19.02.2009
59. Berlinale 2009

Widerstand ist die reine Existenz

Garapa
Garapa

Die Berlinale 2009 ist zu Ende und man wird jene eine Haltung des Festivals – politisch oder apolitisch – nicht finden, die Filme lassen sich nicht auf eine Aussage, einen Nenner bringen.

Von André Grzeszyk

Am Anfang steht ein schel­mi­sches Lachen und jenes Lachen darf nicht verloren gehen, deshalb muss man es aufschreiben, davon berichten. Es ist das schel­mi­sche Lachen einer Frau, die im Gegensatz zu all den Lein­wand­schön­heiten, die am Abend und in der Nacht über den roten Teppich flanieren, wie ein Monster erscheint. Tiefe Falten sprechen die Sorgen ihres Lebens in jedem Bild aus, die Zähne stehen weit nach vorne, fast schon aus dem Mund heraus, die Schnei­de­zähne fehlen. Ihr Körper würde in kein Abend­kleid passen, so unförmig, schwer­fällig, und verbraucht ist er. Ihr Mann bezeichnet sich selbst als „verrückt“, er ist ein Tunichtgut, ein Lügner und Betrüger, der die Milch für die Kinder eintauscht gegen einen billigen Rausch mit einer anderen Frau in der nach­mit­täg­li­chen Hitze. Er hat ihr fast alles genommen, hat die Türen und Fenster ihres Hauses verkauft, wären da nicht die Wände, die es fest­halten, er hätte auch das Dach verkauft. Doch als die Sozi­al­ar­bei­terin die Frau fragt, strahlt ihr ganzes Gesicht wie das eines Kindes. Dreimal habe er in der vergan­genen Nacht mit ihr schlafen wollen, dreimal, schließ­lich habe sie das Haus verlassen, weil einmal genug sei. Stolz und glücklich lacht sie durch die ausge­fal­lenen Zähne hindurch, weil sein Begehren das einzige ist, was sie statt Mutter Frau und Fleisch sein lässt. In diesem Moment sind seine Gaune­reien vergeben und man gewinnt eine Ahnung davon, was dieser unaus­steh­liche Mann ihr bedeutet, wie wichtig ihr sein nächt­li­ches Begehren ist, wie es sie überleben lässt in einer Welt, in der ihr außer den zwei Kindern nichts geblieben ist. Wie es sie durch die Tage trägt, von Tür zu Tür derje­nigen, denen es besser geht und die viel­leicht ein Stück Brot übrig haben.

Garapa, das ist das Zucker­wasser, das die Kinder der Armen in Brasilien bekommen, wenn das Geld für Milch nicht reicht. Es ist auch der Titel des Doku­men­tar­films von José Padilhas, der die Berlinale im letzten Jahr mit Tropa de Elite gewonnen hat. Nun filmt er die Verges­senen auf dem Land, fernab von Karneval und Strand, in ästhe­ti­sierten Schwarz­weiß­bil­dern, für die man ihm dankbar ist, weil der Eindruck dessen, was man zu sehen bekommt, mit ein bisschen Abstand leichter zu ertragen ist. Niemals würde man diese Welt in Farbe sehen, sie riechen oder gar in ihr Leben wollen. Eine Zone der Erde, in der es nur zwei Alters­gruppen gibt: dieje­nigen die Kind sind und dieje­nigen, die Kinder haben. Die Bilder zeigen keine Zwischen­ab­stu­fungen, das Leben frisst sich in die Gesichter, zeichnet Land­karten des Hungers, Tag für Tag. Es ist eine Welt der Frauen, in der die Männer trinken gehen, weil ihr Bemühen um Arbeit auch heute wieder vergeb­lich war. Den Rest ihres Lebens, die trägen Stunden im Halb­schatten ihrer Familien, haben sie aufge­geben. Die Frauen hält die Angst vor dem Verhun­gern der Kinder in der Routine des Alltags. Sie hängen Wäsche am Stachel­draht­zaun auf, führen den Esel zum Flussbett, um Wasser zu holen. Geplagt werden sie von den Moskitos, deren Schwärme oft nicht vom Geflimmer des grob­kör­nigen Film­ma­te­rials zu unter­scheiden sind.

