11.03.2005
55. Berlinale 2005

»Ein Roman hält uns heute nicht mehr zusammen«

Julia Hummer in GESPENSTER
Julia Hummer in Gespenster
- im Wettberwerb der Berlinale 2005

Der Berliner Regisseur Christian Petzold (geb. 1961) ist einer der wich­tigsten deutschen Filme­ma­cher. Bekannt wurde er 2000 mit Die innere Sicher­heit – einem sensiblen Drama über ein junges Mädchen, deren Eltern im Unter­grund leben. Der Film gewann 2001 hoch­ver­dient den Deutschen Filmpreis. Seitdem ist klar, dass Petzold zu den viel­ver­spre­chendsten unter den deutschen Regis­seuren gehört. Es folgten zwei Arbeiten fürs Fernsehen: Die arte-Produk­tionen Toter Mann und Wolfsburg, die jeweils mit mehreren Grimme-Preisen ausge­zeichnet wurden. Wolfsburg lief kurze Zeit auch im Kino. Nun läuft Petzolds neuer Film Gespenster im Berlinale-Wett­be­werb – wie alle Filme Petzolds ein Film voller Under­state­ment: Stiller Psycho­thriller und kleines Meis­ter­werk, das das Wich­tigste hat, was große Filme brauchen – ein Geheimnis.

Mit Petzold sprach Rüdiger Suchsland.

artechock: Ihre Filme wirken in der deutschen Film­land­schaft ganz singulär. Sie selbst gehören zu einer Zwischen­ge­ne­ra­tion, darin am ehesten Dominik Graf ähnlich: Zu jung für den »Neuen Deutschen Film« der 70er Jahre, etwas älter als Roehler und Schmid, und deutlich zu alt sowohl für die jungen Unbe­fan­genen wie Denis Gansel und Hans Wein­gartner, als auch für die junge Arthouse-Gene­ra­tion um Christoph Hoch­häusler und Ulrich Köhler. Wo sehen Sie sich selbst?

Christian Petzold: Das ist eine Frage der Film-Refe­renzen, der Filme, die einen geprägt haben, die einen ins Kino brachten. Das ist für mich sicher das Kino von New Hollywood – deswegen war die letzte Berlinale mit ihrer Retro­spek­tive für mich phan­tas­tisch-, dann sind es alte Poli­zei­filme, die nicht psycho­lo­gisch erzählen, und dafür die Stadt als Schau­platz ernst nehmen, und natürlich auch das fran­zö­si­sche Kino. Die freund­schaft­liche Verbin­dung zu Dominik Graf kommt viel­leicht daher, dass wir ähnliche Vorlieben haben, und ich ihn zugleich als einen ansehe, der ähnlich singulär dasteht.

Autoren­filmer sind wir alle in gewissem Sinn. Die Industrie macht Fernsehen. Auch das ist ein Labo­ra­to­rium, das man noch mit einer Auto­ren­theorie begreifen könnte. Aber im Kino ist jeder Film jeden­falls mit der Person des Regis­seurs verbunden. Im deutschen Kino sind plötzlich wieder Filme sichtbar, die etwas zum Sehen bringen, und nicht aufs Privat­fern­sehen schielen. Als viel mehr produ­ziert wurde, habe ich persön­lich nichts davon gehabt, da ging es mir als Regisseur nicht besser. Aber jetzt, nach dem Zusam­men­bruch, geht es mir auch nicht schlechter. Das ist bei Christoph Hoch­häusler und Ulrich Köhler ähnlich. Aller­dings mussten die mit ihren ersten Filmen auch über Frank­reich gehen, und hatten erst dort einen Verleih, bevor sie hier ins Kino kamen.

Das was ich da sehe, ist schon besser geworden. Das Handwerk ist alldem gegenüber zweit­rangig, Rolf-Dieter Brinkmann hat mal gesagt: »Handwerk ist wie Zähne­putzen« – man lernt es sowieso.

artechock: Im deutschen Kino ist zur Zeit die Geschichte sehr „in“. Fühlen Sie sich dieser Art Kino irgendwie verbunden?

Petzold: Ja, die Produk­ti­ons­firmen haben offenbar alle Kalender im Büro, in denen sie nach Jubiläen und bevor­ste­henden Terminen Ausschau halten: Auschwitz, 17.Juni, Fußball-WM 2006. Dafür kann man Geld bekommen. Aber ich weiß gar nicht, wie man histo­ri­sche Stoffe dreht – eine Kutsche oder auch einen Nazi filmen, das kann ich nicht. Ich hab auch schon Angebote für einen Fußball­film bekommen.

artechock: Können Sie Ihre Erwar­tungen auf die Wett­be­werbs­teil­nahme bei der Berlinale beschreiben?

