»Am Ort der Sehnsucht kann man nie wirklich ankommen.« |
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Edgar Reitz mit wachem Blick und einer sichtbar verschmitzten Grundhaltung | ||
(Foto: Patrick Ranz) |
Der Münchner Autorenfilmer Edgar Reitz ist ein Phänomen innerhalb der deutschen Filmlandschaft: Auch mit bald 83 Jahren arbeitet er ohne Pause weiter an seinem weltberühmten »Heimat«-Zyklus, dessen erster Teil gerade frisch restauriert wurde. Das zu Beginn der 1980er Jahre begonnene Mammutwerk umfasst mittlerweile 3364 Minuten, mehrere epische Serienformate und einen sehr langen Kinofilm: Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht (2013). Jetzt kommt die Heimat 1 in einer digital remasterten und restaurierten Kinofassung in die Lichtspielhäuser. Und es ist soeben die erste, sehr lesenswerte Biografie zur Person, »Thomas Koebner: Edgar Reitz – Chronist deutscher Sehnsucht«, bei Reclam erschienen. Die erste überhaupt, was verwundert, da Reitz bereits zu seiner Zeit als Filmdozent an der legendären Ulmer HfG (1963 – 1968) zusammen mit Alexander Kluge die deutsche Filmgrammatik radikal veränderte und zu den führenden Köpfen des »Oberhausener Manifests« von 1962 gehörte. Zugleich ist er bis heute ein stets aufmerksamer, sehnsuchtsvoller Poeta doctus geblieben, dem es mittlerweile vor allem darum geht, dass Film an deutschen Schulen unterrichtet werden soll. Ebenso wünscht er sich frischen Wind in den deutschen Sendeanstalten, die sich in seinen Augen zu schwerfälligen Bürotigern entwickelt haben und überhaupt keine Experimente mehr zulassen.
Das Gespräch führte Simon Hauck.
artechock: Herr Reitz, »Sehnsucht« ist ein zentraler Begriff in Ihrem filmischen Oeuvre, wenn man es auch in seiner Gesamtheit betrachtet. Wonach sehnen Sie sich eigentlich jetzt noch nach einer langen Filmkarriere? Gibt es so etwas wie ein »Sehnsuchtsziel«, eine besondere Aufgabe, die Sie unbedingt noch verwirklichen möchten?
Edgar Reitz: Also der Begriff Sehnsucht, wie er hier verwendet wird, auch in dieser Biografie Anm. der Red.: Thomas Koebner: »Edgar Reitz. Chronist deutscher Sehnsucht«, ist ja nicht so konkret gemeint. Er ist auch nicht durch ein ganz bestimmtes Ziel erreichbar. Das ist ja auch das Besondere an diesem romantischen Begriff. Am Ort der Sehnsucht kann man nie wirklich ankommen. Es gibt dieses wunderbare Lied von Franz Schubert, wo es heißt: »Da, wo ich nicht bin, da ist das Glück!« D.h., dass das Glück immer nur in einer sehnsuchtsvollen Distanz da ist. Und aus dieser Haltung der Welt gegenüber, beziehe ich eigentlich, ohne es zu wissen, meine Impulse oder meine Schaffenskraft. Die kommt immer aus dieser Unerfülltheit heraus. Nun will ich daraus keine Ideologie machen, aber es hat sich gezeigt, dass die künstlerischen Ziele und die praktischen Dinge in der Welt immer etwas Verschiedenes sind.
artechock: Der „Heimat“-Begriff, der für Ihr Schaffen ähnlich wichtig ist, war lange verfemt, weil historisch stark kontaminiert, sogar noch Jahrzehnte nach dem Ende der NS-Herrschaft in Deutschland: Sie haben ihn deutlich positiver aufgewertet. Heute hat sich der „Heimat“-Begriff wiederum stark verändert. Wir leben in einem Zeitalter der Skype-Gespräche und Google-Maps-Karten. Gibt es denn so etwas wie eine persönliche, quasi „5. Heimat“ in Ihrem jetzigen Leben?
