04.06.2015

»Am Ort der Sehnsucht kann man nie wirklich ankommen.«

Edgar Reitz
Edgar Reitz mit wachem Blick und einer sichtbar verschmitzten Grundhaltung
(Foto: Patrick Ranz)

Edgar Reitz über Sehnsüchte im hohen Alter, Lebensweisheiten seiner Hunsrücker Oma und den fehlenden Willen zum Experiment in vielen Fernsehanstalten

Der Münchner Autoren­filmer Edgar Reitz ist ein Phänomen innerhalb der deutschen Film­land­schaft: Auch mit bald 83 Jahren arbeitet er ohne Pause weiter an seinem welt­berühmten »Heimat«-Zyklus, dessen erster Teil gerade frisch restau­riert wurde. Das zu Beginn der 1980er Jahre begonnene Mammut­werk umfasst mitt­ler­weile 3364 Minuten, mehrere epische Seri­en­for­mate und einen sehr langen Kinofilm: Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht (2013). Jetzt kommt die Heimat 1 in einer digital remas­terten und restau­rierten Kino­fas­sung in die Licht­spiel­häuser. Und es ist soeben die erste, sehr lesens­werte Biografie zur Person, »Thomas Koebner: Edgar Reitz – Chronist deutscher Sehnsucht«, bei Reclam erschienen. Die erste überhaupt, was verwun­dert, da Reitz bereits zu seiner Zeit als Film­do­zent an der legen­dären Ulmer HfG (1963 – 1968) zusammen mit Alexander Kluge die deutsche Film­gram­matik radikal verän­derte und zu den führenden Köpfen des »Ober­hau­sener Manifests« von 1962 gehörte. Zugleich ist er bis heute ein stets aufmerk­samer, sehn­suchts­voller Poeta doctus geblieben, dem es mitt­ler­weile vor allem darum geht, dass Film an deutschen Schulen unter­richtet werden soll. Ebenso wünscht er sich frischen Wind in den deutschen Sende­an­stalten, die sich in seinen Augen zu schwer­fäl­ligen Büro­ti­gern entwi­ckelt haben und überhaupt keine Expe­ri­mente mehr zulassen.

Das Gespräch führte Simon Hauck.

artechock: Herr Reitz, »Sehnsucht« ist ein zentraler Begriff in Ihrem filmi­schen Oeuvre, wenn man es auch in seiner Gesamt­heit betrachtet. Wonach sehnen Sie sich eigent­lich jetzt noch nach einer langen Film­kar­riere? Gibt es so etwas wie ein »Sehn­suchts­ziel«, eine besondere Aufgabe, die Sie unbedingt noch verwirk­li­chen möchten?

Edgar Reitz: Also der Begriff Sehnsucht, wie er hier verwendet wird, auch in dieser Biografie Anm. der Red.: Thomas Koebner: »Edgar Reitz. Chronist deutscher Sehnsucht«, ist ja nicht so konkret gemeint. Er ist auch nicht durch ein ganz bestimmtes Ziel erreichbar. Das ist ja auch das Besondere an diesem roman­ti­schen Begriff. Am Ort der Sehnsucht kann man nie wirklich ankommen. Es gibt dieses wunder­bare Lied von Franz Schubert, wo es heißt: »Da, wo ich nicht bin, da ist das Glück!« D.h., dass das Glück immer nur in einer sehn­suchts­vollen Distanz da ist. Und aus dieser Haltung der Welt gegenüber, beziehe ich eigent­lich, ohne es zu wissen, meine Impulse oder meine Schaf­fens­kraft. Die kommt immer aus dieser Uner­füllt­heit heraus. Nun will ich daraus keine Ideologie machen, aber es hat sich gezeigt, dass die künst­le­ri­schen Ziele und die prak­ti­schen Dinge in der Welt immer etwas Verschie­denes sind.

artechock: Der „Heimat“-Begriff, der für Ihr Schaffen ähnlich wichtig ist, war lange verfemt, weil histo­risch stark konta­mi­niert, sogar noch Jahr­zehnte nach dem Ende der NS-Herr­schaft in Deutsch­land: Sie haben ihn deutlich positiver aufge­wertet. Heute hat sich der „Heimat“-Begriff wiederum stark verändert. Wir leben in einem Zeitalter der Skype-Gespräche und Google-Maps-Karten. Gibt es denn so etwas wie eine persön­liche, quasi „5. Heimat“ in Ihrem jetzigen Leben?

