33. Filmfest München 2016
»Der Tod ist das einzige Sujet, das mich interessiert« |
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Cristi Puiu beeindruckt mit stechendem Blick. Er kann aber auch lachen… | ||
(Foto: Dunja Bialas) |
Das Gespräch führte Dunja Bialas
Bevor ich Cristi Puiu zum Interview treffe, hole ich Erkundigungen ein. Wird sein neuer Film Sieranevada einen Verleih bekommen, bei den Rumänischen Filmtagen in München gezeigt werden? (Nein, wird es nicht, der Weltvertrieb sperrt sich genauso dagegen, wie er dagegen war, wie ich später von Puiu erfahre, dass dieser in Cannes seine eigenen Plakate aufhängt.) Ich frage meine befreundeten Afficionados des rumänischen Kinos, was ich in ihrem Auftrag Cristi Puiu fragen soll, das Gespräch verläuft dann aber erwartungsgemäß anders, lässt sich von der Stimmung tragen, an diesem Samstag Morgen. Das Gespräch beginnt spät, Cristi Puiu war länger beim Frühstücken. Am Montag danach noch wirkt die Begegnung mit Puiu nach. Ich sitze auf meinem Cinemascope-Balkon und ärgere mich darüber, dass ich ihn nicht gefragt habe, ob er mit den Szenen, die sich im Auto abspielen, das Kino von Abbas Kiarostami vor Augen hatte. Das Gespräch verlegt sich auf die Filme von Kiarostami, wir rufen uns sein Kino in Erinnerung. Und dann verglüht in Zeitlupentempo eine riesige Sternschnuppe mit beeindruckendem Schweif am Himmel.
Am nächsten Tag erfahre ich vom Tod Kiarostamis.
artechock: Das rumänische Kino ist seit über zehn Jahren eines der spannendsten Kinematographien Europas, Ihr Film Der Tod des Herrn Lazarescu (2005) war der Initialmoment für diese Entwicklung. Sie erzählen in Ihren Filmen viel über Rumänien und die Menschen, die in dem Land leben, auf sehr beiläufige Weise. Wie haben Sie Ihren Stil gefunden, der prägend für eine ganze Generation wurde?
Cristi Puiu: Ich habe nicht in Rumänien studiert, sondern in Genf, in der Schweiz. Daher konnte ich eine gewisse Distanz zu meinem Land gewinnen. Als ich wieder nach Rumänien zurückkam, hatte ich nicht vor, Filme über mein Land zu machen, ich wollte Geschichten erzählen, die mir wichtig sind, die ich im Herzen trage. Ich habe 2001 mit Marfa si banii (Koks und Kohle) begonnen, der auf der „Quinzaine des Réalisateurs“ gezeigt wurde, ein Film über den Kompromiss. Die Figuren hatten zu tun mit Leuten, denen ich in meinem Leben begegnet war, auch mit Teilen von mir selbst. Das kann man nicht vermeiden, man legt immer ein wenig von sich selbst in die Figuren, die man erfindet. Die Figuren gehören der gleichen Welt an wie ich selbst, dem Rumänien von heute. Ich hatte zwar nicht das Ziel, Filme über Rumänien zu machen, aber es drängte sich fast auf, ich konnte es gar nicht vermeiden. Alle Details, die mit der Lebensweise zu tun haben, den Verhältnissen und den Zwängen, denen jeder unterworfen ist, alles das kommt aus dem Rumänien, wie es heute ist. Mit allen Überbleibseln der kommunistischen Zeit und den Frustrationen der entsprechenden Zirkeln, mit all den Komplexen eines kleines Landes, mit seiner unbedeutenden Kultur. Das ist ein kastrierender Rahmen! Das hat eine Reaktion provoziert. Einer Welt, die zu Mittelmäßigkeit nahezu verdammt ist: der muss man sich widersetzen. Nein: Es ist nicht mittelmäßig, es ist kommt nur aus dieser kastrierenden Umgebung, die Rumänien ist, die blockiert, verhindert und jede Geste aushöhlt, die einen hochziehen könnte. Ich glaube, dass die Rumänen die Begegnung mit ihrer Geschichte verfehlt haben, sie haben ihren Mut verloren zu sagen: Ich sehe die Dinge so, von meinem Fenster aus sehe ich das. In allen kleinen Kulturen gibt es das Bestreben, den anderen zu gefallen. In Rumänien wird man dich immer verbessern, wenn du einen Fehler gemacht hast: Das sagt man so nicht! Wenn du Ba-u-de-la-ire sagst, wird dich jeder für einen Idioten halten, wenn die Franzosen »Brancusi« französisch aussprechen, bist du selbst der Idiot, weil du den rumänischen Bildhauer Brâncuși nicht erkannt hast. Den Franzosen ist das egal, die sprechen so aus, wie es ihre Sprache hergibt. In Rumänien ist die Korrektheit sehr wichtig, alle bemühen sich, keine Fehler zu machen. Das kommt aus einer Angst heraus, nicht akzeptiert zu werden. Die rumänische Kultur ist voller Minderwertigkeitskomplexe, denen permanent Ausdruck verliehen wird. Das alles ist der Hintergrund für meine Filme.
