64. Berlinale 2014
»Die Internationalität des Kinos gibt es eigentlich von Anfang an« |
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Rückkehr zu den Anfängen des Kinos: Yukinojos Verwandlung | ||
(Foto: Yukinojos Verwandlung) |
Rainer Rother (geb. 1956) ist ein Berliner Filmwissenschaftler und seit 2006 künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek und in diesem Amt Leiter der Retrospektiven der Berlinale. Bereits seit Antritt des Berlinale-Chefs Dieter Kosslick 2001 ist er Mitglied der Auswahlkommission der Berlinale. Rother studierte Germanistik und Geschichte, promovierte 1988 über das Verhältnis von Film und zeitgenössischer Literatur und leitete 1991 bis 2006 die Kinemathek des Deutschen Historischen Museums in Berlin. Er schrieb Bücher und Ausstellungskataloge über (u.a.) Nina Hoss, Leni Riefenstahl, die Ufa und den Ersten Weltkrieg im Kino.
Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland.
artechock: Herr Rother, beginnen wir mit dem allgemeinen Programm der Berlinale, das Sie mit auswählen. Wie können Sie die diesjährige Auswahl inhaltlich und stilistisch charakterisieren?
Rainer Rother: Es ist ein wirklich vielfältiges Angebot. Sehr sehr ungewöhnlich ist natürlich, dass diesmal gleich vier Filme aus Deutschland und vier Filme aus China im Wettbewerb zu sehen sind. Ein politisches oder künstlerisches Statement ist das trotzdem nicht: Die Auswahl reagiert ja auf das, was vorhanden ist. Wir suchen das stärkste Programm. Die deutschen und chinesischen Filme sind jeweils ganz unterschiedlich, sehr verschiedene Handschriften. Mein Eindruck ist, dass es schwer wird, nicht zu glauben, wir hätten eine thematische Festlegung im Kopf gehabt: Es gibt überraschend viele Geschichten mit jungen und jugendlichen Hauptfiguren. Der deutsche Beitrag Jack hat einen neunjährigen Hauptdarsteller – und man ist baff.
artechock: In den letzten Jahren haben viele die Qualität des Wettbewerbs kritisiert. Die Nebensektionen sind stark, gleichen sich aber einander zunehmend an. Sie sind ja auch Filmwissenschaftler. Wie hat sich die Berlinale in den letzten Jahren entwickelt?
Rother: Ich finde, dass sie sich in den letzten Jahren im Wettbewerb mutig entwickelt hat. Es gibt eine große Offenheit gegenüber unbekannten Filmemachern und Regionen, die weniger arriviert sind. Die Präsenz des unabhängigen Films ist in den letzten Jahren gestiegen. Nach meinem Eindruck ist das auch positiv rezipiert worden, weil der Wettbewerb widersprüchlicher wird. Man wird natürlich mit solchen mutigen Entscheidungen auch
verletzlicher. Beim Film eines bekannten Regisseur wird man zum Beispiel sagen: Der neue Haneke. Vielleicht nicht der stärkste Haneke, aber immerhin noch ein Haneke.
Ich habe nicht das Gefühl, dass Panorama und Forum sich sehr ähneln. Bestimmt ist es so, dass die früheren Gräben zwischen den Sektionen zugeschüttet sind. Wir helfen uns gegenseitig – dieser Austausch funktioniert ganz großartig.
artechock: Wie sind die von Ihnen verantworteten Retrospektiven institutionell in der Berlinale verankert? Entscheiden Sie in der Kinemathek allein, oder beteiligt sich Dieter Kosslick aktiv mit am Inhalt?
Rother: Es muss erstmal zu uns passen, und im Fall der Retrospektive auch zum New Yorker »Museum of Modern Art«, mit denen wir eine Partnerschaft eingegangen sind. In New York wird die Schau dann als Filmreihe wiederholt. Dann folgt das Gespräch mit Dieter Kosslick. Der muss sich ja wohl fühlen. Es muss zur Berlinale und auch zu ihm passen. Es hat in den letzten Jahren aber nie Probleme gegeben.
Und dann muss man sehen, wie man das
finanziert. Denn mit der inhaltlichen Entscheidung ist es allein nicht getan. Manche Partner fordern schlicht zu viel Geld. Dann fällt etwas heraus. Hinzu kommen Bedingungen, die ein bisschen irrational sind: Es gibt juristische Sperren.
Die Berlinale-Classics reagieren dagegen ja auf neue Restaurierungen. Die bekommen wir angeboten, und können uns dann aussuchen, was für dieses Jahr für die Berlinale passt.
artechock: Die Retrospektive kreist diesmal um den Einfluss des Kinos der Weimarer Republik, besonders in Fernost...
Rother: Wir haben uns ja seit Jahren mit der Geschichte und Wirkung des deutschen Vorkriegskinos beschäftigt: Es gab Retrospektiven zu Emigranten des Weimarer Kinos wie Lang, Murnau, Siodmak und Pabst, aber auch thematische Schauen. Da fügt sich die diesjährige Retrospektive gut ein. Bei den frühen japanischen Filmen sind die deutschen Einflüsse klar erkennbar.
artechock: Wie haben die Japaner diese Filme überhaupt gesehen? Gab es da ein Verleihsystem, wie heute?
Rother: Die haben etliche dieser Filme ganz normal im Verleih gesehen, Filme von Fritz Lang und Friedrich Wilhelm Murnau etwa. Das war ein Markt, den die Ufa schon ganz gut bedient hat. Auch der amerikanische Einfluss war wichtig, das lag den Japanern erstmal näher. Zudem gab es einen interessanten konkreten persönlichen Einfluss: Der Kameramann Henry Kotani, ein Japaner, der als Kind nach Amerika auswanderte und sich dort seinen Vornahmen zulegte. Er hat zunächst für Cecil B. DeMille gearbeitet, zog dann zurück nach Japan, und drehte frühe japanische Filme für das neu gegründete Shoshiku-Studio.
artechock: Erst letztes Jahr präsentierte die Berlinale-Retrospektive den »Weimar Impact«, also die Wirkung des Kinos der Weimarer Republik. Zusätzlich zur Retrospektive zeigen Berlinale und die von Ihnen geleitete Deutsche Kinemathek die Ausstellung »Licht und Schatten« über das Filmset der Weimarer Republik. Will man hier eine Marke entwickeln? Wollen Sie den ausländischen Gästen der Berlinale diese spezielle Weimarer Tradition vor Augen führen und zeigen: »Das sind wir«, »Das ist der deutsche Film«?
Rother: Ja. Das sind vielleicht nicht »wir«. Und das ist nicht »der« deutsche Film. Aber – und deswegen ist es so schön, dass Ausstellung und Retrospektive nebeneinander präsentiert werden – das Weimarer Kino ist einer der großen Exporterfolge des deutschen Kinos gewesen. Das klassische Kino der Weimarer Republik ist ja ein sehr innovatives und experimentierfreudiges Kino. Und einige Lehren sind dann auch
international befolgt worden. Zum Beispiel die »entfesselte Kamera« und das Erzählen von Geschichten ohne viele Zwischentitel, die Variabilität der Lichtsetzung.
Es war, glaube ich, fällig, den Blick auf die internationalen Verflechtungen früherer Zeiten zu richten. Uns war wichtig, zu sagen: Die Internationalität des Kinos gibt es eigentlich von Anfang an.