Reitz: Ja, mit dem „Heimat“-Begriff verhält es sich in der Tat ähnlich wie mit der „Sehnsucht“. „Heimat“, das ist zunächst einmal eine Empfin­dung und eine Erin­ne­rung an ein mögli­cher­weise in der Kindheit zurück­lie­gendes Glücks­emp­finden, das man aber zu der Zeit noch nicht benennen konnte. Im späteren Leben gibt man dem dann diesen Namen. Heimat ist kein fester Besitz. Man kann nie sagen: Dieses ist meine uner­schüt­ter­bare Heimat. In dem Moment, wo man das sagt, grenzt man aus. Man grenzt sich ab von allen möglichen anderen und man verschließt die Heimat gegenüber der Welt. Ich habe aber immer die Erfahrung gemacht, dass Heimat oder das Gefühl, zu Hause zu sein, mit einer Offenheit zu tun hat. Es gibt eine Geschichte, die mir ein Leben lang den wirk­li­chen Sinn gezeigt hat: Meine Groß­mutter, die im Hunsrück in einem 300 Jahre alten Bauern­haus lebte, hat in ihrem ganzen Leben nie die Haustür zuge­sperrt. Und als ich eines Tages bei ihr war, da war sie schon 90 Jahre alt, und ich sagte: Groß­mutter, warum machst du nicht die Tür zu? Hast du denn keine Angst? Da sagte sie mir den unver­gess­li­chen Satz: Wenn ich zusperre, kommen die Einbre­cher. Sie hat also die Erfahrung gemacht: Ein offenes Haus ist ein sicheres Haus. Und ein verschlos­senes Haus ist ein unsi­cheres Haus. Das steht ganz klar im Gegensatz zu dem, was wir land­läufig unter Sicher­heit verstehen, aber die Gebor­gen­heit kann nur dort entstehen, wo das Haus offen ist. So empfinde ich das. Und deswegen ist für mich Heimat ein offenes Haus.

artechock: Dieses Vers­tändnis von „Heimat“ inklu­diert also immer auch eine gewisse Utopie?

Reitz: So ist es, ganz klar. Das enthält immer ein utopi­sches Moment. Genau.

artechock: Mich inter­es­siert der „berühmte Winter auf Sylt“, Anfang der 1980er Jahre: Damals waren Sie in einer massiven Lebens- und Schaf­fens­krise. Nach Ihrem furiosen Debüt Mahl­zeiten von 1967 waren viele der nach­fol­genden Filme ohne Verleih – und kommer­ziell auch nicht sonder­lich erfolg­reich. Wie haben Sie damals eigent­lich immer wieder aufs Neue den Impetus gefunden, weiter­zu­ma­chen? Sie hätten ja auch einfach hinschmeißen können!

Reitz: Das ist eine Frage, auf die ich eigent­lich keine Antwort geben kann. Wenn ich das selbst bloß wüsste! Ich habe immer das Gefühl gehabt, wenn ich arbeite, und darunter verstehe ich auch, bewusst produktiv zu sein, dann bleibe ich gesund. Oder anders herum: Wenn ich das nicht tue, werde ich krank. Und das ist viel­leicht auch das bäuer­liche Erbe in mir: Meine Vorfahren, die alle Bauern waren und nur auf dem Land gelebt haben, wenn die wüssten... Die konnten sich Urlaub oder etwas Ähnliches überhaupt nicht vorstellen. Das kannten die auch gar nicht! Die haben ein Leben lang gear­beitet und haben auch in der Arbeit sozusagen »ihre Harmonie« gefunden, zwischen den Kräften, die man hat, und den Aufgaben, vor denen man steht. So war es im Grunde auch für mich: Denn es gibt nichts Schlim­meres als keine Aufgabe zu haben. Nur muss man sie sich selbst stellen, das ist ja klar! (lacht)

artechock: Es gibt gegen­wärtig einen sehr großen Hype um TV-Serien, gerade auch aus den USA. Sie – und zum Beispiel auch Rainer Werner Fass­binder – waren große Pioniere im deutschen Fernsehen, was das serielle Erzählen betrifft. Macht Sie das heute auch ein klein wenig stolz, wenn Sie nun sehen, was sich in diesem Bereich alles getan hat? Wie verfolgen Sie diese Entwick­lung?

