33. Filmfest München 2016
Die 2. artechock-Awards für ausgezeichnete Preiswürdigkeiten |
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Überraschender Gewinner des »Gottlieb Wendehals Ehrendiplom der Deutschen Chiropraktiker Innung«: Limbradur | ||
(Foto: Filmfest München | Limbradur) |
Von Anna Edelmann & Thomas Willmann
Die Urkunde war schon ausgestellt für die Entwickler der Filmfest-App. Welche zu verhindern wussten, dass die Besucher ohne belastende Papiere durchs Festival kommen konnten. Durch das Fehlen eines Offline-Modus und die damit verbundene Behäbigkeit und Datenvolumenhunger waren alle, die sich unterwegs schnell und effizient informieren wollten, doch wieder auf Zettelwirtschaft und das diesmal besonders gewichtige Magazin angewiesen. Die zum Transport benötigten Umhängetaschen führten freilich geschäftsfördernd zu den gewohnten Abzügen in der Haltungsnote.
Doch am Morgen nach der ersten Vorführung von Limbradur und die Magie der Schwerkraft war klar, dass es nur einen Gewinner geben konnte: Was da in den Wartezimmern auftauchte an neuartigen Verrenkungen und Halsverwirbelungen (»Limbradur-Lumbago«) sprach von ungeahnten Dimensionen in der Interaktion von cineastischer Vision und menschlicher Anatomie.
Innovativ nutzt Limbradur sein 360° Full Dome-Format – indem er
einen unverrückbaren Boden der Tatsachen etabliert, wo über weite Strecken die Spielhandlung am selben schmalen Quadranten-Horizont der Planetariums-Kuppel des Deutschen Museums festgenagelt blieb. So konnte sich mindestens die Hälfte der Zuschauer drehen und wenden, wie sie wollten: Die Filmwelt stand Kopf!
Wäre Helly Luv (alias Helan Abdulla) im Exil in Finnland geblieben – sie wäre sicherlich irgendwann rekrutiert worden als Teilnehmerin für den Eurovision Song Contest. Aber die Co-Protagonistin aus Bahman Ghobadis bewegender Doku A Flag Without a Country ist zurück zu ihren kurdischen Wurzeln nach Erbil. Und hat nun kein Land mehr, für das sie antreten kann.
Zero points also leider für einen potentiellen Siegertitel und Sommeroffensiven-Hit:
»Risk it all« vereint alles, was ESC-Fan-Herzen höher schlagen lässt. Eine schöne, stolze Sängerin; einschlägiger Weltmusik-Dance Pop; Deko-Raubkatzen; fröhliche Flüchtlingskinder. Und sexy Tänzerinnen im Tarnanzug, die zu den Zeilen »Put ya guns up in the air« die AK-47s schwingen.
Es bedurfte schon fast eines sechsten Sinns, mitten im laufenden Filmfest die unscheinbar betitelte Newsletter-Mail nicht nur zu öffnen, sondern sich sogar bis zu der Ankündigung des Überraschungsgastes vorzuarbeiten.
Der findige Anteil des Publikums, dem dies gelang, konnte sich den Preis Donnerstag nachmittags selbst im Vortragssaal der Bibliothek abholen: Hochdotiert mit einem raren Publikumsgespräch mit Michael Madsen.
Angelockt durch Hermann Vaske, dem Regisseur
der Doku Dennis Hopper: Uneasy Rider, in der Madsen als einer der Anekdoteure von seinem Freund und Weggefährten Abschied nimmt. Aber Michael Madsen – sonst oft reduziert auf seine Rolle als Tarantino-Darsteller und personifiziertes Production Value für osteuropäische Direct-to-DVD-Produktionen – bekam Carte blanche erteilt, einmal als Ehrengast auf einem Festival über seine Kunst zu sprechen: Der brandgefährliche Killer mit dem bübischen Charme
ist im feingeistigeren Nebenberuf Dichter. Er mag (auch nach eigener Einschätzung) nicht der technisch versierteste Schauspieler, und nicht der literarisch bedeutendste Poet sein – aber was kaum einem der Filme im Programm gelang, schaffte er: Einem das Gefühl zu geben von Kunst als Lebensnotwendigkeit.
Stuck after the Middle, war dies der (wirklich ziemlich) heimliche Höhepunkt des Festivals.
