59. Berlinale 2009
Widerstand ist die reine Existenz |
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Garapa |
Von André Grzeszyk
Am Anfang steht ein schelmisches Lachen und jenes Lachen darf nicht verloren gehen, deshalb muss man es aufschreiben, davon berichten. Es ist das schelmische Lachen einer Frau, die im Gegensatz zu all den Leinwandschönheiten, die am Abend und in der Nacht über den roten Teppich flanieren, wie ein Monster erscheint. Tiefe Falten sprechen die Sorgen ihres Lebens in jedem Bild aus, die Zähne stehen weit nach vorne, fast schon aus dem Mund heraus, die Schneidezähne fehlen. Ihr Körper würde in kein Abendkleid passen, so unförmig, schwerfällig, und verbraucht ist er. Ihr Mann bezeichnet sich selbst als „verrückt“, er ist ein Tunichtgut, ein Lügner und Betrüger, der die Milch für die Kinder eintauscht gegen einen billigen Rausch mit einer anderen Frau in der nachmittäglichen Hitze. Er hat ihr fast alles genommen, hat die Türen und Fenster ihres Hauses verkauft, wären da nicht die Wände, die es festhalten, er hätte auch das Dach verkauft. Doch als die Sozialarbeiterin die Frau fragt, strahlt ihr ganzes Gesicht wie das eines Kindes. Dreimal habe er in der vergangenen Nacht mit ihr schlafen wollen, dreimal, schließlich habe sie das Haus verlassen, weil einmal genug sei. Stolz und glücklich lacht sie durch die ausgefallenen Zähne hindurch, weil sein Begehren das einzige ist, was sie statt Mutter Frau und Fleisch sein lässt. In diesem Moment sind seine Gaunereien vergeben und man gewinnt eine Ahnung davon, was dieser unausstehliche Mann ihr bedeutet, wie wichtig ihr sein nächtliches Begehren ist, wie es sie überleben lässt in einer Welt, in der ihr außer den zwei Kindern nichts geblieben ist. Wie es sie durch die Tage trägt, von Tür zu Tür derjenigen, denen es besser geht und die vielleicht ein Stück Brot übrig haben.
Garapa, das ist das Zuckerwasser, das die Kinder der Armen in Brasilien bekommen, wenn das Geld für Milch nicht reicht. Es ist auch der Titel des Dokumentarfilms von José Padilhas, der die Berlinale im letzten Jahr mit Tropa de Elite gewonnen hat. Nun filmt er die Vergessenen auf dem Land, fernab von Karneval und Strand, in ästhetisierten Schwarzweißbildern, für die man ihm dankbar ist, weil der Eindruck dessen, was man zu sehen bekommt, mit ein bisschen Abstand leichter zu ertragen ist. Niemals würde man diese Welt in Farbe sehen, sie riechen oder gar in ihr Leben wollen. Eine Zone der Erde, in der es nur zwei Altersgruppen gibt: diejenigen die Kind sind und diejenigen, die Kinder haben. Die Bilder zeigen keine Zwischenabstufungen, das Leben frisst sich in die Gesichter, zeichnet Landkarten des Hungers, Tag für Tag. Es ist eine Welt der Frauen, in der die Männer trinken gehen, weil ihr Bemühen um Arbeit auch heute wieder vergeblich war. Den Rest ihres Lebens, die trägen Stunden im Halbschatten ihrer Familien, haben sie aufgegeben. Die Frauen hält die Angst vor dem Verhungern der Kinder in der Routine des Alltags. Sie hängen Wäsche am Stacheldrahtzaun auf, führen den Esel zum Flussbett, um Wasser zu holen. Geplagt werden sie von den Moskitos, deren Schwärme oft nicht vom Geflimmer des grobkörnigen Filmmaterials zu unterscheiden sind.
