55. Berlinale 2005
»Ein Roman hält uns heute nicht mehr zusammen« |
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Julia Hummer in Gespenster - im Wettberwerb der Berlinale 2005 |
Der Berliner Regisseur Christian Petzold (geb. 1961) ist einer der wichtigsten deutschen Filmemacher. Bekannt wurde er 2000 mit Die innere Sicherheit – einem sensiblen Drama über ein junges Mädchen, deren Eltern im Untergrund leben. Der Film gewann 2001 hochverdient den Deutschen Filmpreis. Seitdem ist klar, dass Petzold zu den vielversprechendsten unter den deutschen Regisseuren gehört. Es folgten zwei Arbeiten fürs Fernsehen: Die arte-Produktionen Toter Mann und Wolfsburg, die jeweils mit mehreren Grimme-Preisen ausgezeichnet wurden. Wolfsburg lief kurze Zeit auch im Kino. Nun läuft Petzolds neuer Film Gespenster im Berlinale-Wettbewerb – wie alle Filme Petzolds ein Film voller Understatement: Stiller Psychothriller und kleines Meisterwerk, das das Wichtigste hat, was große Filme brauchen – ein Geheimnis.
Mit Petzold sprach Rüdiger Suchsland.
artechock: Ihre Filme wirken in der deutschen Filmlandschaft ganz singulär. Sie selbst gehören zu einer Zwischengeneration, darin am ehesten Dominik Graf ähnlich: Zu jung für den »Neuen Deutschen Film« der 70er Jahre, etwas älter als Roehler und Schmid, und deutlich zu alt sowohl für die jungen Unbefangenen wie Denis Gansel und Hans Weingartner, als auch für die junge Arthouse-Generation um Christoph Hochhäusler und Ulrich Köhler. Wo sehen Sie sich selbst?
Christian Petzold: Das ist eine Frage der Film-Referenzen, der Filme, die einen geprägt haben, die einen ins Kino brachten. Das ist für mich sicher das Kino von New Hollywood – deswegen war die letzte Berlinale mit ihrer Retrospektive für mich phantastisch-, dann sind es alte Polizeifilme, die nicht psychologisch erzählen, und dafür die Stadt als Schauplatz ernst nehmen, und natürlich auch das französische Kino. Die freundschaftliche Verbindung zu Dominik Graf kommt vielleicht daher, dass wir ähnliche Vorlieben haben, und ich ihn zugleich als einen ansehe, der ähnlich singulär dasteht.
Autorenfilmer sind wir alle in gewissem Sinn. Die Industrie macht Fernsehen. Auch das ist ein Laboratorium, das man noch mit einer Autorentheorie begreifen könnte. Aber im Kino ist jeder Film jedenfalls mit der Person des Regisseurs verbunden. Im deutschen Kino sind plötzlich wieder Filme sichtbar, die etwas zum Sehen bringen, und nicht aufs Privatfernsehen schielen. Als viel mehr produziert wurde, habe ich persönlich nichts davon gehabt, da ging es mir als Regisseur nicht besser. Aber jetzt, nach dem Zusammenbruch, geht es mir auch nicht schlechter. Das ist bei Christoph Hochhäusler und Ulrich Köhler ähnlich. Allerdings mussten die mit ihren ersten Filmen auch über Frankreich gehen, und hatten erst dort einen Verleih, bevor sie hier ins Kino kamen.
Das was ich da sehe, ist schon besser geworden. Das Handwerk ist alldem gegenüber zweitrangig, Rolf-Dieter Brinkmann hat mal gesagt: »Handwerk ist wie Zähneputzen« – man lernt es sowieso.
artechock: Im deutschen Kino ist zur Zeit die Geschichte sehr „in“. Fühlen Sie sich dieser Art Kino irgendwie verbunden?
Petzold: Ja, die Produktionsfirmen haben offenbar alle Kalender im Büro, in denen sie nach Jubiläen und bevorstehenden Terminen Ausschau halten: Auschwitz, 17.Juni, Fußball-WM 2006. Dafür kann man Geld bekommen. Aber ich weiß gar nicht, wie man historische Stoffe dreht – eine Kutsche oder auch einen Nazi filmen, das kann ich nicht. Ich hab auch schon Angebote für einen Fußballfilm bekommen.
artechock: Können Sie Ihre Erwartungen auf die Wettbewerbsteilnahme bei der Berlinale beschreiben?
