33. Filmfest München 2016
Denn sie wissen zu gut, was sie tun |
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Alessandro Jodorowskys Poesía sin fin – der einzige Film, der wirkliche Lust am Kino verkörperte | ||
(Foto: Wolf Kino GmbH) |
Von Anna Edelmann & Thomas Willmann
Opas Kino ist untot.
Die letzten Filmfest-Jahre hat es einem auf dem Weg ins City-Kino – dem Knotenpunkt des Festivals – aus den Schaufenstern des benachbarten Traditions-Sexshops zugezwinkert. Der extra saisonal Filmplakat-Schauen dekorierte von Alois Brummers ‘70er-Jahre Sex-Klamotten.
Dieses Mal war dieser »Gang der Scham« (wie manche ihn scherzhaft nannten) hinter einem »Bauzaun der Keuschheit« (wie niemand ihn nannte) verborgen. Doch wenn man im Kino
saß, musste man feststellen, dass sich die miefige Mischung aus Scheinfreizügigkeit und Spießbürgertum klammheimlich wieder auf deutsche Leinwände zurückgeschlichen hat.
Nun ist Oliver Rihs' Affenkönig bestimmt davon überzeugt, ein voll krasser, total abgedrehter, mega-subversiver Film zu sein. Leute koksen, es wird gefressen, es wird gesoffen, Männer fahren in Damen-Dessous Radrennen, zwei Frauen küssen sich im Swimmingpool, ein Mann kriegt einen Ständer, weil er nackte Titten sieht, eine notgeile Schwangere isst eine Gurke, Teenager werden pornographischen
Darstellungen aus dem 18. Jahrhundert ausgesetzt, eine der zwei(!) Escort-Damen trägt dekorative(!!) Seil-Bondage, Menschen spielen Ping-Pong (!!!) – und der große Libertin Marquis de Sade wohnte einst nur einen Tagesausflug entfernt. Exzess!
Selbst wenn Affenkönig nicht in allen – wirklich: allen – anderen filmischen Belangen der hoffentliche Tiefstpunkt des Filmfests für
viele Jahre gewesen wäre: Was ihn nach seinen eigenen, permanent propagierten Maßstäben endgültig disqualifiziert, ist die entblößende Spießigkeit, die immer unerträglicher durch sein vorgebliches Wildsein dröhnt.
Der Film kann sich nur deshalb für so verwegen halten, weil er einen abnormal engen Begriff von »Normalität« konstruiert – und jegliche Abweichung davon für so unglaublich lustig und gewagt befindet. Es ist die Übertragung des puritanischen US-Prinzips von
Hangover und Konsorten auf europäisches Kino, das eigentlich aufgeklärter, freier sein sollte – von Körperlichkeit als Lächerlichkeit und Schande, von Lebensgier und Lust als verachtenswerte Übertretung.
Das ist letztlich sogar schlimmer als der säftelnde, verklemmte (aber rückblicken doch irgendwie naive) Voyeurismus der Schulmädchen Jodeln In Der
Juckenden Lederhose Report 15 Filme: Das ist das feige aggressive Feixen von Teenagern, die – in der tiefsitzenden Verunsicherung ihres Selbsts – es für gleichermaßen ausgrenzenswert erachten, Jungfrau zu sein, wie Sex gehabt zu haben.
Diese Rückholung der Ausschweifung ins Bürgerliche, diese letztliche Bestrafung jeglichen Freiheitsdrangs – laut Bericht eines Kollegen z.B. auch in Gleißendes Glück zu beobachten – scheint aber nicht nur ein Phänomen deutscher Filmemacher zu sein. Streckenweise wähnte man sich weniger auf einem Filmfest, das »Leidenschaft« zum diesjährigen Motto ausgerufen hatte, als
auf den Protestantischen Filmtagen München:
Der französische Bang Gang (Regie: Eva Husson) entpuppte sich als eine Art moralinsaure Version von Kids, deren Orgien zum Schrecken der Eltern darin enden, dass alle Verdacht auf Syphillis haben. Safer sex sells! Ein einziger, Jahrzehnte zurückliegender Fehltritt zerstört in Simon Stones The Daughter gleich zwei Familien und treibt die unschuldigste Figur zu einem Selbstmordversuch. Und in Into The Forest von Patricia Rozema wird gleich der gesamten Überflussgesellschaft der Strom abgedreht – und ein allein im Wald lebendes Schwesternpaar in Abwesenheit ihres superkompetenten Papis erst durch eine quälende Kette von Fährnissen bis hin zur
Vergewaltigung zur selbständigen Überlebensfähigkeit und der Rolle als neue Ur-Mütter erzogen.
In den meisten dieser Filme büßt eine junge Generation für die Sünden der Eltern. Und das erklärt auch die Wendung ins Konservative: Wenn Kunst auch immer eine Rebellion gegen ihre Vorgänger ist – wie und wogegen soll die Jugend heute dann aufbegehren, wenn die Alten die Rebellen, Hippies, Punks, Anarchos waren? Freilich nimmt ihr Widerstand dann die Form einer Suche, eines Verlangens nach Ordnung, Stabilität, Regeln an.