Petzold: Ich bin da total leer. Der Film ist gerade fertig. Da ist man immer leicht nervös. Denn damit gehört der Film nicht mehr mir, sondern ist öffent­lich. Er gehört nun den Leuten, die ihn sehen – ob sie ihn annehmen oder abstoßen. Darauf freue ich mich. Im Berlinale-Wett­be­werb ist die Aufmerk­sam­keit natürlich besonders hoch. An irgend­welche Preise denke ich wirklich nicht.
Eine Preis­ver­gabe versucht, einem Festival immer rück­wir­kend eine Erzählung zu geben. Im besten Fall ist das dann so, wie mit Cronen­berg als Jury­prä­si­dent in Cannes, der dann Rosetta den Preis gibt. Und im schlimmsten Fall sieht man, dass da eine Handvoll Leute kein Interesse hat, und sieben Länder und drei Minder­heiten bedient werden mussten. Ich hoffe, dass bei dieser Berlinale die Erzählung gut ist – wie in den letzten beiden Berlinale-Jahren mit den Siegen von Michael Winter­bottom und Fatih Akin.

artechock: Dieter Kosslick hat natürlich auch seine Erzählung. Die handelt von der neuen Wirt­schafts­macht des deutschen Films, und von Event. Dazu gehört auch, das Roland Emmerich, nicht gerade berühmt für künst­le­ri­sche Glanz­leis­tungen, sondern eher für aufwen­diges Massen­kino, nun Jury­prä­si­dent wird. Das gefällt nicht allen. Was denken sie darüber?

Petzold: Ich kann und will dazu nichts sagen. Eine Jury, wenn sie gut ist, verselb­stän­digt sich immer.

artechock: Gespenster ist Ihr erster Film, der in einer Großstadt spielt. War es ein großer Unter­schied zu anderen Schau­plätzen, die Großstadt zu erzählen? Berlin sieht bei Ihnen fast wie eine Klein­stadt, oder wie diese Mittelstädte, wie Wolfsburg aus...

Petzold: Wenn man genau hinschaut, ist es ja auch so – im Gegensatz zu vielen anderen Großs­tädten. Wenn man Berlin filmt, dann muss man es anders filmen. In Berlin ist nichts zersie­delt, die Stadt hat keinen Speck­gürtel, und man muss kein Auto haben. In Berlin gibt es lauter Zentren, nicht eine große Straße, wo alle einkaufen gehen, und die dann am Abend tot ist – das gefällt mir. In den Romanen von Simenon findet man das aber auch. Sein Paris ist verkiezt. Da gibt es Leute, die haben ihr Arron­dis­se­ment nie verlassen.

artechock: Der Film beginnt und endet in einer sehr ursprüng­lich, fast para­die­sisch wirkenden Natur – wenn es auch nur der Park ist. Ausge­rechnet die Metropole erscheint da sehr naturnahe

Petzold: Meine zwei fran­zö­si­schen Darsteller sprachen viel über den Geruch Berlins, das Parfüm Berlins. Sie meinten, dass sie noch nie in einer Stadt waren, die so nach Natur riecht. Berlin ist ja nicht Hongkong oder Shanghai, sondern flächig, es hat wahn­sinnig viele Parks, ist unglaub­lich grün und behei­matet wesent­lich mehr verschie­dene Tierarten, als jede Klein­stadt. Weil hier auch in der Natur, nicht nur unter den Menschen Ungleich­zei­tig­keiten fort­exis­tieren, die auf dem Land der Mono­kultur zum Opfer fallen.
Ich habe die Figur, die Julia Hummer spielt, im Exposé das »Wald­mäd­chen« genannt. Sie wird von einem anderen Mädchen getrieben, in die Stadt zu gehen, und sich dort zu reali­sieren, ihre Erzählung zu finden.