Petzold: Ich bin da total leer. Der Film ist gerade fertig. Da ist man immer leicht nervös. Denn damit gehört der Film nicht mehr mir, sondern ist öffentlich. Er gehört nun den Leuten, die ihn sehen – ob sie ihn annehmen oder abstoßen. Darauf freue ich mich. Im Berlinale-Wettbewerb ist die Aufmerksamkeit natürlich besonders hoch. An irgendwelche Preise denke ich wirklich nicht.
Eine Preisvergabe versucht, einem Festival immer
rückwirkend eine Erzählung zu geben. Im besten Fall ist das dann so, wie mit Cronenberg als Jurypräsident in Cannes, der dann Rosetta den Preis gibt. Und im schlimmsten Fall sieht man, dass da eine Handvoll Leute kein Interesse hat, und sieben Länder und drei Minderheiten bedient werden mussten. Ich hoffe, dass bei dieser Berlinale die Erzählung gut ist – wie in den
letzten beiden Berlinale-Jahren mit den Siegen von Michael Winterbottom und Fatih Akin.
artechock: Dieter Kosslick hat natürlich auch seine Erzählung. Die handelt von der neuen Wirtschaftsmacht des deutschen Films, und von Event. Dazu gehört auch, das Roland Emmerich, nicht gerade berühmt für künstlerische Glanzleistungen, sondern eher für aufwendiges Massenkino, nun Jurypräsident wird. Das gefällt nicht allen. Was denken sie darüber?
Petzold: Ich kann und will dazu nichts sagen. Eine Jury, wenn sie gut ist, verselbständigt sich immer.
artechock: Gespenster ist Ihr erster Film, der in einer Großstadt spielt. War es ein großer Unterschied zu anderen Schauplätzen, die Großstadt zu erzählen? Berlin sieht bei Ihnen fast wie eine Kleinstadt, oder wie diese Mittelstädte, wie Wolfsburg aus...
Petzold: Wenn man genau hinschaut, ist es ja auch so – im Gegensatz zu vielen anderen Großstädten. Wenn man Berlin filmt, dann muss man es anders filmen. In Berlin ist nichts zersiedelt, die Stadt hat keinen Speckgürtel, und man muss kein Auto haben. In Berlin gibt es lauter Zentren, nicht eine große Straße, wo alle einkaufen gehen, und die dann am Abend tot ist – das gefällt mir. In den Romanen von Simenon findet man das aber auch. Sein Paris ist verkiezt. Da gibt es Leute, die haben ihr Arrondissement nie verlassen.
artechock: Der Film beginnt und endet in einer sehr ursprünglich, fast paradiesisch wirkenden Natur – wenn es auch nur der Park ist. Ausgerechnet die Metropole erscheint da sehr naturnahe
…
Petzold: Meine zwei französischen Darsteller sprachen viel über den Geruch Berlins, das Parfüm Berlins. Sie meinten, dass sie noch nie in einer Stadt waren, die so nach Natur riecht. Berlin ist ja nicht Hongkong oder Shanghai, sondern flächig, es hat wahnsinnig viele Parks, ist unglaublich grün und beheimatet wesentlich mehr verschiedene Tierarten, als jede Kleinstadt. Weil hier auch in der Natur, nicht nur unter den Menschen
Ungleichzeitigkeiten fortexistieren, die auf dem Land der Monokultur zum Opfer fallen.
Ich habe die Figur, die Julia Hummer spielt, im Exposé das »Waldmädchen« genannt. Sie wird von einem anderen Mädchen getrieben, in die Stadt zu gehen, und sich dort zu realisieren, ihre Erzählung zu finden.