Eine Ausnahmeerscheinung war da eine Figur wie der titelgebende Alt-Gangster in dem wohlig stoischen Mr. Six von Hu Guan: Ein Vater, der an einem aus der Zeit gefallenen Ehrenkodex festhält und seinem über die Stränge schlagenden Sohnemann aus der Patsche helfen und neureichen Jung-Gangs ihre Rüpelhaftigkeit austreiben, Respekt beibringen muss.
Und ebenso selten war ein Jungfilmer wie Aron Lehmann, der die lakonische Radikalität seines
maulfaulen Helden nicht zurückpfeift: Der ruinierte Landwirt Huber (Golo Euler) packt Die letzte Sau von seinem Hof in den Moped-Beiwagen und zieht hinaus durch deutsche Lande – wobei ihm eine Revolution passiert. Was da aus dem nordschwäbischen Meteoritenkrater des Nördlinger Ries' zur Ehrenrettung der deutschen Kinokomödie heranbrummt, ist nicht possierliche Dialekt-Posse, sondern
glaubt an die Provinz als Ursprung destabilisierender Kraft. Huber, der eigentlich nur mit maximaler Sturheit Gerechtigkeit für sich sucht und dabei en passant die Fackel an die ganze Ordnung legt, ist freilich eine Kohlhaas-Figur. Es ist, als ob der Regisseur Lehmann sich an eine tatsächliche Adaption des Kleist-Stoffes anpirschen würde – schon in seiner charmanten Mockumentary Kohlhaas
oder die Verhältnismäßigkeit der Mittel hat er vorgeführt, wie man ihn adäquater verfilmt, indem man daran scheitert. Huber war beim diesjährigen Filmfest einer der wenigen Rebellen nicht gegen die Zumutungen liberaler Eltern, sondern der neoliberalen Gegenwart.
Wohingegen selbst ein Film wie Made In France, der die Anschlagsplanungen einer islamistischen Terrorzelle auf französischem Boden vorabphantasiert hat, unerwartet großflächig die historischen und politischen Dimensionen wegradiert und alles auf eine rein persönliche Ebene reduziert. Bezeichnenderweise wird dabei der westlichste der Extremisten getrieben von dem Drang, gegen sein katholisches Elternhaus aufzubegehren. Und wählt dafür nicht den Weg in eine anarchische Radikalität, sondern steigert sich in ein noch rigideres Regelsystem. Nicolas Boukhriefs Film scheut aber selbst vor den Extremen, die sein Gegenstand verlangen würde – er ist ein Film über Terror, der niemandem weh tun möchte; der sich krampfhaft ein Ende herbeikonstruiert, das alles Vorangegangene möglichst konsequenzfrei verpuffen lässt.
Es fehlte nicht nur in diesem Film oft der Glaube an eine Kunst, die einen aus der Bahn werfen soll und kann. Der Wille, sich und das Publikum der Saat einer Idee wirklich auszuliefern, und bedingungslos ihrem Gedeihen auch auf ungesichertes Terrain zu folgen – statt es nach Schablone zu stutzen.
Mehr noch: Dass eine vorangegangene Künstlergeneration diesen Glauben gelebt hat, gilt einem heutigen Film wie The Family Fang anfangs als eine liebevoll
belächelte Kauzigkeit – dann aber zunehmend gar eine Form der Selbstsucht, die bei deren Kindern bleibende Schäden hinterlässt. Da steht ausgerechnet Christopher Walken, dessen bloße Anwesenheit in jeden daran interessierten Film mühelos echtes Wagnis und Wahn tragen kann. Und er spielt einen Performance-Künstler, der in den ‘70er davon überzeugt war, dass er mit seinen Aktionen den kapitalistischen US-Alltag stören und bloßlegen kann. Und dann macht The Family Fang diese Figur so enttäuschend blass, und erklärt ihren Kampf zu einem derart lächerlichen Scharmützel gegen ein eigentlich gutwilliges System. Freilich mag man Walken, Nicole Kidman, Jason Bateman (der hier auch Regie geführt hat). Aber wie harmlos amüsant und nett der Film anzusehen ist, ist letztlich das Perfideste an ihm: Mit seiner Malen-nach-Zahlen-Ästhetik von subversiver Kunst zu erzählen, ist die bitterste Abfuhr, die er einem Versprechen von Freigeist
erteilen kann.
Das ist in Wahrheit ärgerlicher als Filme, die einem während des Anschauens mehr stören – aber dabei wenigstens innere Spannungen offenbaren, die zeigen, dass für sie die Ideale der ‘68er-Generation kein ganz so abgeheftetes Kapitel sind.
