06.02.2014
64. Berlinale 2014

»Die Inter­na­tio­na­lität des Kinos gibt es eigent­lich von Anfang an«

Yukinojos Verwandlung
Rückkehr zu den Anfängen des Kinos: Yukinojos Verwandlung
(Foto: Yukinojos Verwandlung)

Man ist baff: Berlinale-Kurator Rainer Rother über das diesjährige Programm, Filme mit jugendlichen Hauptdarstellern und das innovatives und experimentierfreudige Kino der Vergangenheit

Rainer Rother (geb. 1956) ist ein Berliner Film­wis­sen­schaftler und seit 2006 künst­le­ri­scher Direktor der Deutschen Kine­ma­thek und in diesem Amt Leiter der Retro­spek­tiven der Berlinale. Bereits seit Antritt des Berlinale-Chefs Dieter Kosslick 2001 ist er Mitglied der Auswahl­kom­mis­sion der Berlinale. Rother studierte Germa­nistik und Geschichte, promo­vierte 1988 über das Verhältnis von Film und zeit­genös­si­scher Literatur und leitete 1991 bis 2006 die Kine­ma­thek des Deutschen Histo­ri­schen Museums in Berlin. Er schrieb Bücher und Ausstel­lungs­ka­ta­loge über (u.a.) Nina Hoss, Leni Riefen­stahl, die Ufa und den Ersten Weltkrieg im Kino.

Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland.

artechock: Herr Rother, beginnen wir mit dem allge­meinen Programm der Berlinale, das Sie mit auswählen. Wie können Sie die dies­jäh­rige Auswahl inhalt­lich und stilis­tisch charak­te­ri­sieren?

Rainer Rother: Es ist ein wirklich viel­fäl­tiges Angebot. Sehr sehr unge­wöhn­lich ist natürlich, dass diesmal gleich vier Filme aus Deutsch­land und vier Filme aus China im Wett­be­werb zu sehen sind. Ein poli­ti­sches oder künst­le­ri­sches Statement ist das trotzdem nicht: Die Auswahl reagiert ja auf das, was vorhanden ist. Wir suchen das stärkste Programm. Die deutschen und chine­si­schen Filme sind jeweils ganz unter­schied­lich, sehr verschie­dene Hand­schriften. Mein Eindruck ist, dass es schwer wird, nicht zu glauben, wir hätten eine thema­ti­sche Fest­le­gung im Kopf gehabt: Es gibt über­ra­schend viele Geschichten mit jungen und jugend­li­chen Haupt­fi­guren. Der deutsche Beitrag Jack hat einen neun­jäh­rigen Haupt­dar­steller – und man ist baff.

artechock: In den letzten Jahren haben viele die Qualität des Wett­be­werbs kriti­siert. Die Nebensek­tionen sind stark, gleichen sich aber einander zunehmend an. Sie sind ja auch Film­wis­sen­schaftler. Wie hat sich die Berlinale in den letzten Jahren entwi­ckelt?

Rother: Ich finde, dass sie sich in den letzten Jahren im Wett­be­werb mutig entwi­ckelt hat. Es gibt eine große Offenheit gegenüber unbe­kannten Filme­ma­chern und Regionen, die weniger arriviert sind. Die Präsenz des unab­hän­gigen Films ist in den letzten Jahren gestiegen. Nach meinem Eindruck ist das auch positiv rezipiert worden, weil der Wett­be­werb wider­sprüch­li­cher wird. Man wird natürlich mit solchen mutigen Entschei­dungen auch verletz­li­cher. Beim Film eines bekannten Regisseur wird man zum Beispiel sagen: Der neue Haneke. Viel­leicht nicht der stärkste Haneke, aber immerhin noch ein Haneke.
Ich habe nicht das Gefühl, dass Panorama und Forum sich sehr ähneln. Bestimmt ist es so, dass die früheren Gräben zwischen den Sektionen zuge­schüttet sind. Wir helfen uns gegen­seitig – dieser Austausch funk­tio­niert ganz großartig.

artechock: Wie sind die von Ihnen verant­wor­teten Retro­spek­tiven insti­tu­tio­nell in der Berlinale verankert? Entscheiden Sie in der Kine­ma­thek allein, oder beteiligt sich Dieter Kosslick aktiv mit am Inhalt?