Der erste Zwischentitel in Murnaus Nosferatu – und im Stummfilm sind ja die Zwischentitel auch Einstellungen – heißt: »Er geht über die Brücke und es kamen ihm die Gespenster entgegen.« Das habe ich als 12-jähriger zum ersten Mal gesehen, und es hat mich unglaublich beeindruckt. Das war eine der Ausgangsideen zu Gespenster. Und bei »Brücke«, »Gespenster« hatte ich schnell eine Vorstellung von einem märchenhaften Szenario im Tiergarten: Viel Grün, Bäume, hinter den Baumwipfeln ist die Stadt, und daher kommt ein Mädchen, das Waise ist, und an der auch sonst Märchenspuren kleben. Bei den Brüdern Grimm werden wahnsinnig viele Kinder im Wald ausgesetzt, und leben da, schweigend, bei den Wölfen, in den Bäumen oder in irgendwelchen verwunschenen Erdspalten. Und dann müssen sie diesen Wald verlassen.
Das war die eine fiktionale Grundlage, die ich hatte.
Und sie trifft auf ein anderes Mädchen, das nur Stadt ist. Das dort vielleicht Schmuck verkaufen will, man denkt zunächst vielleicht auch, sie wird vergewaltigt
artechock: Aber sie könnte auch aus dem Wald kommen: sie hat zerrisssene Kleider, sie ist dreckig, sie ist teilweise nackt...
Petzold: Genau. Aber sie treibt es immer zurück in die Stadt. Wenn sie mit der neu gewonnenen Freundin unterwegs ist, zieht sie sie mit. Sie will immer dahin, wo die Lichter sind. Marguerite Duras schreibt in ihrer Autobiographie, dass für sie Paris ein Roman ist. Sie sei Schriftstellerin geworden, um eine Figur in diesem Roman Paris zu werden, sich da reinzuschreiben. Für diese Figur der Toni ist Berlin ein Casting. Es gibt dort tausende von Lofts, die TV-Zuliefererformen gehören – und darin wird gecastet, dass es kracht. Für irgend'nen Scheiß.
artechock: Sie will hineinkommen in diese Welt..
Petzold: Ja, einfach nur Identität bekommen. Da gibt es jemand, der kocht für Dich, zieht Dich an – und Du hast eine Identität. Berlin produziert nichts mehr, sondern ist ein Medienort.
artechock: Es ist eine Bühne!
Petzold: Eine Bühne ja. Und da stammt sie her. Das Waldmädchen trifft auf das Casting-Mädchen. Und diese Beziehung hält, weil beide etwas voneinander wollen. Die eine benutzt das Waldmädchen, weil sie eine gewisse Authentizität hat, die ihr die Türen öffnet...
artechock: …und auch, um eine Erzählung auch zu bekommen. Das passiert ja dann ganz wörtlich.
Petzold: Genau – sie hat kein Gedächtnis, die Toni, sie hat ja alles gelöscht. Und die andere ist dagegen ein Tagebuch. Diese Nina ist Vergangenheit voller Erzählungen, und Toni ist reine Gegenwart. Die eine möchte so gegenwärtig sein, sie möchte endlich mal gesehen werden, anfassen, lieben – und die andere will eine Erzählung haben, die ihr die Türen öffnet.
artechock: Und will weggehen...
Petzold: Will weggehen damit, ja. Die Geschichte dieser beiden Mädchen zu erzählen, war die ursprüngliche Idee. Die habe ich vor neun Jahren entwickelt, es hieß mal »Chill Out«. Dazu hat mich eine Geschichte von Cesare Pavese angeregt, in der zwei Mädchen zugrunde gehen. Und da kam dann die zweite Geschichte der Mutter hinzu. Nicht als Hilfskonstruktion, sondern um die Sehnsucht des Mädchens nach Gegenwart noch deutlicher zu machen.
artechock: Die Mutter muss aber auch ihre eigene Erinnerung befriedigen, aber darin ist sie eine Wiederholungstäterin. Erinnerung und Wiederholung – das sind die Stichworte. »Wiederholung sei eine in die Zukunft gewandte Erinnerung.« schrieb Robbe-Grillet – in diesem Sinn also. Sie weiß ja vorher schon, dass der Versuch die Tochter zu finden, wieder scheitern wird
…
Petzold: Genau! Sie ist wie ein Junkie. Aber weil der Film aus meiner Sicht nur Gegenwart filmen kann – deswegen drehe ich eben keine Kostümfilme –, kann ihre Erinnerung keine Gegenwart haben. Gegenwart ist dieser Moment, wenn Mutter und Tochter beim essen in der Hotellobby sitzen. Sie sprechen kein Wort. Ein Stück Normalität, Vertrautheit. Als hätten sie sich nur ein paar Wochen nicht gesehen. Sie sind anwesend, und das genießt
man als Mutter. Die Anwesenheit des Kindes. Sie genießt diesen Moment, aber sie weiß, es ist der letzte. Dann kommt auch schon der Mann.