Reitz: Ja, mit dem „Heimat“-Begriff verhält es sich in der Tat ähnlich wie mit der „Sehnsucht“. „Heimat“, das ist zunächst einmal eine Empfindung und eine Erinnerung an ein möglicherweise in der Kindheit zurückliegendes Glücksempfinden, das man aber zu der Zeit noch nicht benennen konnte. Im späteren Leben gibt man dem dann diesen Namen. Heimat ist kein fester Besitz. Man kann nie sagen: Dieses ist meine unerschütterbare Heimat. In dem Moment, wo man das sagt, grenzt man aus. Man grenzt sich ab von allen möglichen anderen und man verschließt die Heimat gegenüber der Welt. Ich habe aber immer die Erfahrung gemacht, dass Heimat oder das Gefühl, zu Hause zu sein, mit einer Offenheit zu tun hat. Es gibt eine Geschichte, die mir ein Leben lang den wirklichen Sinn gezeigt hat: Meine Großmutter, die im Hunsrück in einem 300 Jahre alten Bauernhaus lebte, hat in ihrem ganzen Leben nie die Haustür zugesperrt. Und als ich eines Tages bei ihr war, da war sie schon 90 Jahre alt, und ich sagte: Großmutter, warum machst du nicht die Tür zu? Hast du denn keine Angst? Da sagte sie mir den unvergesslichen Satz: Wenn ich zusperre, kommen die Einbrecher. Sie hat also die Erfahrung gemacht: Ein offenes Haus ist ein sicheres Haus. Und ein verschlossenes Haus ist ein unsicheres Haus. Das steht ganz klar im Gegensatz zu dem, was wir landläufig unter Sicherheit verstehen, aber die Geborgenheit kann nur dort entstehen, wo das Haus offen ist. So empfinde ich das. Und deswegen ist für mich Heimat ein offenes Haus.
artechock: Dieses Verständnis von „Heimat“ inkludiert also immer auch eine gewisse Utopie?
Reitz: So ist es, ganz klar. Das enthält immer ein utopisches Moment. Genau.
artechock: Mich interessiert der „berühmte Winter auf Sylt“, Anfang der 1980er Jahre: Damals waren Sie in einer massiven Lebens- und Schaffenskrise. Nach Ihrem furiosen Debüt Mahlzeiten von 1967 waren viele der nachfolgenden Filme ohne Verleih – und kommerziell auch nicht sonderlich erfolgreich. Wie haben Sie damals eigentlich immer wieder aufs Neue den Impetus gefunden, weiterzumachen? Sie hätten ja auch einfach hinschmeißen können!
Reitz: Das ist eine Frage, auf die ich eigentlich keine Antwort geben kann. Wenn ich das selbst bloß wüsste! Ich habe immer das Gefühl gehabt, wenn ich arbeite, und darunter verstehe ich auch, bewusst produktiv zu sein, dann bleibe ich gesund. Oder anders herum: Wenn ich das nicht tue, werde ich krank. Und das ist vielleicht auch das bäuerliche Erbe in mir: Meine Vorfahren, die alle Bauern waren und nur auf dem Land gelebt haben, wenn die wüssten... Die konnten sich Urlaub oder etwas Ähnliches überhaupt nicht vorstellen. Das kannten die auch gar nicht! Die haben ein Leben lang gearbeitet und haben auch in der Arbeit sozusagen »ihre Harmonie« gefunden, zwischen den Kräften, die man hat, und den Aufgaben, vor denen man steht. So war es im Grunde auch für mich: Denn es gibt nichts Schlimmeres als keine Aufgabe zu haben. Nur muss man sie sich selbst stellen, das ist ja klar! (lacht)
artechock: Es gibt gegenwärtig einen sehr großen Hype um TV-Serien, gerade auch aus den USA. Sie – und zum Beispiel auch Rainer Werner Fassbinder – waren große Pioniere im deutschen Fernsehen, was das serielle Erzählen betrifft. Macht Sie das heute auch ein klein wenig stolz, wenn Sie nun sehen, was sich in diesem Bereich alles getan hat? Wie verfolgen Sie diese Entwicklung?