Manches Mal mutet Garapa wie ein Päderasten-Porno an, so offen stellt er die nackten Leiber der Kinder zur Schau. Dann fährt die Kamera aller­dings Zenti­meter für Zenti­meter die Haut der Kinder ab, findet die Spuren der Moskitos, zersto­chen und ange­fressen sind die Körper und an dieser Ober­fläche lässt sich der ganze Horror des alltäg­li­chen Lebens­kampfes in schmut­zigen Baracken ablesen. Es wächst nichts, der Regen bleibt aus und man fragt sich, was diese Menschen am Leben hält Und viel­leicht ist jenes Lachen der häss­li­chen, verbrauchten Frau der erste Schritt zu einer Antwort. Padilha setzt erst am Ende die Kritik an, löst seine Beschrei­bungen in einer Botschaft auf, wenn die einge­blen­deten Titel dem Zuschauer bedeuten, dass in der Zeit der Projek­tion, in den vergan­genen 110 Minuten, rund um den Globus etwa 1400 Kinder an den Folgen von Mange­lernäh­rung gestorben sind. Und während des nächsten Filmes wird es nicht anders sein. Und so verlässt man als Zuschauer den Kinosaal und betritt eine neue Welt, die plötzlich ihre Dauer anhand der Zahl verhun­gerter Kinder misst.

Die Berlinale 2009 ist zu Ende und man wird jene eine Haltung des Festivals – politisch oder apoli­tisch – nicht finden, die Filme lassen sich nicht auf eine Aussage, einen Nenner bringen. Mit jedem Film hat das Kino in den vergan­genen zehn Festi­val­tagen die Welt neu vermessen und spannend ist allein die Frage, wie die einzelnen Politiken der Filme aufein­ander reagieren, was die Bilder sich zu sagen haben. Welche Utopien der Welt sie hervor­bringen, all die möglichen Welten, die morgen sein könnten oder gestern gewesen sind und wie jene möglichen Welten das mitbe­stimmen, was man Wirk­lich­keit nennt. Gefangen zwischen Reprä­sen­ta­tion und Produk­tion der Wirk­lich­keit hält das Kino Schritt mit den Entwick­lungen der Welt und immer bleiben die Zweifel, ob es jene Welt nicht zual­ler­erst hervor­bringt.

Wie im Abschluss­film der Winter adé –Reihe Wojna swiatów – nastepne stulecie von Piotr Szulkin, aus dem Jahr 1981. Szulkin insze­niert eine polnische War of the Worlds -Adaption, das klingt zunächst nach Trash. Doch statt die Welt bunt zu über­zeichnen bleibt der Bildtraum den real exis­tie­renden Alltags­räumen des Spät­kom­mu­nismus streng verhaftet. Iron Idem heißt der Prot­ago­nist des Films, der seine eigene Gegen­be­we­gung zur omni­po­tenten Hysterie der Medien bildet. Melan­cho­lisch durch­streift er die Ruinen einer Welt, an die er nicht mehr glauben kann. Sein Beruf ist Nach­rich­ten­spre­cher, er ist Teil des Problems, nicht der Lösung. Abend für Abend zieht er sich eine blonde Perücke über um ein Anderer zu werden, engagiert und jungend­lich, ein Aufbau­helfer der neuen Welt.

