbarkeiten. Wir können die Berlinale jetzt nicht so perfekt wie eine
Matrix mit zehn Programmen mal zehn Tage organisieren, dass sich sagen ließe: Hier atmen wir mal aus und dort durch die Nase wieder ein. Dafür ist das Ding einfach zu groß und zu komplex.
Aber ich glaube schon, dass es Momente der Kontemplation gibt. Man trifft eine persönliche Auswahl. Das ist wie früher an der Universität: »Ich geh jetzt mal in Geologie«. Da kann man dann konzentriert verschnaufen, ein bisschen auffüllen. Denn nur da 'rum zu rennen, ist nicht notwendig – außer
man ist professionell dazu verpflichtet.
Ich denke, man sollte unser Programm als Angebot nehmen. Und die einzige echte Arbeit für den Zuschauer, und seine wichtigste Arbeit ist die, sich vor Beginn einmal zwei Stunden mit dem Programmheft hinzusetzen, die Kommentare zu lesen, und sich sein persönliches Programm zusammen zu stellen.
Niemand wird am Dienstag nach der Berlinale im Familienkreis gefragt, ob alle 18 Beiträge im Wettbewerb wirklich auf der Höhe der Zeit gewesen
sind. Diese Diskussion wird es nicht geben. Aber es wird vielleicht diskutiert werden, ob diese zehn Tage, die jemand erlebt hat, inspirierend waren, ob man etwas gehört hat, was man noch nicht gehört hat, etwas gesehen hat, was man noch nie gesehen hat,
Für uns wäre es wichtig, dass die Leute das Gefühl haben, dass sie mit ihren Gedanken, die sie sich zur Welt machen, nicht allein sind. Sondern dass es in 130 Ländern Menschen gibt, die ganz ähnlich denken. Und dass es doch einen
Zusammenhang des Guten in der Welt gibt – so wie es leider auch einen Zusammenhang des Bösen gibt.
Das zu erkennen finde ich eine aufregende Sache.
artechock: Wo steht die Berlinale im Vergleich zu anderen Festivals wie Cannes?
Kosslick: Wir haben eine gute Beziehung, auch wenn mal der eine oder andere Film geklaut wird. Das ist nunmal so. Das zeigt, dass Cannes uns ernst nimmt, sogar so ernst, dass es manchmal um dieselben Filme geht. Wir haben ein freundschaftliches Verhältnis – auch persönlich zwischen mir und dem Cannes-Leiter Thierry Fremaux. Und das bleibt auch so.