Der erste Zwischen­titel in Murnaus Nosferatu – und im Stummfilm sind ja die Zwischen­titel auch Einstel­lungen – heißt: »Er geht über die Brücke und es kamen ihm die Gespenster entgegen.« Das habe ich als 12-jähriger zum ersten Mal gesehen, und es hat mich unglaub­lich beein­druckt. Das war eine der Ausgangs­ideen zu Gespenster. Und bei »Brücke«, »Gespenster« hatte ich schnell eine Vorstel­lung von einem märchen­haften Szenario im Tier­garten: Viel Grün, Bäume, hinter den Baum­wip­feln ist die Stadt, und daher kommt ein Mädchen, das Waise ist, und an der auch sonst Märchen­spuren kleben. Bei den Brüdern Grimm werden wahn­sinnig viele Kinder im Wald ausge­setzt, und leben da, schwei­gend, bei den Wölfen, in den Bäumen oder in irgend­wel­chen verwun­schenen Erdspalten. Und dann müssen sie diesen Wald verlassen.

Das war die eine fiktio­nale Grundlage, die ich hatte.
Und sie trifft auf ein anderes Mädchen, das nur Stadt ist. Das dort viel­leicht Schmuck verkaufen will, man denkt zunächst viel­leicht auch, sie wird verge­wal­tigt

artechock: Aber sie könnte auch aus dem Wald kommen: sie hat zerriss­sene Kleider, sie ist dreckig, sie ist teilweise nackt...

Petzold: Genau. Aber sie treibt es immer zurück in die Stadt. Wenn sie mit der neu gewon­nenen Freundin unterwegs ist, zieht sie sie mit. Sie will immer dahin, wo die Lichter sind. Margue­rite Duras schreibt in ihrer Auto­bio­gra­phie, dass für sie Paris ein Roman ist. Sie sei Schrift­stel­lerin geworden, um eine Figur in diesem Roman Paris zu werden, sich da rein­zu­schreiben. Für diese Figur der Toni ist Berlin ein Casting. Es gibt dort tausende von Lofts, die TV-Zulie­fe­rer­formen gehören – und darin wird gecastet, dass es kracht. Für irgend'nen Scheiß.

artechock: Sie will hinein­kommen in diese Welt..

Petzold: Ja, einfach nur Identität bekommen. Da gibt es jemand, der kocht für Dich, zieht Dich an – und Du hast eine Identität. Berlin produ­ziert nichts mehr, sondern ist ein Medienort.

artechock: Es ist eine Bühne!

Petzold: Eine Bühne ja. Und da stammt sie her. Das Wald­mäd­chen trifft auf das Casting-Mädchen. Und diese Beziehung hält, weil beide etwas vonein­ander wollen. Die eine benutzt das Wald­mäd­chen, weil sie eine gewisse Authen­ti­zität hat, die ihr die Türen öffnet...

artechock: …und auch, um eine Erzählung auch zu bekommen. Das passiert ja dann ganz wörtlich.

Petzold: Genau – sie hat kein Gedächtnis, die Toni, sie hat ja alles gelöscht. Und die andere ist dagegen ein Tagebuch. Diese Nina ist Vergan­gen­heit voller Erzäh­lungen, und Toni ist reine Gegenwart. Die eine möchte so gegen­wärtig sein, sie möchte endlich mal gesehen werden, anfassen, lieben – und die andere will eine Erzählung haben, die ihr die Türen öffnet.

artechock: Und will weggehen...

Petzold: Will weggehen damit, ja. Die Geschichte dieser beiden Mädchen zu erzählen, war die ursprüng­liche Idee. Die habe ich vor neun Jahren entwi­ckelt, es hieß mal »Chill Out«. Dazu hat mich eine Geschichte von Cesare Pavese angeregt, in der zwei Mädchen zugrunde gehen. Und da kam dann die zweite Geschichte der Mutter hinzu. Nicht als Hilfs­kon­struk­tion, sondern um die Sehnsucht des Mädchens nach Gegenwart noch deut­li­cher zu machen.

artechock: Die Mutter muss aber auch ihre eigene Erin­ne­rung befrie­digen, aber darin ist sie eine Wieder­ho­lungs­tä­terin. Erin­ne­rung und Wieder­ho­lung – das sind die Stich­worte. »Wieder­ho­lung sei eine in die Zukunft gewandte Erin­ne­rung.« schrieb Robbe-Grillet – in diesem Sinn also. Sie weiß ja vorher schon, dass der Versuch die Tochter zu finden, wieder scheitern wird