»Reality – We create it« steht überall dort zu lesen, wo das Fernsehen Werbung für sich selbst macht. Wo die Wahr­neh­mung der Welt für das Volk anhand weniger aus dem Kontext geris­sener Bilder in ein paar Sekunden Sendezeit um 180 Grad gedreht werden kann. Heute Morgen liebten wir die Mars­men­schen und heute Nacht hassen wir sie und das Fernsehen hat keine Erin­ne­rung genau wie die Zuschauer, die es hervor­bringt. Wirk­lich­keit meint die Wahr­neh­mung der Welt, die Struk­tu­rie­rung ihrer Wahr­neh­mung und an diesem Punkt gehen filmi­sches und alltäg­li­ches Leben inein­ander über, über­schreiten die Grenzen der Bereiche. In diesem Sinne ist der Film politisch und relevant für die Konstruk­tion der Wirk­lich­keit, die Welt in der wir leben.

The Times of Harvey Milk heißt der Doku­men­tar­film von Rob Epstein, mit dem er 1984 einen Oscar gewann und der ab dieser Woche – im Zuge von Gus van Sants Biopic Milk – in den Kinos wieder aufge­führt wird. Man bekommt einen ausge­zeich­neten Eindruck vom bestän­digen Kampf des Poli­ti­kers Harvey Milk, die Lage der Schwulen und Lesben in Amerika zu verbes­sern. Und der Weg in eine bessere Welt kann nur über eine Neuauf­tei­lung des Sicht­baren erfolgen. Immer wieder besteht Milk darauf, dass die Schwulen sich sichtbar machen, emble­ma­tisch ausge­drückt im Comingout, aber auch in den Paraden und Trau­er­mär­schen. Milks poli­ti­scher Kampf gilt einem Gesetz, das es beken­nenden Homo­se­xu­ellen verbieten soll im öffent­li­chen Schul­dienst zu arbeiten, oder, anders ausge­drückt, das sie in der Unsicht­bar­keit halten will.

Die Gewalt­aus­brüche und Demons­tra­tionen der Schwu­len­be­we­gung und ihrer Sympa­thi­santen, nach dem allzu milden Urteil gegen seinen Mörder, erscheinen aus dieser Perspek­tive wie die Einlösung des poli­ti­schen Vermächt­nisses Harvey Milks. Denn die Unruhen setzen zual­ler­erst die eigene Sicht­bar­keit in Szene. In der Figur Harvey Milks verdichtet sich so gleichsam Stimme und Sicht­bar­keit, er verleiht den Homo­se­xu­ellen in Amerika eine Position zu Sprechen, sich zu erklären. Ausgehend von San Francisco verbreitet sich diese Bewegung medial in Rest­ame­rika.

Vor dem Screening von Petr Loms Doku­men­ta­tion über den Iran Letters to the president fanden sich zwei Demons­tranten im Kino ein, entrollten ein Trans­pa­rent und die Wirk­lich­keit schob sich vor die Leinwand, bean­spruchte die Sicht­bar­keit vor den Film­bil­dern. Der iranische Präsident Mahmud Ahma­di­ned­schad wurde Holocaust-Leugner genannt und das bürger­liche Publikum fühlte sich gestört. Man war dankbar, als die Unru­he­stifter von breit­na­ckigen Sicher­heits­leuten aus dem Saal geführt wurden. Die Mode­ra­torin reagierte mit dem altbe­währten Argument, das man doch erst den Film sehen müsse und dann könne man argu­men­tieren und disku­tieren. Die Szene hinter­ließ einen Eindruck von Unbe­hol­fen­heit im Rahmen eines Festivals, das doch zugleich profes­sio­nell und politisch sein will. Der Film selbst hält, was sein Regisseur Lom, ein ehema­liger Philo­so­phie­do­zent, verspro­chen hatte: Die Tür in den Iran einen Spalt­breit aufzu­stoßen und so einen flüch­tigen Blick auf den Alltag eines Landes zu erhalten, das seine Bildö­ko­nomie souverän bestimmen will und keine Abwei­chungen zulässt. Schließ­lich geht es um das Selbst­bild des Staates in der Welt.