artechock: In ihnen erfährt man zugleich ein humanistisches Kino, das seine Figuren liebt, und ein Kino der großen Exaktheit. In Sieranevada ist die Handlung und die Bewegung der Figuren auf engstem Raum durchchoreographiert. Auf der anderen Seite spürt man auch eine große Freiheit der Inszenierung. Wie arbeiten Sie, geben Sie Raum für Improvisation?
Puiu: Nein, es wird nicht improvisiert. Aber ich schreibe die Dialoge oft erst am Tag, an dem die jeweilige Szene gedreht wird und dann proben wir mit den Dialogen und verändern sie. Wir machen Proben, aber keine Improvisationen. Die Schauspieler haben aber einen Spielraum, Freiräume, etwas hinzuzufügen oder auch nicht, Wörter, die sie gerne sagen. Das sind kleine Akzente, die sie setzen können. Die Suche nach der Richtigkeit der Inszenierung führt über viele Proben, Figurenumstellungen, die Kamera wird woanders positioniert, die Bewegungen anders geführt. Während der Dreharbeiten war es außerdem sehr schwierig, den Ton aufzunehmen. Wir mussten einen Kamerawinkel finden, der zuließ, den Ton zu angeln, ohne dass die Mikrophone zu sehen waren, wir drehten mit Direktton, es wurde nichts nachsynchronisiert. Daraus entstanden viele Zwänge, unter denen man arbeiten, die man akzeptieren musste.
artechock: Wie lassen sie das Gefühl der Situationen entstehen? Alles wirkt sehr echt, sehr lebensnah.
Puiu: Man darf nicht so tun „als ob“. Man muss die Schauspieler die Dinge wirklich tun lassen. Wenn eine Figur telefoniert, muss sie wirklich telefonieren: am anderen Ende der Leitung muss jemand sein. Es gibt eine ganze Reihe von Handlungen, bei denen es wichtig war, dass es genau diese Handlungen waren, nicht als Mimesis, nicht nachgeahmt, nicht „als ob“, nicht „paraitre“, sondern „être“ [nicht Schein, sondern Sein]. Ich habe den Ruf, sehr exakt zu arbeiten, die Leute haben Angst vor mir, ich soll streng und unerbittlich sein. Alles soll genau sein. Das stimmt nicht ganz. Die Exaktheit ist nur eine Exaktheit im Geiste, und die Präzision hat zu tun mit meiner persönlichen Obsession. Das kommt aus der Tatsache heraus, dass ich wie viele andere das Bedürfnis nach dem Soliden habe. Um sagen zu können: Das ist das. Das ist ein Päckchen Zigaretten. Das ist diese und jene Sequenz. Wenn ich mich etwas nur annähere, fühle ich mich nicht wohl. Das soll aber nicht heißen, dass Sieranevada aber nicht dennoch ein Film über die Annäherung ist! Überall ist dort Annäherung. An 9/11. An die Familiengeschichte. An den Anzug, der nicht passt, der zu groß ist. An den Zustand der Kroatin: Hat sie Drogen genommen? Ist sie betrunken? Was ist sie? Man bringt Hypothesen auf, man hat Meinungen, man macht Annäherungen, die Welt betreffend. Das ist eine Konstante unseres Lebens, nicht nur in Rumänien, überall. Man hat nicht alle Teile dieses unendlichen Puzzles in der Hand, das Puzzle unserer Geschichte, unserer persönlichen Geschichte, der Weltgeschichte. Man fügt Teile hinzu, man erfindet welche, um das Puzzle zu vervollständigen. Nehmen wir an, man hat drei Puzzleteile, man versteht die Bedeutung dieser Teile nicht sehr gut. Man versteht die Farben, man sieht die Linien, aber man versteht nicht die Figuration. Aber von ihnen ausgehend, kann man sich in eine Richtung bewegen: Ich konstruiere eine Geschichte, Sie konstruieren eine Geschichte, die Geschichten sind nicht deckungsgleich. Am Anfang aber halten wir alle dieselben Puzzleteile in der Hand. Genau so ist es in unserem Leben. Wir wissen wenig über unsere Eltern, nicht alles, und ich bin mir auch nicht sicher, dass wir gerne mehr über sie wüssten. All diese Geschichten von Verrat! Familien sind geprägt von Verrat und gegenseitigem sich Betrügen.