Petzold: Genau! Sie ist wie ein Junkie. Aber weil der Film aus meiner Sicht nur Gegenwart filmen kann – deswegen drehe ich eben keine Kostüm­filme –, kann ihre Erin­ne­rung keine Gegenwart haben. Gegenwart ist dieser Moment, wenn Mutter und Tochter beim essen in der Hotel­lobby sitzen. Sie sprechen kein Wort. Ein Stück Norma­lität, Vertraut­heit. Als hätten sie sich nur ein paar Wochen nicht gesehen. Sie sind anwesend, und das genießt man als Mutter. Die Anwe­sen­heit des Kindes. Sie genießt diesen Moment, aber sie weiß, es ist der letzte. Dann kommt auch schon der Mann.
Solche Gegenwart zu filmen, ist mir wichtig, nicht Gespräche über früher. Die Vergan­gen­heit ist etwas, das von der Gegenwart immer über­s­tülpt wird.
Wenn sie sich in der Mitte des Films ihrer vermeint­li­chen Tochter erklärt, ist dies das Gegenteil einer Fern­seh­dra­ma­turgie, in der sich Mutter und Tochter am Anfang treffen, und immer wieder ausein­an­der­gehen. Darum habe ich die Toni dazu­ge­nommen, damit sie eine Gegenwart in die Erzählung der Vergan­gen­heit herein­bringt. Sie guckt sich um, und sucht etwas, was sie klauen kann.

artechock: Die Mutter...

Petzold: Ich habe sie extra intel­li­gent gemacht. Sie ist ihrem Mann intel­lek­tuell überlegen. Aus der Sicht des Mannes ist die Frau, die er geliebt hat, vor 15 Jahren mit dem Kind gestorben. Aber sie ist noch vor ihm. Er kann sie nicht einfach nur abholen, sondern muss gleich noch einen Mehrwert schaffen. Sie ist nicht nur Opfer, sondern auch Täter. Das gefällt mir.

artechock: Gespenster sind ja eigent­lich ganz wörtlich Tote, die weiter­leben im Leben. Wer von Gespens­tern redet, glaubt, dass Tote weiter­leben, dass es irgend­eine Form des Lebens nach dem Tod gibt. Ist das auch die Bedeutung der Gespenster in Ihrem Vers­tändnis?

Petzold: Bei Die innere Sicher­heit hatten wir ja den „flie­genden Holländer“ als Hinter­grund­my­thos. Eine Figur, die nicht zuende gestorben ist – so wie die RAF nicht zuende sterben wird. Deswegen ist die RAF gespens­tisch, weil sie den Lebenden immer noch in irgend­einer Weise erscheint, weil die mit ihr nicht wirklich fertig sind.

artechock: Das sind die europäi­schen Gespenster: Die nicht sterben können. Asia­ti­sche Gespenster sind dagegen welche, die einfach da sind… Die 'mal Hallo sagen...

Petzold: Aber die europäi­schen sind immer verdrängtes Material. In dem Fall ist es so, dass da ein Mädchen so geliebt worden ist, dass sie nicht sterben kann, dass sie in den Erin­ne­rungen der Mutter erhalten bleibt. Und die Mutter sogar Fotos errechnen lässt, wie die Tochter heute aussähe – um dem Kind eine fiktio­nale Gegenwart zu geben. Und die Nina, die Figur von der Julia Hummer, ist wie so eine Errech­nete, sie lebt nicht richtig, aber sie ist auch nicht tot. Aber sie möchte leben. Und das schafft sie erst am Ende.

artechock: Ganz spontan dachte ich im Film, dass es vor allem Julia Hummers Geschichte ist. Nach dem Kino hat einer gesagt, es seien ja eigent­lich zwei Geschichten, die sich nur ganz kurz treffen. Später dachte ich mir: Es sind drei Frauen, die sehr gleich­be­rech­tigt, auf unter­schied­liche Weise reagieren. Die unter­schied­liche Formen haben, sich der Welt zu entziehen: Mit Träumen, die in die Vergan­gen­heit, Zukunft, Gegenwart gerichtet sind.