Letters to the president bezieht seinen Namen aus den Briefen, die die einfachen Iraner ihrem Präsi­denten – mit Aussicht auf die Lösung ihres Problems seitens der Staats­macht – schreiben dürfen. Das System erinnert an die Ziehung der Lotto­zahlen in Deutsch­land. Woche für Woche werden Zeichen auf ein Stück Papier geschrieben und am Ende bekommt das Glück suchende Indi­vi­duum dann doch wieder nichts zurück. Es bleiben nur Geschichten von Freunden, deren Freunde angeblich von Jemandem gehört haben, der eine Antwort erhalten hat. Opium für das Volk. Jeder ist gleich­be­rech­tigt in diesem Spiel der Briefe und Worte, die sich während des Films mehr und mehr zu einer Null­nummer addieren. Die Orga­ni­sa­tion der Massen wird verhin­dert durch das indi­vi­du­elle Glücks­ver­spre­chen, wozu Inter­es­sens­ver­bände, wenn jedem Einzelnen in Aussicht gestellt wird, dass sein urei­genstes Problem vom Präsi­denten persön­lich gelöst wird? Die mögliche Sicht­bar­keit des Wider­standes gegen das Regime wird aufgelöst im Kummer­kasten, wo jeder für sich sein Schicksal fernab von Kate­go­rien wie »Volk« oder »Gemein­schaft« in die Hände Ahma­di­ned­schads legt, der es nie müde wird, sich als Mann des Volkes zu insze­nieren.

Das eigent­liche Thema Loms ist der Iran in all seinen Wider­sprüchen, die sich in dem entfalten, was gesagt, erscheinen darf und was nicht. Manche der Inter­viewten verste­cken sich in ihren Türein­gängen, weil sie eben nicht das Reich der Sicht­bar­keit betreten wollen. Letters to the president zeichnet die Brüche zwischen Kritik und Zensur, dem Hass der einfachen Menschen auf dem Land und der totalen Euphorie, wenn ihr Präsident dann endlich erscheint, regis­trie­rend auf, vertraut auf das Vermögen der Zuschauer, zwischen den Zeilen zu lesen. Die Menschen in Teheran präsen­tieren sich über­ra­schend liberal, ironi­sieren in ihren Worten ihr Land. Ein weißhaa­riger Mann empfängt das Kame­ra­team lächelnd an der Tür zu seiner Wohnung und erklärt, er könne nichts sagen, weil er Stimmen höre. Er sei deshalb zum Psych­iater gegangen aber keiner könne ihm helfen, immer noch höre er die Stimme des Präsi­denten in seinem Kopf. Sein Bild des Irans sieht sich konfron­tiert mit den Büro­kraten, die die Briefe verwalten, sich selbst und das Regime tödlich ernst nehmen und deren Worte in einfachem PR-Gefasel aufgehen. Zwei Geschichten über den Iran, zwei Fiktionen und beide besetzen sie den gleichen Raum, struk­tu­rieren die Wahr­neh­mung desselben Ortes.

Warum das Berliner Publikum lacht, als die Iraner immer wieder ihr Recht auf Atom­waffen skan­dieren, ist nur schwer vers­tänd­lich. Viel­leicht will man sich in der Kunst­au­to­nomie einrichten. Zumindest wurden die Protestler nach dem Film, als mit dem Regisseur disku­tiert werden durfte, nicht mehr ins Kino geholt. Und trotz ihrer Abwe­sen­heit bleiben Ahma­di­ned­schad Aussagen zum Holocaust mehr als frag­würdig.

Die Staats­formen, der Einzelne in seiner poli­ti­schen Dimension mag fremd erscheinen ange­sichts anhal­tender deutscher Poli­tik­ver­dros­sen­heit. Gebannt schaut man auf die sozialen Prozesse überall in der Welt und vergisst dabei nur zu oft, wie poli­ti­siert zumindest die eine Hälfte Deutsch­lands noch vor zwanzig Jahren war. Eine hölzerne Treppe in Berlinale-Rot am Potsdamer Platz erinnert daran. Eine Treppe so hoch, dass man einen Blick über die Berliner Mauer werfen könnte, die aller­dings nur noch als Spur, als Vertie­fung in den glatten Stein­platten des Platzes vorhanden ist, während ihre reale Existenz den Gang in die Unsicht­bar­keit antreten musste, die letzten Krümel als Kunst­ob­jekt an die Souve­nir­jäger verkauft wurden.