Manches Mal mutet Garapa wie ein Päderasten-Porno an, so offen stellt er die nackten Leiber der Kinder zur Schau. Dann fährt die Kamera allerdings Zentimeter für Zentimeter die Haut der Kinder ab, findet die Spuren der Moskitos, zerstochen und angefressen sind die Körper und an dieser Oberfläche lässt sich der ganze Horror des alltäglichen Lebenskampfes in schmutzigen Baracken ablesen. Es wächst nichts, der Regen bleibt aus und man fragt sich, was diese Menschen am Leben hält Und vielleicht ist jenes Lachen der hässlichen, verbrauchten Frau der erste Schritt zu einer Antwort. Padilha setzt erst am Ende die Kritik an, löst seine Beschreibungen in einer Botschaft auf, wenn die eingeblendeten Titel dem Zuschauer bedeuten, dass in der Zeit der Projektion, in den vergangenen 110 Minuten, rund um den Globus etwa 1400 Kinder an den Folgen von Mangelernährung gestorben sind. Und während des nächsten Filmes wird es nicht anders sein. Und so verlässt man als Zuschauer den Kinosaal und betritt eine neue Welt, die plötzlich ihre Dauer anhand der Zahl verhungerter Kinder misst.
Die Berlinale 2009 ist zu Ende und man wird jene eine Haltung des Festivals – politisch oder apolitisch – nicht finden, die Filme lassen sich nicht auf eine Aussage, einen Nenner bringen. Mit jedem Film hat das Kino in den vergangenen zehn Festivaltagen die Welt neu vermessen und spannend ist allein die Frage, wie die einzelnen Politiken der Filme aufeinander reagieren, was die Bilder sich zu sagen haben. Welche Utopien der Welt sie hervorbringen, all die möglichen Welten, die morgen sein könnten oder gestern gewesen sind und wie jene möglichen Welten das mitbestimmen, was man Wirklichkeit nennt. Gefangen zwischen Repräsentation und Produktion der Wirklichkeit hält das Kino Schritt mit den Entwicklungen der Welt und immer bleiben die Zweifel, ob es jene Welt nicht zuallererst hervorbringt.
Wie im Abschlussfilm der Winter adé –Reihe Wojna swiatów – nastepne stulecie von Piotr Szulkin, aus dem Jahr 1981. Szulkin inszeniert eine polnische War of the Worlds -Adaption, das klingt zunächst nach Trash. Doch statt die Welt bunt zu überzeichnen bleibt der Bildtraum den real existierenden Alltagsräumen des Spätkommunismus streng verhaftet. Iron Idem heißt der Protagonist des Films, der seine eigene Gegenbewegung zur omnipotenten Hysterie der Medien bildet. Melancholisch durchstreift er die Ruinen einer Welt, an die er nicht mehr glauben kann. Sein Beruf ist Nachrichtensprecher, er ist Teil des Problems, nicht der Lösung. Abend für Abend zieht er sich eine blonde Perücke über um ein Anderer zu werden, engagiert und jungendlich, ein Aufbauhelfer der neuen Welt.
»Reality – We create it« steht überall dort zu lesen, wo das Fernsehen Werbung für sich selbst macht. Wo die Wahrnehmung der Welt für das Volk anhand weniger aus dem Kontext gerissener Bilder in ein paar Sekunden Sendezeit um 180 Grad gedreht werden kann. Heute Morgen liebten wir die Marsmenschen und heute Nacht hassen wir sie und das Fernsehen hat keine Erinnerung genau wie die Zuschauer, die es hervorbringt. Wirklichkeit meint die Wahrnehmung der Welt, die Strukturierung ihrer Wahrnehmung und an diesem Punkt gehen filmisches und alltägliches Leben ineinander über, überschreiten die Grenzen der Bereiche. In diesem Sinne ist der Film politisch und relevant für die Konstruktion der Wirklichkeit, die Welt in der wir leben.
The Times of Harvey Milk heißt der Dokumentarfilm von Rob Epstein, mit dem er 1984 einen Oscar gewann und der ab dieser Woche – im Zuge von Gus van Sants Biopic Milk – in den Kinos wieder aufgeführt wird. Man bekommt einen ausgezeichneten Eindruck vom beständigen Kampf des Politikers Harvey Milk, die Lage der Schwulen und Lesben in Amerika zu verbessern. Und der Weg in eine bessere Welt kann nur über eine Neuaufteilung des Sichtbaren erfolgen. Immer wieder besteht Milk darauf, dass die Schwulen sich sichtbar machen, emblematisch ausgedrückt im Comingout, aber auch in den Paraden und Trauermärschen. Milks politischer Kampf gilt einem Gesetz, das es bekennenden Homosexuellen verbieten soll im öffentlichen Schuldienst zu arbeiten, oder, anders ausgedrückt, das sie in der Unsichtbarkeit halten will.