Petzold: Stimmt. Wenn ich ein Drehbuch schreibe, versuche ich mir immer bis zu der kleinsten Neben­figur vorzu­stellen, dass es auch andere Möglich­keiten für die Figuren gäbe. Und es gäbe zum Beispiel auch für den Film eine andere Möglich­keit, weiter­zu­er­zählen. Ich könnte mich auf eine andere Figur konzen­trieren. Zum Beispiel Benno Führmanns Figur, ein Regisseur, der mit seiner Produ­zentin verhei­ratet ist. Man könnte auch ihre Ehe zu einem 90 Minuten Film machen: wo ein Mann Scheiße produ­ziert und eigent­lich etwas anderes machen will, aber die Kraft dazu nicht hat. Und wo sie einen Mann liebt, den sie vor der völligen Verwahr­lo­sung rettet – aber sie liebt in ihm etwas, das sie nicht kriegen kann. So habe ich alle Figuren konzi­piert.

artechock: Was allen Ihren Filmen gemeinsam ist: Die Kommu­ni­ka­tion zwischen den Menschen funk­tio­niert nicht, sondern entgleitet immer wieder. Sie gelingt für Augen­blicke, eher über Gesten, über das in-den-Arm-nehmen, nicht über Reden, aber im Prinzip sind die Verhält­nisse kommu­ni­ka­ti­onslos, geprägt von einer Depres­sion, die die Menschen nicht völlig ablegen können.

Petzold: Das hängt heute damit zusammen, dass ich nicht glaube, dass man irgendein Problem heute noch dialo­gisch regeln kann.

artechock: In Wolfsburg haben wir auch zwei Leute, die etwas Unter­schied­li­ches vonein­ander wollen, und irgendwie nicht zusammen kommen.

Petzold: Die haben auch gar keine Chance mitein­ander zu reden. Trotzdem entwi­ckeln sie über ihre Gesten und Blicke, und die Art, wie sie mitein­ander umgehen – auch wenn alles auf Lüge basiert – eine Wahr­haf­tig­keit.
Bei Gespenster ist das auch so. Der Umgang zwischen den zwei Mädchen: Die beiden haben gar keine gemein­same Gegenwart, jede will etwas anderes. Aber über Gesten gehen sie aufein­ander ein. Die Art von Bezie­hungs­ö­ko­nomie: Gesten, Blicke, wie man zusammen geht, ob man den gleichen Rhythmus hat, diese Art von Tanz­be­we­gungen, ist auch eine Art von Dialog. Aber die ist im Kino verschüttet gegangen – nicht nur im deutschen Film, aber dort fällt es viel­leicht besonders auf, weil der so dialog­lastig ist. Das inter­es­siert mich aber.

artechock: Über weite Strecken verzichten sie immer wieder ganz auf Dialoge. Und Ihre Figuren haben nichts von dem, was man zum Beispiel in Rohmers Filmen immer wieder sieht: Diesen Alltags­small­talk. Sie sagen nicht unbedingt »Hallo«, sondern gleich irgend­etwas anderes...

Petzold: Bei Rohmer leben sie ja meist in Paris. Das ist selbst schon eine Riesen­er­zäh­lung. Da gibt es einen sicheren, selbst­ver­s­tänd­li­chen kultu­rellen Hinter­grund, den wir bei uns gar nicht kennen. Auch nicht in Berlin. Es gibt zwar diese Sehnsucht nach einem »Berlin-Film«, diese Beschwörung der alten glanz­vollen Metropole, aber seit dem Natio­nal­so­zia­lismus funk­tio­niert das nicht mehr. Die Sehnsucht richtet sich ins Leere, ist künstlich.
In Deutsch­land müssen sich die Menschen neu erfinden, können sich auf keinerlei Refe­renzen mehr verlassen, auf alte Erzäh­lungen, die abrufbar sind. In Frank­reich funk­tio­niert das.

artechock: Ist es die Aufgabe des Kinos, in diesem Fall des deutschen Kinos, so einen Bezugs­rahmen zu schaffen? Das also dieser Film Gespenster viel­leicht in 20 Jahren einen Hinter­grund bildet, vor dem ein anderer Film erzählen kann, und mit ihm in Dialog tritt?

Petzold: Ja. Genau. An der Film­hoch­schule hat Helmut Färber früher immer gesagt: »Gute Filme sind Filme, die uns in 20 Jahren sagen, wie wir gelebt haben, und warum wir gelebt haben.« Das finde ich auch. In einem Klaus Lemke-Film erfährt man alles über die 70er-Jahre.
Ohne dass Filme deshalb doku­men­ta­risch sein müssen, oder die letzte »Spiegel«-Serie verfilmen sollen.
Bis vor wenigen Jahren konnte das Kino immer nur von Jugend­li­chen erzählen, die abhauen. weil das eine schöne Bewegung ist.
Die Idee des Aufbruch, die ist einfach ganz tief im Kino drin. Aber bei 5 Millionen Arbeits­losen, Leuten, die nicht mehr gebraucht werden, hat sich das Begehren verschoben. Die Leute wollen still sein.
Ausbrüche die modern sind, sind für mich Ausbrüche, die statt­finden, weil es wichtig ist, aufzu­bre­chen, aber die kein Utopia mehr haben. Das finde ich schon eine richtige Bewegung. In Truffauts erstem Film fährt die Haupt­figur ans Meer. Aber nur, um einmal richtig atmen zu können.

artechock: Würdest Du sagen, das ist ein Film über drei Personen, oder über vier. Wo dann die vierte die abwesende Tochter wäre?