Mit jenem poli­ti­sierten Deutsch­land, kurz DDR, beschäf­tigt sich Thomas Heise in seinem Film Material. Der Name ist Programm, tatsäch­lich montiert Heise von vor 20 Jahren gedrehte Szenen anein­ander, gibt ihnen eine Ordnung. Gleich die zweite Sequenz zeigt einen verzwei­felt schrei­enden Mann während der Räumung besetzter Häuser in Halle. Er sinkt vor einem Wasser­werfer in die Knie und brüllt immer wieder: „Hört doch auf“. Aber die Wasser­werfer, die insti­tu­tio­nelle Gewalt bleibt gleich­gültig gegenüber seinen Schreien, hat kein Gesicht, nur Metall, das sich uner­bitt­lich weiter schiebt. Es ist ein Einzelner gegen die Staats­macht, ein Einzelner, der nichts ausrichten kann und der Film weist anschließend den Weg zurück in die Utopie vom Staat aller für alle, die mit der Wende verschwunden ist.

Im gesell­schaft­li­chen Umschwung wurden wiederum zual­ler­erst die Sicht­bar­keiten neu geregelt. Die Gruppen formten ihre Stimme und verbrei­teten sie über die Medien. Die Straf­ge­fan­genen, die hilflos fordern entlassen zu werden, weil sie an den Umwäl­zungen vor den Mauern mitar­beiten wollen, die Wärter im Straf­vollzug. Jeder bekommt seine fünf Minuten Redezeit. Es wird debat­tiert, applau­diert und gepfiffen und alles findet in der Öffent­lich­keit, vor der Kamera statt. Ein Volk erhebt seine Stimme(n). In L`Encer­cle­ment, einem Doku­men­tar­film von Richard Broui­lette der sich mit dem Aufstieg des Neoli­be­ra­lismus beschäf­tigt, beschreibt Noam Chomsky noch die Angst der Eliten in den 1970er Jahren ange­sichts der Bürger­rechts­be­we­gungen. Der Wunsch aller mitzu­be­stimmen, kann jenen, die gleicher sind, einfach nicht gefallen. Und Material bringt ein hoch­po­li­ti­siertes Deutsch­land 1988/89 zur Anschauung, in dem Utopien noch nicht lächer­lich, sondern der Plan für die Zukunft waren. Auch wenn Egon Krenz bei einer Kund­ge­bung verkündet, er habe tausende von Briefen erhalten.

Und wie banal erscheinen die Bilder derje­nigen Filme, die sich an das klas­si­sche Holly­wood­kino anschließen, ange­sichts der Verbin­dungen zu einer gewesenen Realität voller Möglich­keiten wie in Material oder die Wirk­lich­keit des Hungers in Garapa. Die narziss­ti­schen Plat­ti­tüden des Sohnes in Happy tears von Mitchell Lich­ten­stein, der an der Verwal­tung des Erbes seines Vaters scheitert. Oder Robin Wright-Penn, die sich im Kinder­bett Keanu Reeves in The Private Lives of Pippa Lee von Rebecca Miller tummelt. Unter­haltsam allemal und doch nicht mehr. Das Kino läuft auch immer Gefahr, sich in den eigenen Bild­welten zu verschließen. Dort entstehen herme­tisch abge­rie­gelte Filme wie rage von Sally Potter, in denen die Figuren keine Welt mehr um sich haben, ihre Erzäh­lungen drehen sich so stark um sich selbst, dass sie keine Bilder eines Außen­raums, eines Milieus zulassen. Die Prot­ago­nisten sitzen vor mono­chromen Hinter­gründen, in die die Umwelt allen­falls noch als schwer zu verste­hendes Geräusch eindringen darf. Narzissmus pur im Mode­busi­ness, die Insze­nie­rung ist formal viel­leicht konse­quent aber viele Jahre zu spät. 2009 kann sie nur noch als Repro­duk­tion der Klischee­bilder dienen, die sich in jedem Magazin finden lassen.