artechock: Die Tatsache, dass man nicht alles weiß, nicht wissen kann und vielleicht auch nicht will, bringt mich zum Blickwinkel, aus dem heraus Sieranevada erzählt. Während des Films habe ich mich gefragt: Wer sieht? Man hat sehr subjektive Kamerawinkel, oft ist die Sicht verstellt, der Blick der Kamera dringt oft nicht in die Zimmer hinein, die Kamera folgt den Figuren dann nicht, bleibt außerhalb der sich abspielenden Szenen. Es ist eine Kamera, die selten alles sieht von einer Szene. Wer sieht?
Puiu: In der Geschichte des Kinos wird die Position der Kamera oft verglichen mit der Position eines Toten, des unsichtbaren Mannes. Die Schauspieler sollen in die Richtung Kamera blicken, aber nicht in die Kamera. Die Figuren haben nicht das Recht, die Präsenz eines Beobachtenden preiszugeben, der die Geschichte aufzeichnet. Die Kamera ist zwar da, aber man tut so, als würde man ihre Anwesenheit nicht bemerken. Wer ist die Kamera? Das ist der Tote oder der unsichtbare Mann. In Sieranevada, der eine Gedenkfeier erzählt, gibt es einen Toten. Also habe ich mir gesagt: Es gibt die ideale Position der Kamera, die Geschichte wird vom Toten erzählt. Es ist der Blick des Verstorbenen. Ich sagte zu meinem Kameramann Barbu Balasoiu: Filme so, als würdest du Leute betrachten, die du zurückgelassen hast. Deine Familie. Die Kamera nicht zu verrücken und den Figuren nicht in die Zimmer zu folgen, ist dann auf mich zurückzuführen. Der Blick ist mein Blick. Das ist der Blick des Autors und der Blick des Toten. In diesem Fall ist der Autor der Tote, zumindest, was den Film betrifft. Wenn ich, der Autor, der Tote bin, dann muss der Blick verschämt sein, zurückhaltend, ein Blick, der nicht eindringt, der sich abseits hält. Umso mehr, als er sich mitten in seiner Familie wiederfindet. Es gibt keinen Grund, neugierig zu sein, er kennt das, hat das schon gesehen. Außerdem ist durch seinen Tod eine Distanz entstanden. Selbst wenn die Kamera näher kommt, gibt es immer eine Distanz, eine endgültige Distanz, die der Tod gesetzt hat.
artechock: Sind deshalb Ihre Filme um den Tod zentriert?
Puiu: Ich habe ein Problem damit, mit dem Tod. Vor einigen Jahren bin ich auf einen Tierkreis gestoßen, es war ein Tierkreis der Fehler und Schwächen. Ich bin Widder, und es hieß: Die Widder haben Angst vor dem Tod. Wenn Sie einen Widder rennen sehen, können Sie sicher sein, dass er gerade vor dem Tod davonläuft. Ich finde das sehr lustig. Aber ja, das kann ich sagen: Der Tod ist das einzige Sujet, das mich interessiert. Nicht die Handlungen des Menschen interessieren mich, der Tod ist der Filter, den ich benutze, um den Wert von etwas zu bemessen. Wenn ich diese Zigaretten hier nehme, und den Filter des Todes darüberlege, verschwinden die Zigaretten, denn sie haben keinen Wert. Nur wenige Dinge bleiben übrig. Was bleibt, wenn ich den Filter des Todes darüberlege, ist die Liebe. Es gibt nur dieses Binom: die Liebe, den Tod. Und dann kann ich vielleicht noch anderes finden.
artechock: Der Tod tritt sehr nahe an die Figuren heran, er kommt in den Schoß der Familie. So wie die Priester einen Hausbesuch machen.