Die Gewaltausbrüche und Demonstrationen der Schwulenbewegung und ihrer Sympathisanten, nach dem allzu milden Urteil gegen seinen Mörder, erscheinen aus dieser Perspektive wie die Einlösung des politischen Vermächtnisses Harvey Milks. Denn die Unruhen setzen zuallererst die eigene Sichtbarkeit in Szene. In der Figur Harvey Milks verdichtet sich so gleichsam Stimme und Sichtbarkeit, er verleiht den Homosexuellen in Amerika eine Position zu Sprechen, sich zu erklären. Ausgehend von San Francisco verbreitet sich diese Bewegung medial in Restamerika.
Vor dem Screening von Petr Loms Dokumentation über den Iran Letters to the president fanden sich zwei Demonstranten im Kino ein, entrollten ein Transparent und die Wirklichkeit schob sich vor die Leinwand, beanspruchte die Sichtbarkeit vor den Filmbildern. Der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad wurde Holocaust-Leugner genannt und das bürgerliche Publikum fühlte sich gestört. Man war dankbar, als die Unruhestifter von breitnackigen Sicherheitsleuten aus dem Saal geführt wurden. Die Moderatorin reagierte mit dem altbewährten Argument, das man doch erst den Film sehen müsse und dann könne man argumentieren und diskutieren. Die Szene hinterließ einen Eindruck von Unbeholfenheit im Rahmen eines Festivals, das doch zugleich professionell und politisch sein will. Der Film selbst hält, was sein Regisseur Lom, ein ehemaliger Philosophiedozent, versprochen hatte: Die Tür in den Iran einen Spaltbreit aufzustoßen und so einen flüchtigen Blick auf den Alltag eines Landes zu erhalten, das seine Bildökonomie souverän bestimmen will und keine Abweichungen zulässt. Schließlich geht es um das Selbstbild des Staates in der Welt.
Letters to the president bezieht seinen Namen aus den Briefen, die die einfachen Iraner ihrem Präsidenten – mit Aussicht auf die Lösung ihres Problems seitens der Staatsmacht – schreiben dürfen. Das System erinnert an die Ziehung der Lottozahlen in Deutschland. Woche für Woche werden Zeichen auf ein Stück Papier geschrieben und am Ende bekommt das Glück suchende Individuum dann doch wieder nichts zurück. Es bleiben nur Geschichten von Freunden, deren Freunde angeblich von Jemandem gehört haben, der eine Antwort erhalten hat. Opium für das Volk. Jeder ist gleichberechtigt in diesem Spiel der Briefe und Worte, die sich während des Films mehr und mehr zu einer Nullnummer addieren. Die Organisation der Massen wird verhindert durch das individuelle Glücksversprechen, wozu Interessensverbände, wenn jedem Einzelnen in Aussicht gestellt wird, dass sein ureigenstes Problem vom Präsidenten persönlich gelöst wird? Die mögliche Sichtbarkeit des Widerstandes gegen das Regime wird aufgelöst im Kummerkasten, wo jeder für sich sein Schicksal fernab von Kategorien wie »Volk« oder »Gemeinschaft« in die Hände Ahmadinedschads legt, der es nie müde wird, sich als Mann des Volkes zu inszenieren.
Das eigentliche Thema Loms ist der Iran in all seinen Widersprüchen, die sich in dem entfalten, was gesagt, erscheinen darf und was nicht. Manche der Interviewten verstecken sich in ihren Türeingängen, weil sie eben nicht das Reich der Sichtbarkeit betreten wollen. Letters to the president zeichnet die Brüche zwischen Kritik und Zensur, dem Hass der einfachen Menschen auf dem Land und der totalen Euphorie, wenn ihr Präsident dann endlich erscheint, registrierend auf, vertraut auf das Vermögen der Zuschauer, zwischen den Zeilen zu lesen. Die Menschen in Teheran präsentieren sich überraschend liberal, ironisieren in ihren Worten ihr Land. Ein weißhaariger Mann empfängt das Kamerateam lächelnd an der Tür zu seiner Wohnung und erklärt, er könne nichts sagen, weil er Stimmen höre. Er sei deshalb zum Psychiater gegangen aber keiner könne ihm helfen, immer noch höre er die Stimme des Präsidenten in seinem Kopf. Sein Bild des Irans sieht sich konfrontiert mit den Bürokraten, die die Briefe verwalten, sich selbst und das Regime tödlich ernst nehmen und deren Worte in einfachem PR-Gefasel aufgehen. Zwei Geschichten über den Iran, zwei Fiktionen und beide besetzen sie den gleichen Raum, strukturieren die Wahrnehmung desselben Ortes.