Solche Gegenwart zu filmen, ist mir wichtig, nicht Gespräche über früher. Die Vergangenheit ist etwas, das von der Gegenwart immer überstülpt wird.
Wenn sie sich in der Mitte des Films ihrer vermeintlichen Tochter erklärt, ist dies das Gegenteil einer Fernsehdramaturgie, in der sich Mutter und Tochter am Anfang treffen, und immer wieder
auseinandergehen. Darum habe ich die Toni dazugenommen, damit sie eine Gegenwart in die Erzählung der Vergangenheit hereinbringt. Sie guckt sich um, und sucht etwas, was sie klauen kann.
artechock: Die Mutter...
Petzold: Ich habe sie extra intelligent gemacht. Sie ist ihrem Mann intellektuell überlegen. Aus der Sicht des Mannes ist die Frau, die er geliebt hat, vor 15 Jahren mit dem Kind gestorben. Aber sie ist noch vor ihm. Er kann sie nicht einfach nur abholen, sondern muss gleich noch einen Mehrwert schaffen. Sie ist nicht nur Opfer, sondern auch Täter. Das gefällt mir.
artechock: Gespenster sind ja eigentlich ganz wörtlich Tote, die weiterleben im Leben. Wer von Gespenstern redet, glaubt, dass Tote weiterleben, dass es irgendeine Form des Lebens nach dem Tod gibt. Ist das auch die Bedeutung der Gespenster in Ihrem Verständnis?
Petzold: Bei Die innere Sicherheit hatten wir ja den „fliegenden Holländer“ als Hintergrundmythos. Eine Figur, die nicht zuende gestorben ist – so wie die RAF nicht zuende sterben wird. Deswegen ist die RAF gespenstisch, weil sie den Lebenden immer noch in irgendeiner Weise erscheint, weil die mit ihr nicht wirklich fertig sind.
artechock: Das sind die europäischen Gespenster: Die nicht sterben können. Asiatische Gespenster sind dagegen welche, die einfach da sind… Die 'mal Hallo sagen...
Petzold: Aber die europäischen sind immer verdrängtes Material. In dem Fall ist es so, dass da ein Mädchen so geliebt worden ist, dass sie nicht sterben kann, dass sie in den Erinnerungen der Mutter erhalten bleibt. Und die Mutter sogar Fotos errechnen lässt, wie die Tochter heute aussähe – um dem Kind eine fiktionale Gegenwart zu geben. Und die Nina, die Figur von der Julia Hummer, ist wie so eine Errechnete, sie lebt nicht richtig, aber sie ist auch nicht tot. Aber sie möchte leben. Und das schafft sie erst am Ende.
artechock: Ganz spontan dachte ich im Film, dass es vor allem Julia Hummers Geschichte ist. Nach dem Kino hat einer gesagt, es seien ja eigentlich zwei Geschichten, die sich nur ganz kurz treffen. Später dachte ich mir: Es sind drei Frauen, die sehr gleichberechtigt, auf unterschiedliche Weise reagieren. Die unterschiedliche Formen haben, sich der Welt zu entziehen: Mit Träumen, die in die Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart gerichtet sind.
Petzold: Stimmt. Wenn ich ein Drehbuch schreibe, versuche ich mir immer bis zu der kleinsten Nebenfigur vorzustellen, dass es auch andere Möglichkeiten für die Figuren gäbe. Und es gäbe zum Beispiel auch für den Film eine andere Möglichkeit, weiterzuerzählen. Ich könnte mich auf eine andere Figur konzentrieren. Zum Beispiel Benno Führmanns Figur, ein Regisseur, der mit seiner Produzentin verheiratet ist. Man könnte auch ihre Ehe zu einem 90 Minuten Film machen: wo ein Mann Scheiße produziert und eigentlich etwas anderes machen will, aber die Kraft dazu nicht hat. Und wo sie einen Mann liebt, den sie vor der völligen Verwahrlosung rettet – aber sie liebt in ihm etwas, das sie nicht kriegen kann. So habe ich alle Figuren konzipiert.