Reitz: Seit Beginn der Filmgeschichte gibt es das, im Grunde in allen Anfängen: Das epische Erzählen zu praktizieren. Das widerspricht in erster Linie den Aufführungspraktiken in den Kinos, in denen man im Prinzip das Sprechtheater zu imitieren versucht hat. Dazu gab es feste Anfangszeiten, alles musste in zwei Stunden zu Ende sein. Und im Fernsehen ist es ja noch schlimmer: Da hat man ein Programmschema, in das alles hineingepresst wird. Sogar als die Gattung der Serie im Fernsehen entstanden ist, konnte sie sich dort nicht richtig entfalten, zum Teil sogar über Jahrzehnte, weil das ja immer Bestandteil eines abstrakten Programmschemas war. Und das Epische selbst widersetzt sich grundsätzlich jedem Schema! Weil es von Grund auf in der Lage ist, sich in den Nebensachen der Nebensachen der Nebensachen auszuweiten. Das ist so wie das Leben! Also wenn Sie beobachten, wie sich eine Familie nach langer Zeit trifft: Da ist immer zuerst die Rede von denen, die nicht da sind. Und das erste Bedürfnis, das zusammen entsteht, ist, dass keiner vergessen werden darf. Und dieses Gefühl, das keiner vergessen werden darf, ist das eigentlich epische Gefühl. Deswegen haben sich diese Dinge in den bürokratischen Medien nicht verbreiten können.
artechock: Liegt es demnach an den Bedingungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Deutschland?
Reitz: Ich war mit Heimat deswegen ein Vorreiter, weil ich einfach mal dieses Schema durchbrechen konnte. Wenigstens für einen Moment, denn die Stücke Anm. der Red.: gemeint sind die einzelnen Teile der ersten Mega-Serie Heimat – Eine deutsche Chronik sind bewusst unterschiedlich lang: Zwischen zweieinhalb Stunden die langen – und eineinhalb Stunden die kurzen. Das geht heute gar nicht mehr! Alle Bürokraten des Fernsehens widersetzen sich dem, weltweit. Nur so konnten diese Serien in den Nebenkanälen des amerikanischen Fernsehens entstehen. Und plötzlich ist es bei den jungen Leuten so erfolgreich, weil die sich vollkommen abkoppeln vom Fernsehen und von all dem. Die nehmen die DVDs mit in ihre Bude und gucken sich die Dinger auf ihrem Beamer an und können so völlig frei über ihre Zeit verfügen! Da kommt es dann nicht mehr drauf an, ob es mal eine ganz Nacht dauert oder man sich einen ganzen Tag damit um die Ohren schlägt. Diese Freiheit ist das, was ich meine! Die wird sich in einem öffentlich-rechtlichen und behördenartig geführten Fernsehen nie entfalten können, leider!
artechock: Sie haben einmal so schön gesagt: »Die Filmkunst muss immer die Sprache der Zeit sprechen.« Welche Sprache spricht der deutsche Film im Moment?
Reitz: Damit meine ich eigentlich nur, dass man offen bleiben muss für alle Entwicklungen – und es gibt zur Zeit unglaublich viele Umschichtungen: Einmal, worüber ich gerade sprach, diese universelle Verfügbarkeit, dass man wirklich überall und an jeder Stelle Film anschauen kann. Das geht also von meinem Smartphone bis zu meinem eigenen Beamer. Von den großen Kinos bis zum Fernsehprogramm: Es ist eigentlich alles verfügbar! Und in dieser totalen Verfügbarkeit entsteht auf einmal eine Suche wie in einem Dschungel, wie in einem unbekannten Riesengelände, eine Suche nach den Möglichkeiten. Und da zeigt sich eigentlich, was die Sprache der Zeit ist... Ich versuche immer herauszufinden, was mich in diesem unglaublichen Riesendschungel anspricht. Was ist da neu? Da kann zum Beispiel etwas Uraltes plötzlich ganz neu sein!
artechock: Wird es dann auch das Kino als Dispositiv und gemeinsamer Erlebnisort in Zukunft sehr schwer haben?
