64. Berlinale 2014
Museum Hours |
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Johannes Holzhausens Das große Museum | ||
(Foto: NAVIGATOR FILM) |
Von Anna Edelmann & Thomas Willmann
Wir heißen Sie willkommen zu unserem kleinen Rundgang durch die 64. Jahresausstellung des Berlinaleums hier am malerischen Potsdamer Platz. Wir freuen uns, Sie trotz des ungewohnt schönen Wetters hier bei uns im Dunklen begrüßen zu dürfen. Bitte haben Sie Verständnis, dass wir Ihnen in der Kürze der Zeit nur einen repräsentativen Eindruck in unsere Sammlung bieten können, anhand einiger weniger unserer über 400 Exponate.
Wir bitten Sie nun, Ihre Mobiltelefone auszuschalten
und uns zu folgen.
Bevor wir nun gleich den ersten Saal betreten, möchten wir Sie um besondere Vorsicht ersuchen. Stolpern Sie nicht in die Löcher im Parkett. Diese stammen von einer praktischen Demonstration der Verwendungsweise unseres ersten Ausstellungsstücks.
Eine Spitzhacke
aus: Das große Museum
Kunsthistorisches Museum Wien, am Aufbruch in die Postmoderne
Wie Sie sehen, eignet sich dieses Instrument der Zerstörung hervorragend dafür, veraltete Grundlagen aufzubrechen und Freifläche zu schaffen für kommerziell einträglichere Kunstvermittlung. Besonderes Augenmerk möchten wir lenken auf die raffinierte Balance, die dabei gehalten wird zwischen vermeintlich zeitlosem, historischem Erbe und spätkapitalistischer Marktwirtschaft, zwischen Schätzen der Menschheitsgeschichte und Wertschätzung der Geschichten individueller Menschen. Am besten betrachten Sie dieses Phänomen mit etwas ironischem, aber liebevollem Abstand.
Wie wir sehen, befinden sich auch jüngere Besucher unter uns. Auf die mag unser nächstes Exponat vielleicht etwas verängstigend wirken. Aber denkt Euch nichts, schaut nur hin, dann seht Ihr ganz deutlich, dass das alles gar nicht echt ist.
Zwei Babypuppen
aus: Shadow Days (GUI RI ZI)
Chinesische Bergprovinz, ca. 2013
Das erste der beiden Artefakte befindet sich in offenbar schlechtem Erhaltungszustand. Man erkennt Bissspuren von Straßenkötern – ein überdeutlicher Hinweis auf anklagenswerte Lebensumstände.
Die zweite Puppe, Fabrikat »Baby Un-Born«, weist eine kunsthandwerkliche Applikation von Kunstblut sowie eine Öse und Angelschnur auf, die anscheinend als Schwebe- und Schwenkvorrichtung dienten.
Beide Exponate zeugen von einer für die Region typischen
Symbolschwangerschaft und dem gescheiterten Versuch eines dort heimischen Künstlers, auf die brutalen Auswirkungen der Ein-Kind-Politik hinzuweisen.
Und gell... wie heißt Du denn, Kleine? Anke! Also, Anke: Auch wenn Dein großer Bruder manchmal frech zu Dir ist – sei froh, dass Du überhaupt ein Geschwisterlein hast!
Begeben wir uns in den nächsten Raum – bleiben aber bei der sozialen Kälte. Die wir hier in ihrer japanischen Variante vorfinden, gepaart mit der realen Kälte Minnesotas.
Eine VHS-Kassette von FARGO und eine handgestickte Schatzkarte
aus: Kumiko, The Treasure Hunter
Japanisch-amerikanisches Winter Wonderland, 1996, 2001, 2003, 2014
Zum besseren Verständnis vielleicht ein paar Worte zum historischen Hintergrund: 1996 versahen die Gebrüder Coen ihr Lichtspiel FARGO mit der – inzwischen als fingiert enttarnten – Vorbemerkung »This is a true story«. 2001 beging die Japanerin Takako Konishi unweit Fargos Selbstmord – was in den Medien zu der Legendenbildung führte, sie sei auf der leichtgläubigen Suche nach dem Geldkoffer, der am Ende des Films herrenlos im Schnee vergraben auf einen neuen
Besitzer wartet, tragischerweise erfroren. Wer sich für diesen realen Fall interessiert: Im Museumsshop finden sie die Dokumentation THIS IS A TRUE STORY von Paul Berczeller.
Die hier präsentierten Objekte stellen eine gewollt skurrile Interpretation der puren Legende dar. Man erkennt an ihnen zwanglos die verharmlosenden, verniedlichenden Züge und die unelegant applizierte Sozialkritik naiver Kunst.
Die Artefakte dienen heute nur noch als eindringliche Warnung an
Kunstschaffende vor leichtfertigen Wahrheitsbehauptungen: »Willst Du Dein Publikum behalten, darfst nicht die Wahrheit umgestalten!«
Im Zuge der vorhin bereits erwähnten Renovierung wird die VHS-Kassette demnächst durch eine DVD ersetzt.
Anke – eine DVD war so etwas, damit hat man früher Filme angeschaut, bevor es Streaming gab!
Doch nun lassen Sie uns freundlichere Töne anstimmen.
Ein Notenblatt mit einem Marsch-Thema
aus: The Monuments Men
Land of the Free, Home of the Brave, (Faksimile, 2013)
Wer kann von Ihnen Noten lesen? Würden Sie das einmal vorpfeifen?
Danke, sehr schön. Jetzt, wo wir alle die Melodie im Ohr haben – und zwar für den Rest des Tages: Wen erinnert sie denn an etwas?