Warum das Berliner Publikum lacht, als die Iraner immer wieder ihr Recht auf Atomwaffen skandieren, ist nur schwer verständlich. Vielleicht will man sich in der Kunstautonomie einrichten. Zumindest wurden die Protestler nach dem Film, als mit dem Regisseur diskutiert werden durfte, nicht mehr ins Kino geholt. Und trotz ihrer Abwesenheit bleiben Ahmadinedschad Aussagen zum Holocaust mehr als fragwürdig.
Die Staatsformen, der Einzelne in seiner politischen Dimension mag fremd erscheinen angesichts anhaltender deutscher Politikverdrossenheit. Gebannt schaut man auf die sozialen Prozesse überall in der Welt und vergisst dabei nur zu oft, wie politisiert zumindest die eine Hälfte Deutschlands noch vor zwanzig Jahren war. Eine hölzerne Treppe in Berlinale-Rot am Potsdamer Platz erinnert daran. Eine Treppe so hoch, dass man einen Blick über die Berliner Mauer werfen könnte, die allerdings nur noch als Spur, als Vertiefung in den glatten Steinplatten des Platzes vorhanden ist, während ihre reale Existenz den Gang in die Unsichtbarkeit antreten musste, die letzten Krümel als Kunstobjekt an die Souvenirjäger verkauft wurden.
Mit jenem politisierten Deutschland, kurz DDR, beschäftigt sich Thomas Heise in seinem Film Material. Der Name ist Programm, tatsächlich montiert Heise von vor 20 Jahren gedrehte Szenen aneinander, gibt ihnen eine Ordnung. Gleich die zweite Sequenz zeigt einen verzweifelt schreienden Mann während der Räumung besetzter Häuser in Halle. Er sinkt vor einem Wasserwerfer in die Knie und brüllt immer wieder: „Hört doch auf“. Aber die Wasserwerfer, die institutionelle Gewalt bleibt gleichgültig gegenüber seinen Schreien, hat kein Gesicht, nur Metall, das sich unerbittlich weiter schiebt. Es ist ein Einzelner gegen die Staatsmacht, ein Einzelner, der nichts ausrichten kann und der Film weist anschließend den Weg zurück in die Utopie vom Staat aller für alle, die mit der Wende verschwunden ist.
Im gesellschaftlichen Umschwung wurden wiederum zuallererst die Sichtbarkeiten neu geregelt. Die Gruppen formten ihre Stimme und verbreiteten sie über die Medien. Die Strafgefangenen, die hilflos fordern entlassen zu werden, weil sie an den Umwälzungen vor den Mauern mitarbeiten wollen, die Wärter im Strafvollzug. Jeder bekommt seine fünf Minuten Redezeit. Es wird debattiert, applaudiert und gepfiffen und alles findet in der Öffentlichkeit, vor der Kamera statt. Ein Volk erhebt seine Stimme(n). In L`Encerclement, einem Dokumentarfilm von Richard Brouilette der sich mit dem Aufstieg des Neoliberalismus beschäftigt, beschreibt Noam Chomsky noch die Angst der Eliten in den 1970er Jahren angesichts der Bürgerrechtsbewegungen. Der Wunsch aller mitzubestimmen, kann jenen, die gleicher sind, einfach nicht gefallen. Und Material bringt ein hochpolitisiertes Deutschland 1988/89 zur Anschauung, in dem Utopien noch nicht lächerlich, sondern der Plan für die Zukunft waren. Auch wenn Egon Krenz bei einer Kundgebung verkündet, er habe tausende von Briefen erhalten.
