64. Berlinale 2014
Im Grand Hotel Abgrund |
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Phänomenaler Auftritt Ivo Pitzckers in: Jack | ||
(Foto: Camino/Filmagentinnen) |
2014 ist ja die Artechock-Berlinale. Denn wenn einem die Filme nicht gefallen, dann müssen die Kritiker eben selber Filme machen: Thomas Willmanns Romandebüt Das finstere Tal ist verfilmt worden und läuft als »Berlinale-Special«. Anja Marquardt hat ihren ersten Lang-Film gemacht: She’s Lost Control über eine New Yorker Sextherapeuthin. Wir sind sehr gespannt, werden berichten. Und ich selbst habe einen Fernsehdokumentarfilm zu dem restaurierten Klassiker Das Cabinet des Dr. Caligari gedreht.
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Wenn es was zu meckern gibt – und es gibt ja immer was zu meckern – dann zu Beginn der Berlinale dies: Berlin macht Cannes nach. Vor zwei Jahren eröffnete ein Wes-Anderson-Film die Croisette, in diesem eröffnet ein Wes-Anderson-Film die Berlinale. Vor einem Jahr saß Christoph Waltz in der Golden-Palmen-Jury, in diesem Jahr sitzt Christoph Waltz in der Berlinale-Jury. Schon vor Jahren liefen in Cannes und Venedig TV-Miniserien, jetzt behauptet die Berlinale, man würde »als
erstes A-Filmfestival« einen Ort für Fernsehserien einräumen. (Wobei da sowieso die Frage ist, ob man damit nicht nur das Kino, den »Markenkern« der Berlinale, um es mal im PR-Deutsch auszudrücken, marginalisiert). Schon seit Jahren gibt es in Cannes die »Cannes Classics«, seid drei Jahren gibt es jetzt die »Berlinale Classics«.
Andererseits stimmt das auch nicht, denn trotz solcher einzelner Abpausaktionen, die nur die längst bekannte Einfallslosigkeit der
Berlinale-Entscheider noch einmal bestätigen, kommt die Berlinale an Cannes natürlich nicht ran, jedenfalls nicht solange Dieter Kosslick und der von ihm vertretene Populismus-Kurs den Ton angeben.
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Nachsicht ist so ein schönes Wort, sagt eine Produzentin.
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Auch sonst gilt: Die Berlinale orientiert sich an Cannes, ohne es konsequent zu imitieren, tut immer so, als wolle man ja eh was ganz anderes leisten, um dann aber doch ein bisserl Cannes zu spielen. Erklären, was denn das andere wäre, konnte Kosslick sowieso noch nie. Er sagt dann sein Lieblingswort »Publikumsfestival«, wie ein Mantra, als ob das irgendetwas erklären würde. Tatsächlich hechelt dieses Festival hilflos und ohne Orientierung hinterher, schafft es offenbar nicht, aus eigener Kraft irgendeinen Erfolg zu verbuchen, und auf irgendeine eigenständige Idee zu kommen.
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Ein guter Eröffnungsfilm, besser als viele Vorgänger, und subtil beziehungsreich. Anderson entfaltet in seinem neuen Film ein schönes Spiel der Referenzen. Irgendwie natürlich der schöne Traum eines Amerikaners von Europa, besonders Osteuropa, voller Nostalgie und Sinn für Verluste. Eine Zeitreise von der Gegenwart über 1985, 1963 bis ins Jahr 1932. Dort spielt die Geschichte von Mr. Zero Mustafa, der Diener im Hotel wird, und an der Seite des Butlers allerhand erlebt.