Reitz: Seit Beginn der Film­ge­schichte gibt es das, im Grunde in allen Anfängen: Das epische Erzählen zu prak­ti­zieren. Das wider­spricht in erster Linie den Auffüh­rungs­prak­tiken in den Kinos, in denen man im Prinzip das Sprech­theater zu imitieren versucht hat. Dazu gab es feste Anfangs­zeiten, alles musste in zwei Stunden zu Ende sein. Und im Fernsehen ist es ja noch schlimmer: Da hat man ein Programm­schema, in das alles hinein­ge­presst wird. Sogar als die Gattung der Serie im Fernsehen entstanden ist, konnte sie sich dort nicht richtig entfalten, zum Teil sogar über Jahr­zehnte, weil das ja immer Bestand­teil eines abstrakten Programm­schemas war. Und das Epische selbst wider­setzt sich grund­sätz­lich jedem Schema! Weil es von Grund auf in der Lage ist, sich in den Neben­sa­chen der Neben­sa­chen der Neben­sa­chen auszu­weiten. Das ist so wie das Leben! Also wenn Sie beob­achten, wie sich eine Familie nach langer Zeit trifft: Da ist immer zuerst die Rede von denen, die nicht da sind. Und das erste Bedürfnis, das zusammen entsteht, ist, dass keiner vergessen werden darf. Und dieses Gefühl, das keiner vergessen werden darf, ist das eigent­lich epische Gefühl. Deswegen haben sich diese Dinge in den büro­kra­ti­schen Medien nicht verbreiten können.

artechock: Liegt es demnach an den Bedin­gungen des öffent­lich-recht­li­chen Fern­se­hens in Deutsch­land?

Reitz: Ich war mit Heimat deswegen ein Vorreiter, weil ich einfach mal dieses Schema durch­bre­chen konnte. Wenigs­tens für einen Moment, denn die Stücke Anm. der Red.: gemeint sind die einzelnen Teile der ersten Mega-Serie Heimat – Eine deutsche Chronik sind bewusst unter­schied­lich lang: Zwischen zwei­ein­halb Stunden die langen – und einein­halb Stunden die kurzen. Das geht heute gar nicht mehr! Alle Büro­kraten des Fern­se­hens wider­setzen sich dem, weltweit. Nur so konnten diese Serien in den Neben­kanälen des ameri­ka­ni­schen Fern­se­hens entstehen. Und plötzlich ist es bei den jungen Leuten so erfolg­reich, weil die sich voll­kommen abkoppeln vom Fernsehen und von all dem. Die nehmen die DVDs mit in ihre Bude und gucken sich die Dinger auf ihrem Beamer an und können so völlig frei über ihre Zeit verfügen! Da kommt es dann nicht mehr drauf an, ob es mal eine ganz Nacht dauert oder man sich einen ganzen Tag damit um die Ohren schlägt. Diese Freiheit ist das, was ich meine! Die wird sich in einem öffent­lich-recht­li­chen und behör­den­artig geführten Fernsehen nie entfalten können, leider!

artechock: Sie haben einmal so schön gesagt: »Die Filmkunst muss immer die Sprache der Zeit sprechen.« Welche Sprache spricht der deutsche Film im Moment?

Reitz: Damit meine ich eigent­lich nur, dass man offen bleiben muss für alle Entwick­lungen – und es gibt zur Zeit unglaub­lich viele Umschich­tungen: Einmal, worüber ich gerade sprach, diese univer­selle Verfüg­bar­keit, dass man wirklich überall und an jeder Stelle Film anschauen kann. Das geht also von meinem Smart­phone bis zu meinem eigenen Beamer. Von den großen Kinos bis zum Fern­seh­pro­gramm: Es ist eigent­lich alles verfügbar! Und in dieser totalen Verfüg­bar­keit entsteht auf einmal eine Suche wie in einem Dschungel, wie in einem unbe­kannten Riesen­gelände, eine Suche nach den Möglich­keiten. Und da zeigt sich eigent­lich, was die Sprache der Zeit ist... Ich versuche immer heraus­zu­finden, was mich in diesem unglaub­li­chen Riesen­dschungel anspricht. Was ist da neu? Da kann zum Beispiel etwas Uraltes plötzlich ganz neu sein!

artechock: Wird es dann auch das Kino als Dispo­sitiv und gemein­samer Erleb­nisort in Zukunft sehr schwer haben?