Rother: Es muss erstmal zu uns passen, und im Fall der Retro­spek­tive auch zum New Yorker »Museum of Modern Art«, mit denen wir eine Part­ner­schaft einge­gangen sind. In New York wird die Schau dann als Filmreihe wieder­holt. Dann folgt das Gespräch mit Dieter Kosslick. Der muss sich ja wohl fühlen. Es muss zur Berlinale und auch zu ihm passen. Es hat in den letzten Jahren aber nie Probleme gegeben.
Und dann muss man sehen, wie man das finan­ziert. Denn mit der inhalt­li­chen Entschei­dung ist es allein nicht getan. Manche Partner fordern schlicht zu viel Geld. Dann fällt etwas heraus. Hinzu kommen Bedin­gungen, die ein bisschen irra­tional sind: Es gibt juris­ti­sche Sperren.
Die Berlinale-Classics reagieren dagegen ja auf neue Restau­rie­rungen. Die bekommen wir angeboten, und können uns dann aussuchen, was für dieses Jahr für die Berlinale passt.

artechock: Die Retro­spek­tive kreist diesmal um den Einfluss des Kinos der Weimarer Republik, besonders in Fernost...

Rother: Wir haben uns ja seit Jahren mit der Geschichte und Wirkung des deutschen Vorkriegs­kinos beschäf­tigt: Es gab Retro­spek­tiven zu Emigranten des Weimarer Kinos wie Lang, Murnau, Siodmak und Pabst, aber auch thema­ti­sche Schauen. Da fügt sich die dies­jäh­rige Retro­spek­tive gut ein. Bei den frühen japa­ni­schen Filmen sind die deutschen Einflüsse klar erkennbar.

artechock: Wie haben die Japaner diese Filme überhaupt gesehen? Gab es da ein Verleih­system, wie heute?

Rother: Die haben etliche dieser Filme ganz normal im Verleih gesehen, Filme von Fritz Lang und Friedrich Wilhelm Murnau etwa. Das war ein Markt, den die Ufa schon ganz gut bedient hat. Auch der ameri­ka­ni­sche Einfluss war wichtig, das lag den Japanern erstmal näher. Zudem gab es einen inter­es­santen konkreten persön­li­chen Einfluss: Der Kame­ra­mann Henry Kotani, ein Japaner, der als Kind nach Amerika auswan­derte und sich dort seinen Vornahmen zulegte. Er hat zunächst für Cecil B. DeMille gear­beitet, zog dann zurück nach Japan, und drehte frühe japa­ni­sche Filme für das neu gegrün­dete Shoshiku-Studio.

artechock: Erst letztes Jahr präsen­tierte die Berlinale-Retro­spek­tive den »Weimar Impact«, also die Wirkung des Kinos der Weimarer Republik. Zusätz­lich zur Retro­spek­tive zeigen Berlinale und die von Ihnen geleitete Deutsche Kine­ma­thek die Ausstel­lung »Licht und Schatten« über das Filmset der Weimarer Republik. Will man hier eine Marke entwi­ckeln? Wollen Sie den auslän­di­schen Gästen der Berlinale diese spezielle Weimarer Tradition vor Augen führen und zeigen: »Das sind wir«, »Das ist der deutsche Film«?

Rother: Ja. Das sind viel­leicht nicht »wir«. Und das ist nicht »der« deutsche Film. Aber – und deswegen ist es so schön, dass Ausstel­lung und Retro­spek­tive neben­ein­ander präsen­tiert werden – das Weimarer Kino ist einer der großen Export­erfolge des deutschen Kinos gewesen. Das klas­si­sche Kino der Weimarer Republik ist ja ein sehr inno­va­tives und expe­ri­men­tier­freu­diges Kino. Und einige Lehren sind dann auch inter­na­tional befolgt worden. Zum Beispiel die »entfes­selte Kamera« und das Erzählen von Geschichten ohne viele Zwischen­titel, die Varia­bi­lität der Licht­set­zung.
Es war, glaube ich, fällig, den Blick auf die inter­na­tio­nalen Verflech­tungen früherer Zeiten zu richten. Uns war wichtig, zu sagen: Die Inter­na­tio­na­lität des Kinos gibt es eigent­lich von Anfang an.