Puiu: Ja, aber der Priester ist nicht der Tod. Der Priester ist so etwas wie ein Botschafter, der Repräsentant, aber des Lebenden. In der orthodoxen Tradition muss man den Tisch mit dem Essen weihen lassen, deshalb kommt der Priester ins Haus. Man kann aber auch das Essen zur Kirche oder auf den Friedhof bringen und dort weihen lassen. Als mein Vater 2007 gestorben ist, haben wir die Gedenkfeier zu Hause gemacht. Der Priester ist Repräsentant der Parochie, er kommt zu den Leuten, weiht das Essen. Manchmal bleibt er zum Essen, oft macht er aber die Runde und geht zu vielen Familien, zu einer Taufe, einer Hochzeit, einer Gedenkfeier und weiht das Essen.
artechock: Der Titel „Sieranevada“ hat auf den ersten Blick nichts mit dem Film zu tun. Welche Einladungen zur Interpretation sprechen Sie mit ihm aus?
Puiu: Der Titel beinhaltet selbst eine Annäherung. Allein schon der Name bezeichnet zwei Regionen: Es gibt eine Sierra Nevada in Spanien und eine in den USA. Beide aber schreiben sich anders als mein Titel. Mein Titel ist typisch rumänisch: im Rumänischen schreibt man, was man hört. Man hört kein Doppel-R, man hört keinen Bindestrich, man hört ein Wort: »Sieranevada«. Dies, um zu sagen, dass wir von unserer Sprache konditioniert werden,
von unserer Kultur, unserer Individualität. Wir sind konditioniert, die Welt zu lesen, zu dekodieren, zu verstehen. Es gibt eine Verschiebung zwischen dem, was man versteht und dem Objekt, das unserem Verstehen unterworfen ist. Die Geschichten, die wir über uns und unsere Familien erzählen, sind Geschichten, die sich annähern, erfundene Geschichten, Fiktionen. Das gilt auch für die historischen Geschichten, über Napoleon, über die Pyramiden, Hitler, Stalin, Mussolini, Obama, Putin.
Tutti quanti! Es sind erfundene Geschichten, wir können nicht anders! Wir können dem nicht entkommen.
Puiu nimmt meinen Notizzettel und schreibt zwei Namen auf: Alfred Korzybski und Heinz von Förster und notiert dazu: »Youtube, 3 min.«, »Youtube, 4 min.«. Die Recherchen ergeben: der
eine ist allgemeiner Semantiker, der anderer radikaler Konstruktivist, die Youtube-Videos geben Ausdruck eines philosophischen Hintergrunds, den Puiu mit sich trägt.
artechock: Es gibt einen bemerkenswerten Humor in ihren Filmen…
Puiu: Ja, das finde ich auch!
artechock: Darin vermischen Sie die politischen Geschichten, die Familiengeschichten, der Akzent liegt auf den Niederungen. Da ist auch die Figur von Toni, den man sehr mag.
Puiu: Er ist tot. Er ist im Dezember gestorben. Die Dreharbeiten waren im März vorbei, neun Monate später ist er gestorben. Ja, es stimmt, er [Sorin Medeleni] ist gut. Man kann seiner Figur nicht böse sein. Er erzeugt Mitleid. Aber alle tun einem irgendwann leid. Du hast das gemacht, du hast dies gemacht… Aber stimmt das denn? Ja, teilweise ist das wohl wahr, aber nicht alles. Der Vater schlief mit vielen Frauen, und die Mutter versteckte das. Sie deckte ihn. Sie ist also auch nicht sehr unschuldig. Das sind die Dinge, die man im Film erfährt. Aber was man alles nicht erfährt, weil sie es nicht sagen, in der Erwartung, dass sie alles sagen, was es zu sagen gibt! Es ist nur die Spitze des Eisbergs. Was ist darunter? Wir wollen es nicht wissen. Und so ist es in allen Familien, dem kann man nicht entkommen. Es gibt aber immer Momente von Frieden und Liebe. Man kann in einem Leben leben, das ist eines der wichtigsten Dinge. Der Rest ist ein unendliches Labyrinth aus Geheimnissen und Lügen. Von Zeit zu Zeit begegnen wir dem anderen, und Dinge passieren, in einem kurzen Augenblick. Der nicht anhält, der flüchtig ist. [klatscht in die Hände und lässt einen imaginären Augenblick davonfliegen] Nicht wahr?