Petzold: Die abwesende Tochter spielt glaube ich gar nicht so eine große Rolle. Es gab mal solche Über­le­gungen.
Ich wollte, dass das ganze Team glaubt, dass das die Tochter ist. Ich habe gesagt: Das ist die, aber das hilft uns überhaupt nicht. Diese Erzählung ist eigent­lich so klar. Da ist eine Mutter, die sucht die Tochter, und ein Mädchen, das sucht eine Mutter. Früher hätte man gesagt: Das hält sich gegen­seitig. Hier sind die alten Erzäh­lungen nicht mehr stark genug. Das alles ist heute nicht mehr stark genug. Ein Roman hält uns heute nicht mehr zusammen. Oder eine Erzählung.
Ich hatte den Schau­spie­lern den Schluss aus Flauberts »Lehrjahre des Gefühls« zu lesen gegeben. Zwei Freunde haben ihr ganzes Leben gemeinsam durchlebt. Und am Schluss sagt der eine zum anderen: »Der einzige schöne Moment unseres Lebens war doch der, an dem wir einen Apfel gestohlen und zusammen gegessen haben.« Das ist so traurig! Und darum ging es mir: dass diese Melan­cholie auch in dem Film drin ist.

artechock: Aber man kann das Filmende auch als Befreiung denken...

Petzold: Ja. Sie geht ja in die Stadt. Und sie kann sich nicht mehr auf ihr Tagebuch verlassen, nicht mehr auf Projek­tionen und Erzäh­lungen. Das hilft ihr nicht mehr, solche Träume helfen nicht mehr weiter.

artechock: Wie viele Takes brauchst Du eigent­lich?

Petzold: Zwei, höchstens drei. Es gibt manchmal kompli­zier­tere Sachen. Da übt man, und wieder­holt öfters. Ich habe ein festes Drehbuch, aber es wird dann immer weiter reduziert. Dialoge fallen heraus. Die Darsteller spielen, und ich denke, der Rest kann wegfallen.

artechock: Ihr habt vorher viel geprobt...

Petzold: Wir haben eine Woche in dem Hotel geprobt, in dem wir auch gedreht haben. Jeder, der überhaupt in dem Film auftaucht, war die ersten zwei Tage dabei. Da haben wir das Drehbuch bespro­chen, und Ausschnitte von Filmen angeguckt, die ich inter­es­sant fand. Und dann habe ich zwei Tage mit den beiden Mädchen alleine geprobt. Und zwei Tage Mutter und die beiden Mädchen. Dann haben wir Spazier­gänge zu den Drehorten gemacht.

artechock: Welche Filme waren es, die Ihr angesehen habt?

Petzold: Mouchette von Robert Bresson und dann Wonder von Barbara Lowdon – das ist einer der schönsten Filme, die ich je gesehen habe. Das waren die Haupt­filme. Beide haben wir zweimal gesehen. Weil hier die beiden Vorbilder für die beiden Mädchen zu sehen sind. Und der Film Menschen am Sonntag von Robert Siodmak und Billy Wilder, ein Stummfilm von 1929 war ebenfalls sehr wichtig. Ich hatte mal den Titel »Menschen im Sommer« im Kopf.

artechock: artechock: Gibt es eigent­lich jemanden für den Du Filme machst, eine Art Adres­saten?

Petzold: Nee. Ein bisschen ist es so, dass es Harun Farocki ist, der bei meinen Dreh­büchern mitar­beitet. Ich hab' ihm das zwar noch nicht so gesagt, aber der Moment, an dem er den ersten Rohschnitt sieht, ist für mich einer der wich­tigsten Momente. Ich »verfilme« ja kein Drehbuch. Aber ob das, worüber wir gespro­chen haben, die Idee, die uns gestreift hat, im Film enthalten ist. Das ist immer ein wichtiger Moment. Ansonsten gibt es das nicht.