Reitz: Das Kino ist natürlich in einem Punkt all den anderen Medien überlegen, weil ich im Kino mit anderen, fremden Menschen gemeinsam in einem abgedunkelten Raum sitze. Und von dieser Gemeinschaft geht eine gemeinsame Disziplinierung aus: Da haben wir halt keine Fernbedienung in der Hand und wir haben mit der Maus keinen Zugriff auf die Timeline, sondern wir müssen uns dem Rhythmus der Erzählung anvertrauen. Nur so ist eigentlich eine künstlerische Begegnung möglich! Das Werk und das Publikum finden sich auf der Ebene einer gesellschaftlichen Beziehung: Das ist die größte Vertiefung. Denn die eigentlichen Tiefenschichten der Seele erreicht ein Film nur im Kino, nur in diesem kollektiven gesellschaftlichen Anschauen.
artechock: Muss es erst also dunkel sein, damit die Emotionen freien Lauf bekommen?
Reitz: Das Dunkle ist wesentlich – und diese starke Disziplin, dass ich eben nicht eingreifen kann in dieses Geschehen, sondern mit Respekt zu meinem Mitmenschen mich dem Ganzen anvertraue.
artechock: In Ihrem Dokumentarfilm Die Nacht der Regisseure haben Sie immer davon geträumt, dass München endlich auch einen zentralen Kinoort bekommen sollte, zum Beispiel innerhalb des Münchner Filmmuseums, was aber nur indirekt funktioniert: Dort werden gute Programme gezeigt und viele Filme vorbildlich restauriert, aber ein echter Begegnungs- und Ausstellungsort ist es nie geworden. Macht Sie das heute traurig?
Reitz: Das Filmmuseum in München hat diese Rolle nie gespielt. Darunter müsste man irgendwie etwas ganz Neues verstehen. Ich habe das immer wieder versucht zu initiieren, aber es hat keine ausreichende Resonanz gefunden. In diesem Punkt habe ich mich in München nie verständlich machen können. Ich habe diesen Film damals gemacht, auch um zu zeigen, wie es gemeint ist. Aber es blieb eben nur zum Anschauen.
artechock: Dieser Ort bleibt also eine weitere Utopie in ihrem Leben?
Reitz: Ja, leider.
artechock: Im Herbst erscheint zum Beispiel ein Filmprotokoll zur Heimat in Buchform als eines Ihren neuen Projekte. Gibt es denn unabhängig davon weitere Filmprojekte, die Sie unbedingt noch realisieren wollen?
Reitz: Eine Arbeit ist nun dieses Buch, das ich für den Schüren-Verlag mache. Das ist eine Nacherzählung mit literarischen Mitteln, unter Verwendung der Dialoge und des Ablaufes der Kinofassung von Heimat, die etwas anderes ist als die Fernsehfassung von Heimat, gerade in den Koppelungen und Übergängen. Diese Fassung ist jetzt wieder restauriert, damit sie auch in die Kinos kommen kann.
artechock: Wird nach dieser Heimat von Ihnen noch etwas in die Kinos kommen?
Reitz: Ich habe immer viele Projekte. Wenn ich immer all die Projekte, die ich fertig entwickelt und niedergeschrieben habe, noch drehen wollte, müsste ich noch ein ganzes Leben haben. (lacht) Aber ich suche mir von denen grundsätzlich immer zuerst das aus, was sich am besten realisieren lässt. Im Moment sind drei verschiedene Dinge am Start. Welches davon zum Zuge kommt, weiß ich noch nicht.