Den traurigen Höhepunkt der Selbst­be­zo­gen­heit findet die Berlinale mit Short Cut to Hollywood, für den sich Jan Henrik Stahlberg und Marcus Mitter­meier nach Muxmäu­schen­still (2004) ein weiteres Mal zusam­men­ge­funden haben. Der Film scheitert gnadenlos an seinem Sujet. Geplant als Medi­en­sa­tire gerinnt er zu einer pein­li­chen Repro­duk­tion der Stra­te­gien der Boule­vard­me­dien und kann deren Blödheit doch niemals einholen, weil sie alles nur Erdenk­liche in jedem Moment immer schon überboten haben. Short Cut to Hollywood erzählt die blasse Geschichte eines Enddreißi­gers, der seine letzte Chance auf die verspro­chenen 15 Minuten Ruhm verstrei­chen sieht. Also reist er mit zwei Freunden nach Amerika, um dort als J.F. Salinger (!) berühmt zu werden. Er schneidet sich einen Finger und einen Arm ab und als seine Methoden keinerlei Wirkung zeigen verkleidet sich das Trio als die »Bagdad Street Boys« und insze­nieren sich als Selbst­mord­at­ten­täter in einem Fast-Food-Restau­rant. Moralisch wird der Blick erst wenn der Film schlecht ist und ein schlechter Moment reiht sich hier an den nächsten und so stellt man sich die Frage, wie viele Menschen genau am Tag bei Selbst­mord­at­ten­taten umkommen. Salinger wird ein Medi­en­held, weil er verspricht, sich selbst bald vor laufender Kamera zu töten. Im Folgenden hangelt sich Short Cut to Hollywood von Klischee­bild­chen zu Klischee­bild­chen und man wünscht sich, die Figur Salinger wäre niemals sichtbar geworden.

Dass man mit derselben Idee einen wunder­baren Film machen kann, beweist David Lee Miller mit My Suicide. Einer jener Namen­losen, Unsicht­baren im Mikro­kosmos Schule kündigt in der Medi­en­klasse als Projekt­ar­beit die Insze­nie­rung seines eigenen Todes an. Die neue Sicht­bar­keit schlägt Wellen und der Prot­ago­nist Archibald bekommt nun all die Aufmerk­sam­keit, die er so lange vermissen musste, einschließ­lich derje­nigen seines Traum­mäd­chens Sierra, für die der Suizid längst zum obses­siven Begehren geworden ist. Archibald schafft mit seinem Vorhaben einen jener kleinen Brüche im sozialen Gefüge, die die unter der Ober­fläche gehal­tenen Selbst­zweifel und Auto­ag­gres­sionen schnell nach oben treiben. Die Video­ka­mera dient ihm als beinahe einziges Inter­ak­ti­ons­mittel, der Blick des Objektivs ist dem alltäg­li­chen Erleben immer schon einge­schrieben, seine Welt ist immer erst visuell vermessen, ehe er in ihr zu handeln lernt. Als Sierra Archibald um ein erstes Gespräch bittet, rennt er zunächst weg um schließ­lich mit einem Film zu antworten. Subjek­ti­vität offenbart sich als der Restmüll der Bilder, die Figur veraus­gabt sich in Bildern und entsteht aus ihr. Die Blick­re­gime sind flach ange­ordnet, ohne jegliche Hier­ar­chie oder Unter­schei­dung zwischen den Polen Alltag und medialem Alltag. Archibald sieht sich in den Bildern seiner Lieb­lings­filme von The Deer Hunter bis Fight Club, sieht sein eigenes Leben konse­quent als Film. Die Bilder sind unendlich mani­pu­lierbar und darin mani­fes­tiert sich die Utopie das eigene Leben auf die eine oder andere Weise in den Griff zu bekommen, es nach den eigenen Wünschen und Vorstel­lungen zu gestalten.