Captain Fantastic bekommt seinen Tonfall, seine Haltung gegenüber der Titelfigur nie in den Griff. Mal findet Matt Ross' Film es verschroben
possierlich, mal bewundernswert, dann aber wieder bedrohlich und grenzpsychopathisch, dass Ben (Viggo Mortensen) seine sechs Kinder im Wald fern der dekadenten US-Zivilisation zu autarken, hochgebildeten Menschen und Überlebenskünstlern erziehen will. Gerade aber, als der Film offenbart hat, wie schmerzhaft und zerstörerisch Bens Dogmatismus in Wahrheit ist, reißt er das Ruder herum zu unstimmiger, unverdienter Versöhnlichkeit. Die vollends gruslig wird dadurch, dass
sie buchstäblich über die Leiche der bipolaren Mutter erlangt wird – einer Figur, welcher Captain Fantastic nie eigene Menschlichkeit zugesteht; die er lediglich als Plotmechanik-Zahnrad missbraucht.
Als Abschlussfilm war das leider ein steiles Gefälle zu der Höhe, die der Eröffnungsfilm Toni Erdmann vorgelegt hatte. Der hat eine ähnliche Ambivalenz gegenüber einer Elterngeneration, welche die Leistungsorientiertheit der Jungen fremd und bemitleidenswert empfindet. Aber Maren Ades Film nutzt diese Ambivalenz bewusst und kontrolliert, inszeniert präzise und amüsiert distanziert das Verhältnis zwischen Musiklehrer-Vater und Business Consultant-Tochter. Hier ist nicht der Platz und Moment, den zahllosen Stimmen zu diesem Film einen weiteren ausführlichen Lobgesang hinzuzufügen. Doch unser Aha-Erlebnis war, wie der Film sich gegen die geschürten Erwartungen behaupten kann – wie er auf subtilere, ruhiger versponnene, schonungslos zarte Weise groß ist, als es in der Cannes-Euphorie tönte.
Man kann also nicht behaupten, das Filmfest habe gelogen, als es sich »Leidenschaft« als Motto dieses Jahrgangs auf die Fahnen gestempelt hat. Aber wer sich darin das Versprechen einer freien Sommerliebe erträumte, sah sich enttäuscht. Und bekam statt dessen eher respektablen Aufklärungsunterricht. Denn Leidenschaft war präsent nur als Thema, als Gegenstand – sei es in Spielfilmen über (nachher bestraften) Exzess, oder in braven Dokus über leidenschaftliche Kunst.
Uns
ist nur ein Film begegnet, der wirkliche Lust am Kino verkörperte – der Leidenschaft nicht abbildete, sondern sich ihr ergab, in sie hineinstürzte und von ihr mitreißen ließ: Alessandro Jodorowskys Poesía sin fin – der zweite Teil seiner filmischen Autobiographie, der jene Jugendjahre in Santiago zurückphantasiert, die ihn zum Poeten machten. Dabei ist er sowohl
gegenüber seinem damaligen Selbst als auch in seiner jetzigen Inszenierung gänzlich un-verschämt. Es braucht wohl ausgerechnet einen Ex-Katholiken wie Jodorowsky für eine solche unverklemmte Leiblichkeit. Bei dem dann eben die zwei Sex-Szenen, die auf dem Papier nach gewollter Provokation klingen, nach zum Voyeurismus nicht einladend sondern geradezu auffordernd – die erste Liebesnacht mit der dichtenden Muße, die all jene Lebens-Üppigkeit verkörpert, die dem
Kaufmannssohn vorher fehlte; und der Betrug an seinem Freund mit dessen kleinwüchsigen, menstruierenden Partnerin – etwas Warmes, Intimes, Lustvolles, Menschliches und Geborgenes haben. Der Film ist wild und bunt und radikal (und darin mitunter durchaus auch gefährlich nahe an einer Volkshochschul-Kreativtanztruppe) – aber in seiner ausgestellten Künstlichkeit nie distanziert: Alles ist Ausdruck der Emotionen, die aus dem Strudel der Erinnerung zu den
jeweiligen Ereignissen hochsteigen. Jodorowsky scheut dabei weder vor dem jugendlich naiven Überborden der Lebensfreude zurück, noch vor den Schmerzen jener Momente, die er bis heute bereut.
Poesía sin fin wird für ihn letztlich zur Möglichkeit, sich dem Diktat des unveränderbar Geschehenen zu stellen – und ihm etwas entgegenzusetzen: Der Film endet mit dem
Abschied von seinem Vater. Der in der Realität unversöhnt blieb. Und dem er nun – mit sich und seinem eigenen Sohn sowie Enkel vor der Kamera – jene Worte, Gesten, Berührungen nachreicht, für die er damals zu hochmütig war.
Alessandro Jodorowsky ist mittlerweile 87. Und hat einen der jüngsten Filme des Filmfests 2016 gedreht.
Doch diese Alterswildheit – gegenüber dem Konservatismus der sich gerade etablierenden Filmemacher – ist eben Ausdruck davon, dass er noch immer an der Auseinandersetzung mit seinem sehr rigiden Vater zu knabbern hat. Seine befreiende Rebellion ist genau das, wogegen die jetzige Künstlergeneration aufbegehrt.
Aber da wissen wir, auf welcher Seite wir
als Publikum stehen:
Es lebe Opas Kino!