Und wie banal erscheinen die Bilder derjenigen Filme, die sich an das klassische Hollywoodkino anschließen, angesichts der Verbindungen zu einer gewesenen Realität voller Möglichkeiten wie in Material oder die Wirklichkeit des Hungers in Garapa. Die narzisstischen Plattitüden des Sohnes in Happy tears von Mitchell Lichtenstein, der an der Verwaltung des Erbes seines Vaters scheitert. Oder Robin Wright-Penn, die sich im Kinderbett Keanu Reeves in The Private Lives of Pippa Lee von Rebecca Miller tummelt. Unterhaltsam allemal und doch nicht mehr. Das Kino läuft auch immer Gefahr, sich in den eigenen Bildwelten zu verschließen. Dort entstehen hermetisch abgeriegelte Filme wie rage von Sally Potter, in denen die Figuren keine Welt mehr um sich haben, ihre Erzählungen drehen sich so stark um sich selbst, dass sie keine Bilder eines Außenraums, eines Milieus zulassen. Die Protagonisten sitzen vor monochromen Hintergründen, in die die Umwelt allenfalls noch als schwer zu verstehendes Geräusch eindringen darf. Narzissmus pur im Modebusiness, die Inszenierung ist formal vielleicht konsequent aber viele Jahre zu spät. 2009 kann sie nur noch als Reproduktion der Klischeebilder dienen, die sich in jedem Magazin finden lassen.
Den traurigen Höhepunkt der Selbstbezogenheit findet die Berlinale mit Short Cut to Hollywood, für den sich Jan Henrik Stahlberg und Marcus Mittermeier nach Muxmäuschenstill (2004) ein weiteres Mal zusammengefunden haben. Der Film scheitert gnadenlos an seinem Sujet. Geplant als Mediensatire gerinnt er zu einer peinlichen Reproduktion der Strategien der Boulevardmedien und kann deren Blödheit doch niemals einholen, weil sie alles nur Erdenkliche in jedem Moment immer schon überboten haben. Short Cut to Hollywood erzählt die blasse Geschichte eines Enddreißigers, der seine letzte Chance auf die versprochenen 15 Minuten Ruhm verstreichen sieht. Also reist er mit zwei Freunden nach Amerika, um dort als J.F. Salinger (!) berühmt zu werden. Er schneidet sich einen Finger und einen Arm ab und als seine Methoden keinerlei Wirkung zeigen verkleidet sich das Trio als die »Bagdad Street Boys« und inszenieren sich als Selbstmordattentäter in einem Fast-Food-Restaurant. Moralisch wird der Blick erst wenn der Film schlecht ist und ein schlechter Moment reiht sich hier an den nächsten und so stellt man sich die Frage, wie viele Menschen genau am Tag bei Selbstmordattentaten umkommen. Salinger wird ein Medienheld, weil er verspricht, sich selbst bald vor laufender Kamera zu töten. Im Folgenden hangelt sich Short Cut to Hollywood von Klischeebildchen zu Klischeebildchen und man wünscht sich, die Figur Salinger wäre niemals sichtbar geworden.
Dass man mit derselben Idee einen wunderbaren Film machen kann, beweist David Lee Miller mit My Suicide. Einer jener Namenlosen, Unsichtbaren im Mikrokosmos Schule kündigt in der Medienklasse als Projektarbeit die Inszenierung seines eigenen Todes an. Die neue Sichtbarkeit schlägt Wellen und der Protagonist Archibald bekommt nun all die Aufmerksamkeit, die er so lange vermissen musste, einschließlich derjenigen seines Traummädchens Sierra, für die der Suizid längst zum obsessiven Begehren geworden ist. Archibald schafft mit seinem Vorhaben einen jener kleinen Brüche im sozialen Gefüge, die die unter der Oberfläche gehaltenen Selbstzweifel und Autoaggressionen schnell nach oben treiben. Die Videokamera dient ihm als beinahe einziges Interaktionsmittel, der Blick des Objektivs ist dem alltäglichen Erleben immer schon eingeschrieben, seine Welt ist immer erst visuell vermessen, ehe er in ihr zu handeln lernt. Als Sierra Archibald um ein erstes Gespräch bittet, rennt er zunächst weg um schließlich mit einem Film zu antworten. Subjektivität offenbart sich als der Restmüll der Bilder, die Figur verausgabt sich in Bildern und entsteht aus ihr. Die Blickregime sind flach angeordnet, ohne jegliche Hierarchie oder Unterscheidung zwischen den Polen Alltag und medialem Alltag. Archibald sieht sich in den Bildern seiner Lieblingsfilme von The Deer Hunter bis Fight Club, sieht sein eigenes Leben konsequent als Film. Die Bilder sind unendlich manipulierbar und darin manifestiert sich die Utopie das eigene Leben auf die eine oder andere Weise in den Griff zu bekommen, es nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten.