artechock: Was allen Ihren Filmen gemeinsam ist: Die Kommunikation zwischen den Menschen funktioniert nicht, sondern entgleitet immer wieder. Sie gelingt für Augenblicke, eher über Gesten, über das in-den-Arm-nehmen, nicht über Reden, aber im Prinzip sind die Verhältnisse kommunikationslos, geprägt von einer Depression, die die Menschen nicht völlig ablegen können.
Petzold: Das hängt heute damit zusammen, dass ich nicht glaube, dass man irgendein Problem heute noch dialogisch regeln kann.
artechock: In Wolfsburg haben wir auch zwei Leute, die etwas Unterschiedliches voneinander wollen, und irgendwie nicht zusammen kommen.
Petzold: Die haben auch gar keine Chance miteinander zu reden. Trotzdem entwickeln sie über ihre Gesten und Blicke, und die Art, wie sie miteinander umgehen – auch wenn alles auf Lüge basiert – eine Wahrhaftigkeit.
Bei Gespenster ist das auch so. Der Umgang zwischen den zwei Mädchen: Die beiden haben gar keine gemeinsame Gegenwart,
jede will etwas anderes. Aber über Gesten gehen sie aufeinander ein. Die Art von Beziehungsökonomie: Gesten, Blicke, wie man zusammen geht, ob man den gleichen Rhythmus hat, diese Art von Tanzbewegungen, ist auch eine Art von Dialog. Aber die ist im Kino verschüttet gegangen – nicht nur im deutschen Film, aber dort fällt es vielleicht besonders auf, weil der so dialoglastig ist. Das interessiert mich aber.
artechock: Über weite Strecken verzichten sie immer wieder ganz auf Dialoge. Und Ihre Figuren haben nichts von dem, was man zum Beispiel in Rohmers Filmen immer wieder sieht: Diesen Alltagssmalltalk. Sie sagen nicht unbedingt »Hallo«, sondern gleich irgendetwas anderes...
Petzold: Bei Rohmer leben sie ja meist in Paris. Das ist selbst schon eine Riesenerzählung. Da gibt es einen sicheren, selbstverständlichen kulturellen Hintergrund, den wir bei uns gar nicht kennen. Auch nicht in Berlin. Es gibt zwar diese Sehnsucht nach einem »Berlin-Film«, diese Beschwörung der alten glanzvollen Metropole, aber seit dem Nationalsozialismus funktioniert das nicht mehr. Die Sehnsucht richtet sich ins Leere, ist
künstlich.
In Deutschland müssen sich die Menschen neu erfinden, können sich auf keinerlei Referenzen mehr verlassen, auf alte Erzählungen, die abrufbar sind. In Frankreich funktioniert das.
artechock: Ist es die Aufgabe des Kinos, in diesem Fall des deutschen Kinos, so einen Bezugsrahmen zu schaffen? Das also dieser Film Gespenster vielleicht in 20 Jahren einen Hintergrund bildet, vor dem ein anderer Film erzählen kann, und mit ihm in Dialog tritt?
Petzold: Ja. Genau. An der Filmhochschule hat Helmut Färber früher immer gesagt: »Gute Filme sind Filme, die uns in 20 Jahren sagen, wie wir gelebt haben, und warum wir gelebt haben.« Das finde ich auch. In einem Klaus Lemke-Film erfährt man alles über die 70er-Jahre.
Ohne dass Filme deshalb dokumentarisch sein müssen, oder die letzte »Spiegel«-Serie verfilmen sollen.
Bis vor wenigen Jahren konnte das Kino immer nur von Jugendlichen
erzählen, die abhauen. weil das eine schöne Bewegung ist.
Die Idee des Aufbruch, die ist einfach ganz tief im Kino drin. Aber bei 5 Millionen Arbeitslosen, Leuten, die nicht mehr gebraucht werden, hat sich das Begehren verschoben. Die Leute wollen still sein.