Geht an die Freibier-Zapfhähne auf der Indie-Party. Die dieses Jahr erfreulicher- und fatalerweise eine Ausdauer weit über das Ende der letzten Spätvorstellung und selbst unsere Aufnahmefähigkeit hinaus demonstrierten.
Sagrotan gratuliert dem Filmfest München zu der erfolgreichen Absolvierung seines Fünf-Schritte-Programms »Genre-Kino: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt!«.
1. Gestehe Dir ein, dass Genre-Kino existiert.
Dass es nicht auszurotten ist.
Aber Du etwas tun kannst, seine unkontrollierte Ausbreitung einzudämmen.
2. Heutzutage kann man selbst bei den seriösesten Cineasten nicht mehr von einer Immunität gegenüber Genre-Kino ausgehen. Deshalb ist die gezielte, gesteuerte Bildung
von Antikörpern unerlässlich.
Dein Beitrag als modernes Filmfest muss sein, sorgfältig und gewissenhaft nicht-virulente Spezimen zu selektieren, die eine gefahrlose Konfrontation erlauben. Wähle Gangster-Filme, in denen Gewalt lediglich angedroht wird (MR. SIX); Musicals, die unmusikalischer sind als die sangesfreien Filme des Regisseurs (Johnnie Tos OFFICE); deutsche Flüchtlingsproblematik-Thriller in Fernsehzuschnitt, bei denen einem einfach die Lust am Kino vergeht
(VOLT).
3. Nutze die Dir zur Verfügung stehenden Kommunikationskanäle, um gefährdete Publikumsgruppen auf die bereitgestellten Möglichkeiten zum betreuten Schauen unter der Obhut von geschultem Personal hinzuweisen. Betitele selbstbewusst und kühn! (»Es fliegen die Fetzen«!)
4. Bei allen bisher getroffenen Vorkehrungen: Gib Acht, auch Dein Personal ist gefährdet!
Sorge für Sicherheitsabstand, wenn es nervös und tapfer vor Kinosäle voller Genrewilliger tritt: Man
weiß nie, wer nur auf einen einmaligen Kick neugierig, und wer bereits unheilbar infiziert ist.
Schule alle, die in direkten Kontakt treten, im pädagogischen Umgang mit den Risikogruppen – welche zum Nachdenken über ihre Vorlieben und Verhalten angeregt werden sollen, ohne sie abzuschrecken und in zwielichtige Hinterhöfe und unverantwortliche Werkstattkinos zu treiben.
Nicht zu empfehlen ist zu ehrlicher Ausdruck des eigenen Ekels. (Also nicht: »Freaks! Freaks!
Freaks!«) Heische Verständnis, bewahre aber Dein Bewusstsein moralischer Überlegenheit. (Etwa: »Sie, die hier sitzen, sind ja vermutlich solche Filme gewohnt...«
Ä ußere nicht, aber denke: »Tierporno-Gucker!«)
5. Stelle ausreichend Dekontaminations-Säle bereit mit Filmkost, die das Gütesiegel trägt: »Kino ist gut für Dich!« (Genre: Schonungsloser Sozialrealismus.)
5:1 war der Stand vor wie nach dem Auswärtsspiel.
Wobei die fünf Mitglieder des international besetzten Teams »Zuschauer« im Lauf der 77 Minuten Spielzeit immer wieder von Stadiondurchsagen aus der Arena gerufen und durch Neuzugänge ausgewechselt wurde. Während das Team »Moderator« auf seiner einzigen Position durch Michael Stadler besetzt blieb.
Da der Filmfest-Verteidiger sich auf mehr Gegenüber eingestellt hatte, war es ihm ein Leichtes, die Anwesenden auf die 1.800
Plätze in der Public Viewing-Arena am Münchner Flughafen zu verweisen.
Star in der 1-3-1-Aufstellung war der einzige eigens für den Film Referees At Work aus dem fernen Dachau angereiste Zuschauer. In der Dreierkette wurde dafür munter das Kurzpassspiel mit Fachsimpeleien gepflegt.
Es war eine islandgleiche Turnier-Überraschung, im Rahmen eines solchen Großereignisses eine solch persönliche Ansprache und familiäre Stimmung zu finden.