Diesem Paradigma folgt auch Robert, die Hauptfigur in Antonio Campos’ Film After School. Der Schüler muss an einem Videoprojekt mitarbeiten, einem Film über die Schule. Auch hier die visuelle Vermessung des Alltagsraums. Robert erhält die undankbare Aufgabe zusammen mit einer Mitschülerin die Establishing shots für das gemeinsame Projekt zu drehen. Durch Zufall nimmt er den Tod zweier Mädchen auf, die an einer Überdosis sterben. Der Film bedrückt mit einer nicht auszuhaltenden Zeitlichkeit und entfaltet die Wahrnehmung eines Verlierers, einer Randfigur, deren Alltag ihr unerträglich geworden ist. Fast jedes Bild ist dekadriert und unscharf, eine schweifende, eigenwillige Kamera setzt ihre eigene Choreographie und ist nur ab und an interessiert am Geschehen vor dem Objektiv. Nur zu offensichtlich arbeitet sich Campos am Bildraum Schule, wie ihn Gus van Sant mit Elephant hinterlassen hat, ab. Wie in My suicide gibt es auch hier keine Hierarchie zwischen den Bildern, den Beginn des Films bildet eine rasche Folge von Videoschnipseln. Saddam Husseins Hinrichtung und das Lachen eines Babys wechseln sich unmittelbar ab und enden in einer Pornoaufnahme, die zeigt wie ein junges Mädchen zuerst fast erwürgt und dann unterworfen wird. Nach seinem ersten Kuss wiederholt Robert diese Geste des Erwürgens, das medial Erlernte setzt sich fort, wirkt als Matrix des eigenen Handelns.
Schließlich soll Robert als therapeutische Maßnahme ein Trauervideo für die verstorbenen Mitschülerinnen drehen und formt die Erinnerung an die Schönheiten nach seinem eigenen Empfinden. Der Direktor ist bei der Abnahme empört und gibt sofort ein zweites, »richtiges« memorial-Video in Auftrag. Mit Musik und Stimmen, die die Verstorbenen in den Himmel loben. „Reality, we create it“.
Was gab es zuerst: Gewalt an Schulen oder die medialen Bilder der Gewalt an Schulen? Die Darstellung der Gewalt in der Jugendkultur hat einen massiven Sprung nach vorne gemacht, auch das konnte man während der Berlinale beobachten. Bekämpfen sich die Gangs in West Side Story (Robert Wise, 1961) in der Retrospektive in den 1960er Jahren noch mit kodifizierten Tanzgesten, die nicht aus dem Milieu stammen, das als reine Bebilderung des verkünstelten Showgeschehens fungiert, folgen die Gesten, der Habitus der aufsässigen Schüler in La Journee De La Jupe (Jean-Paul Lilienfeld) im Panorama den Spuren, die die Dogma-Bewegung in die Bildökonomie des Westens geschlagen hat. Hier Urlaub im Elend anderer Leute, dort Mut zur Wirklichkeit.
Und was bleibt ist vor allem jenes schelmische Lachen aus Garapa, das Lachen einer hässlichen, verbrauchten Frau in dem das Leben selbst ein letztes Mal triumphal zu lachen scheint. Der Widerstand ist die reine Existenz, das Noch-nicht-Sterben-Wollen. Die Utopien gibt es und sie realisieren sich auf der Leinwand, verschüttet zwischen den Bildern oder ganz offen, je nach dem, dennoch Stimmen, die nicht verschwinden.
Andre Grzeszyk