Diesem Paradigma folgt auch Robert, die Haupt­figur in Antonio Campos’ Film After School. Der Schüler muss an einem Video­pro­jekt mitar­beiten, einem Film über die Schule. Auch hier die visuelle Vermes­sung des Alltags­raums. Robert erhält die undank­bare Aufgabe zusammen mit einer Mitschü­lerin die Estab­li­shing shots für das gemein­same Projekt zu drehen. Durch Zufall nimmt er den Tod zweier Mädchen auf, die an einer Überdosis sterben. Der Film bedrückt mit einer nicht auszu­hal­tenden Zeit­lich­keit und entfaltet die Wahr­neh­mung eines Verlie­rers, einer Randfigur, deren Alltag ihr uner­träg­lich geworden ist. Fast jedes Bild ist dekadriert und unscharf, eine schwei­fende, eigen­wil­lige Kamera setzt ihre eigene Choreo­gra­phie und ist nur ab und an inter­es­siert am Geschehen vor dem Objektiv. Nur zu offen­sicht­lich arbeitet sich Campos am Bildraum Schule, wie ihn Gus van Sant mit Elephant hinter­lassen hat, ab. Wie in My suicide gibt es auch hier keine Hier­ar­chie zwischen den Bildern, den Beginn des Films bildet eine rasche Folge von Video­schnip­seln. Saddam Husseins Hinrich­tung und das Lachen eines Babys wechseln sich unmit­telbar ab und enden in einer Porno­auf­nahme, die zeigt wie ein junges Mädchen zuerst fast erwürgt und dann unter­worfen wird. Nach seinem ersten Kuss wieder­holt Robert diese Geste des Erwürgens, das medial Erlernte setzt sich fort, wirkt als Matrix des eigenen Handelns.

Schließ­lich soll Robert als thera­peu­ti­sche Maßnahme ein Trau­er­video für die verstor­benen Mitschü­le­rinnen drehen und formt die Erin­ne­rung an die Schön­heiten nach seinem eigenen Empfinden. Der Direktor ist bei der Abnahme empört und gibt sofort ein zweites, »richtiges« memorial-Video in Auftrag. Mit Musik und Stimmen, die die Verstor­benen in den Himmel loben. „Reality, we create it“.

Was gab es zuerst: Gewalt an Schulen oder die medialen Bilder der Gewalt an Schulen? Die Darstel­lung der Gewalt in der Jugend­kultur hat einen massiven Sprung nach vorne gemacht, auch das konnte man während der Berlinale beob­achten. Bekämpfen sich die Gangs in West Side Story (Robert Wise, 1961) in der Retro­spek­tive in den 1960er Jahren noch mit kodi­fi­zierten Tanz­gesten, die nicht aus dem Milieu stammen, das als reine Bebil­de­rung des verkün­s­telten Show­ge­sche­hens fungiert, folgen die Gesten, der Habitus der aufsäs­sigen Schüler in La Journee De La Jupe (Jean-Paul Lili­en­feld) im Panorama den Spuren, die die Dogma-Bewegung in die Bildö­ko­nomie des Westens geschlagen hat. Hier Urlaub im Elend anderer Leute, dort Mut zur Wirk­lich­keit.

Und was bleibt ist vor allem jenes schel­mi­sche Lachen aus Garapa, das Lachen einer häss­li­chen, verbrauchten Frau in dem das Leben selbst ein letztes Mal triumphal zu lachen scheint. Der Wider­stand ist die reine Existenz, das Noch-nicht-Sterben-Wollen. Die Utopien gibt es und sie reali­sieren sich auf der Leinwand, verschüttet zwischen den Bildern oder ganz offen, je nach dem, dennoch Stimmen, die nicht verschwinden.

Andre Grzeszyk