Ausbrüche die modern sind, sind für mich Ausbrüche, die stattfinden, weil es wichtig ist, aufzubrechen, aber die kein Utopia mehr haben. Das finde ich schon eine richtige Bewegung. In Truffauts erstem Film fährt die Hauptfigur
ans Meer. Aber nur, um einmal richtig atmen zu können.
artechock: Würdest Du sagen, das ist ein Film über drei Personen, oder über vier. Wo dann die vierte die abwesende Tochter wäre?
Petzold: Die abwesende Tochter spielt glaube ich gar nicht so eine große Rolle. Es gab mal solche Überlegungen.
Ich wollte, dass das ganze Team glaubt, dass das die Tochter ist. Ich habe gesagt: Das ist die, aber das hilft uns überhaupt nicht. Diese Erzählung ist eigentlich so klar. Da ist eine Mutter, die sucht die Tochter, und ein Mädchen, das sucht eine Mutter. Früher hätte man gesagt: Das hält sich gegenseitig. Hier sind die alten
Erzählungen nicht mehr stark genug. Das alles ist heute nicht mehr stark genug. Ein Roman hält uns heute nicht mehr zusammen. Oder eine Erzählung.
Ich hatte den Schauspielern den Schluss aus Flauberts »Lehrjahre des Gefühls« zu lesen gegeben. Zwei Freunde haben ihr ganzes Leben gemeinsam durchlebt. Und am Schluss sagt der eine zum anderen: »Der einzige schöne Moment unseres Lebens war doch der, an dem wir einen Apfel gestohlen und zusammen gegessen haben.« Das ist so traurig! Und darum
ging es mir: dass diese Melancholie auch in dem Film drin ist.
artechock: Aber man kann das Filmende auch als Befreiung denken...
Petzold: Ja. Sie geht ja in die Stadt. Und sie kann sich nicht mehr auf ihr Tagebuch verlassen, nicht mehr auf Projektionen und Erzählungen. Das hilft ihr nicht mehr, solche Träume helfen nicht mehr weiter.
artechock: Wie viele Takes brauchst Du eigentlich?
Petzold: Zwei, höchstens drei. Es gibt manchmal kompliziertere Sachen. Da übt man, und wiederholt öfters. Ich habe ein festes Drehbuch, aber es wird dann immer weiter reduziert. Dialoge fallen heraus. Die Darsteller spielen, und ich denke, der Rest kann wegfallen.
artechock: Ihr habt vorher viel geprobt...
Petzold: Wir haben eine Woche in dem Hotel geprobt, in dem wir auch gedreht haben. Jeder, der überhaupt in dem Film auftaucht, war die ersten zwei Tage dabei. Da haben wir das Drehbuch besprochen, und Ausschnitte von Filmen angeguckt, die ich interessant fand. Und dann habe ich zwei Tage mit den beiden Mädchen alleine geprobt. Und zwei Tage Mutter und die beiden Mädchen. Dann haben wir Spaziergänge zu den Drehorten gemacht.
artechock: Welche Filme waren es, die Ihr angesehen habt?
Petzold: Mouchette von Robert Bresson und dann Wonder von Barbara Lowdon – das ist einer der schönsten Filme, die ich je gesehen habe. Das waren die Hauptfilme. Beide haben wir zweimal gesehen. Weil hier die beiden Vorbilder für die beiden Mädchen zu sehen sind. Und der Film Menschen am Sonntag von Robert Siodmak und Billy Wilder, ein Stummfilm von 1929 war ebenfalls sehr wichtig. Ich hatte mal den Titel »Menschen im Sommer« im Kopf.
artechock: artechock: Gibt es eigentlich jemanden für den Du Filme machst, eine Art Adressaten?
Petzold: Nee. Ein bisschen ist es so, dass es Harun Farocki ist, der bei meinen Drehbüchern mitarbeitet. Ich hab' ihm das zwar noch nicht so gesagt, aber der Moment, an dem er den ersten Rohschnitt sieht, ist für mich einer der wichtigsten Momente. Ich »verfilme« ja kein Drehbuch. Aber ob das, worüber wir gesprochen haben, die Idee, die uns gestreift hat, im Film enthalten ist. Das ist immer ein wichtiger Moment. Ansonsten gibt es das nicht.