Eine
nostalgische burlesk-verspielte Tragikomödie, die das Publikum durch Ralph Fiennes in einer wunderbaren Hauptrolle und tolle Nebendarsteller, wie Bill Murray als gewieften Hotelportier ebenso mitriss, wie durch seine atemlose Handlung. Der Film ist sehr unterhaltsam, aber auch hastend, atemlos, ohne einen Augenblick des Innehaltens. Mehr Ruhe, mehr Poesie wäre besser gewesen. Anderson baut seine üblichen Puppenstubensets, und bleibt ein großes Kind: undiszipliniert, an den
Klamotten seiner Barbiepuppen mehr interessiert, als an narrativer Substanz. Aber der Film bietet hübsche alternative Geschichtsschreibung, die uns an die Schönheit Alteuropas erinnert, bei dem ein Ozeandampfer »Queen Nastassja« heißt und eine Kolonie Holländisch-Tanganijka, eine Krankheit »die preußische Grippe.« Letzteres fand ein befreundeter Franzose geschmacklos. Er sagte, man könne nicht eine Komödie über das Zeitalter des Faschismus machen, und von Lagern und Toten
schweigen. Mir scheint, dass das der Film keineswegs tut. Dass er vielmehr versucht im Geiste von Lubitsch und Chaplin die Dämonie des Untergangs europäischer Kultur auf andere Weise ins Zentrum zu rücken. Ich sehe hier mehr eine subtile, gute, eindrückliche Betrachtung über die Natur des Faschismus, über Todesschwadronen und die alltägliche Barbarei, die Zerstörung der Anmut. Und das hat natürlich etwas mit der Gegenwart zu tun, mit einem Filmfestival im Auge des PR-Hurrikans. Wo
bleibt die Kinokunst, wenn alle nur verkaufen wollen?
Das Grand Budapest Hotel ist ein »Grand Hotel Abgrund«, in dem wir alle sitzen, wartend auf ein Wunder.
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Hoffentlich betrifft das nicht nur uns, die Kommissare vom Stil-Syndikat und der ästhetischen Avantgarde. Im Anderson-Film finden sich übrigens auch schöne Sätze: »Never be jealous in this life. This is disgraceful and beneath the standards of the Grand Budapest.« Oder: »Unhöflichkeit ist nur ein Ausdruck von Angst.« Alle wollten doch eigentlich nur geliebt werden. Wohl wahr.
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»Unhöflichkeit ist nur ein Ausdruck von Angst.« Das gibt uns das Stichwort für Anke Engelke. Diese Moderatorin war schon immer ein Anlass zum Fremdschämen, und wenn es keinen anderen Grund gäbe, sich endlich das überfällige Ende der Ära Dieter Kosslicks als Berlinale-Chef herbeizuwünschen, dann sie. Sie macht zotige oder dumme »Witze«, ist unvorbereitet – aber Kosslick lässt es zu. Sie streichelt Julian Schnabel übern Kopf und sagt »Ahhh watt ar ju duing afterwards?«. Sie moderiert Nina Hoss an mit der Bemerkung: »Die Schauspielerin, die ich am liebsten in Nymphomaniac gesehen hätte«, fragt dann: »Was machen Sie denn hier?« – Antwort: »Ja, irgendwer wird mich schon hingesetzt haben.« Sie fragt Tilda Swinton: »Als was sind Sie denn hier?« Und so weiter... Anke Engelke ist kultur- und stillos, schrill, peinlich zum in den Boden schämen – da wünscht man sich die Zeiten zurück, als man Leute wie Engelke noch nicht mal in den Berlinale-Palast reingelassen hätte. Aber Kosslick stellt sie auf die Bühne.
Anke Engelke ist wie obergäriges Bier – man fragt sich nur, welche Drogen sie wohl genommen hat, nicht ob. So war diese Eröffnungsveranstaltung eine einzige menschenverachtende zynische Peinlichkeitsorgie – und wenn schon einer wie Kosslick den deutschen Film und das Kino derart verachtet, dass er Engelke zulässt, wie soll dann irgendetwas gut sein auf der Berlinale?