Reitz: Das Kino ist natürlich in einem Punkt all den anderen Medien überlegen, weil ich im Kino mit anderen, fremden Menschen gemeinsam in einem abge­dun­kelten Raum sitze. Und von dieser Gemein­schaft geht eine gemein­same Diszi­pli­nie­rung aus: Da haben wir halt keine Fern­be­die­nung in der Hand und wir haben mit der Maus keinen Zugriff auf die Timeline, sondern wir müssen uns dem Rhythmus der Erzählung anver­trauen. Nur so ist eigent­lich eine künst­le­ri­sche Begegnung möglich! Das Werk und das Publikum finden sich auf der Ebene einer gesell­schaft­li­chen Beziehung: Das ist die größte Vertie­fung. Denn die eigent­li­chen Tiefen­schichten der Seele erreicht ein Film nur im Kino, nur in diesem kollek­tiven gesell­schaft­li­chen Anschauen.

artechock: Muss es erst also dunkel sein, damit die Emotionen freien Lauf bekommen?

Reitz: Das Dunkle ist wesent­lich – und diese starke Disziplin, dass ich eben nicht eingreifen kann in dieses Geschehen, sondern mit Respekt zu meinem Mitmen­schen mich dem Ganzen anver­traue.

artechock: In Ihrem Doku­men­tar­film Die Nacht der Regis­seure haben Sie immer davon geträumt, dass München endlich auch einen zentralen Kinoort bekommen sollte, zum Beispiel innerhalb des Münchner Film­mu­seums, was aber nur indirekt funk­tio­niert: Dort werden gute Programme gezeigt und viele Filme vorbild­lich restau­riert, aber ein echter Begeg­nungs- und Ausstel­lungsort ist es nie geworden. Macht Sie das heute traurig?

Reitz: Das Film­mu­seum in München hat diese Rolle nie gespielt. Darunter müsste man irgendwie etwas ganz Neues verstehen. Ich habe das immer wieder versucht zu initi­ieren, aber es hat keine ausrei­chende Resonanz gefunden. In diesem Punkt habe ich mich in München nie vers­tänd­lich machen können. Ich habe diesen Film damals gemacht, auch um zu zeigen, wie es gemeint ist. Aber es blieb eben nur zum Anschauen.

artechock: Dieser Ort bleibt also eine weitere Utopie in ihrem Leben?

Reitz: Ja, leider.

artechock: Im Herbst erscheint zum Beispiel ein Film­pro­to­koll zur Heimat in Buchform als eines Ihren neuen Projekte. Gibt es denn unab­hängig davon weitere Film­pro­jekte, die Sie unbedingt noch reali­sieren wollen?

Reitz: Eine Arbeit ist nun dieses Buch, das ich für den Schüren-Verlag mache. Das ist eine Nach­er­zäh­lung mit lite­ra­ri­schen Mitteln, unter Verwen­dung der Dialoge und des Ablaufes der Kino­fas­sung von Heimat, die etwas anderes ist als die Fern­seh­fas­sung von Heimat, gerade in den Koppe­lungen und Über­gängen. Diese Fassung ist jetzt wieder restau­riert, damit sie auch in die Kinos kommen kann.

artechock: Wird nach dieser Heimat von Ihnen noch etwas in die Kinos kommen?

Reitz: Ich habe immer viele Projekte. Wenn ich immer all die Projekte, die ich fertig entwi­ckelt und nieder­ge­schrieben habe, noch drehen wollte, müsste ich noch ein ganzes Leben haben. (lacht) Aber ich suche mir von denen grund­sätz­lich immer zuerst das aus, was sich am besten reali­sieren lässt. Im Moment sind drei verschie­dene Dinge am Start. Welches davon zum Zuge kommt, weiß ich noch nicht.