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Die positivste Überraschung dieses Eröffnungsabends war aber Monika Grütters, die neue Kulturstaatsminiserin. Bei ihrem ersten Berlinale-Auftritt setzte sie deutlich andere Akzente als ihr – recht industriefreundlicher – Vorgänger Bernd Neumann. Grütters forderte die Filmkünstler zu »Kritik und Ungeduld« auf, Künstler sollten eine Unruhepol in einer zu selbstzufriedenen Gesellschaft sein.
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Solche Unruhe trieb offenbar Edward Berger (Regie) und Nele Müller-Stöven (Drehbuch), die beiden Schöpfer von Jack. Dieser Film eines bisher völlig unbekannten Filmemachers ist der erste von vier deutschen Wettbewerbsbeiträgen, und hatte am Freitagabend Premiere: Im Zentrum steht die neunjährige Titelfigur, ein Junge der am Stadtrand von Berlin allein mit seinem jüngeren Bruder von seiner sehr jungen Mutter erzogen wird. Deren Überforderung und unglückliche Zufälle sorgen dafür, dass er im Heim landet. In den Ferien verpasst die Mutter den Abholtermin, Jack reißt aus und irrt allein durch die Metropole, um die Mutter zu finden... Jack besticht zunächst einmal durch den phänomenalen Auftritt des Kinderdarstellers Ivo Pitzcker. Wie ein Profi verfügt er souverän über alle Gefühlfacetten seiner Figur. Die muss allerhand durchmachen – zwischendurch erinnert man sich an den Film Der Junge mit dem Fahrrad der Brüder Dardenne, der der Film auch äußerlich ähnelt: In seinem Sozialrealismus, in seiner subjektiven Kamera und der Konzentration auf eine Hauptfigur, in dem Passionsweg, den diese gehen muss. Doch kann der Film das hohe Niveau einzelner Momente und Szenen nicht über die ganze Spielfilmlänge halten: Dass einiges an der Geschichte konstruiert ist, könnte man jedem Film vorwerfen. Der eigentliche Mangel liegt darin, dass die Konstruktion zu leicht durchschaubar war. So bleibt ein starkes Debüt, aber auch ein Film mit Mängeln, dessen implizite politische Botschaft – die überforderten alleinstehenden Mütter sind schuld, in den Institutionen geht’s den Kindern besser – auch nicht jeder teilen wird.
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»Geh weg!« – »Du bist der Böse« – zwei Männer unterhalten sich. Wir glauben, sie gut zu kennen, nicht nur weil die beiden von Jürgen Vogel und Moritz Bleibtreu gespielt werden. Aber irgendetwas ist anders. Und wir Zuschauer denken, alles bald zu verstehen: Der eine, gespielt von Vogel, hat offenkundig eine üble Vergangenheit und will irgendwo auf dem grünen Land mit blonder Freundin, süßer Stieftochter und einer Autowerkstatt ein neues Leben anfangen. Und der andere, gespielt von Moritz Bleibtreu, ist sein Hirngespinst – die fleischgewordene Verkörperung der abgekapselten Vergangenheit. Ganz so klar ist alles dann aber doch nicht, und diese spannende Geschichte von der Wiederkehr des Verdrängten mischt Stil- und Erzählelemente von David Finchers Fight Club mit denen eines Hongkong-Gangsterfilm. Stereo heißt dieser zweite Film des Regisseurs Maximilian Erlenwein, der vor ein paar Jahren mit seinem Debüt Schwerkraft den Max-Ophüls-Preis gewann. Stereo ist ein bisschen deutlicher ein Genrefilms geworden, eine ungewöhnliche Arbeit für das deutsche Kino, in dem Gangster und Polizisten meist dem Fernsehen vorbehalten bleiben. Es ist auch ein wenig ein Jungsfilm über harte Männer, schöne, oft leichtbekleidete Frauen, es wird geprügelt und geballert, Motorrad gefahren und flotte Sprüche geklopft – insgesamt ein sehr gelungenes Werk im Berlinale »Panorama«, der größten und vielfältigsten unter den vielen Sektionen der Berlinale.