Ja, die kleine Anke? Trau Dich ruhig!
Nein, leider, die Katze aus »Peter und der Wolf« ist es nicht. Schon ähnlich, aber doch andere Intervalle. Aber fein, dass Du Dich mit Klassik so gut auskennst!
Sonst wer? Nein? Hat niemand amerikanische, britische und französische
Kriegsfilme der 1950er und 1960er gesehen? The Guns of Navarone? The Great Escape? The Dam Busters? Die große Sause? Niemand, wirklich?
Ah, dann verstehen Sie freilich nicht, auf welche Kunstgattung sich dieses Exponat bezieht und tun sich schwer, seinen
nostalgisch-heroischen Esprit zu würdigen.
Aber das folgende Geräusch kennen Sie bestimmt!
Gell, dieses Rattern kommt Ihnen vertraut vor.
Eine Bolex-Kamera
aus: Is The Man Who Is Tall Happy?
Am Grenz übergang der Welten von Noam Chomsky und Michel Gondry, 24x/Sekunde
Natürlich können wir auf einem so kursorischen Streifzug einem solch komplexen Thema nicht gerecht werden – Interessierte finden weiterführende Lektüre ausliegen, wenn Sie das Museum durch den Geschenkshop verlassen. Dort können Sie auch unsere aus recycleten PVC-Flaschen gewebten Berlinaleum-Taschen in Hollundergrau mit Aufdruck wahlweise in Rot, Blau, Lila oder Telekom käuflich erwerben.
Den meisten von Ihnen dürfte Noam Chomsky zumindest als politischer Aktivist
bekannt sein – diese Arbeit aber beschäftigt sich vornehmlich mit seinem Wirken als Linguist. Zentral ist hier vor allem eine seiner Theorien, die der »psychic continuity«, in der es um die Kontinuität kognitiver Entitäten geht, die unabhängig ist von noch so radikalen Wandlungen derer äußeren Eigenschaften. Und woran erinnert das? Lauter einzelne, aufeinanderfolgende Bilder, die wir dennoch als etwas Zusammenhängendes, Belebtes, Identisches empfinden? Nun, natürlich an
den Film mit seinen Einzelbildern – und insbesondere an den Animationsfilm!
Und das ist auch die erstaunlich sinnfällige Verbindung zwischen dem Intellektuellen Chomsky und dem Träumer Michel Gondry, auch wenn es sprachlich zwischen ihnen gewisse Hürden gibt. Und die Bolex-Kamera entpuppt sich als gutgetarntes Zeitmessobjekt, das zur animierten Unterhaltung zwingt.
Aber gell, das war einigen von Ihnen jetzt zu intellektuell! Drum wenden wir uns nach rechts, zu leichter Genießbarem. In unserer nächste Vitrine sehen Sie gleich zwei, sich ähnelnde Exponate.
Eine rosane Schachtel der Confiserie Mendl
(vermutlich handgefertigt von Willem Dafoe)
aus: The Grand Budapest Hotel
Stefan Zweigs k. und k.-Welt, getr äumt
Eine rosane Geschenkbox
aus: Kraftidioten
Norwegischer Sozialstaat, heute, bzw. gestern oder morgen – time slows when it snows
Lassen Sie sich nicht von dem charmanten, zuckerbäckerischen Äußeren täuschen: Es repräsentiert eine Welt der verlorenen Unschuld und des längst dekadenten Luxus'. Ihr Inneres offenbart eine härtere Wirklichkeit.
Weil selbst die Gefängniswärter die filigrane Illusion nicht zerstören wollen, taugt das Mendlsche Naschwerk als Schmuggelbehältnis für das Ausbruchswerkzeug. Und die Hauptsache bei den norwegischen Gangstern ist der nett verpackte Versuch der Versöhnung,
auch wenn er inhaltlich die etwas ungustiöse Form eines nunmehr buchstäblich kopflosen Mitarbeiters annimmt – es herrscht Höflichkeit unter Barbaren.
Betrachtet man beide Ausstellungsstücke gemeinsam, eröffnet sich einem die Kontinuität eines Strebens des organisierten Verbrechens nach präsentablen Umgangsformen.
Ah, eine Zwischenfrage von dem Herren dort? Wie?
Ein Karton voll Gerümpel
Arbeitstitel: The Midnight After
Hong Kong, nahe Zukunft
unkatalogisiert
Nein, dieser überquellenden Spielzeugkiste müssen Sie keine Beachtung schenken. Da hat ein eigentlich arrivierter Künstler sich an einem postmodernen Genrewerk versucht, ist aber über die umfangreiche Materialsammlung nicht hinausgekommen. Wir wissen nicht wirklich, was wir damit anfangen sollen. Wir lassen sie da jetzt erstmal stehen, in der Hoffnung, dass er sie abholen wird.
Nun kommen wir auch schon zum Ende unserer kleinen Führung. Wir hoffen, Sie hat Ihnen gefallen, und wir konnten Ihnen einen Eindruck vermitteln unserer Sammlung bewegter Bilder.
Vor sich sehen Sie unser finales Ausstellungsstück.
Historia Del Miedo
Eine Problemlandschaft jenseits unseres Interesses, nicht enden wollend
Zu Ihrer Rechten und Linken erkennen Sie den heimeligen Schein unserer Notausgangsbeschilderung. Wir verstehen Ihre Eile angesichts des unverdaulichen lateinamerikanischen Symbolismus', möchten Sie aber bitten, aus Rücksichtnahme auf die kleine Selektion an Spezialisten, die noch verbleiben will, nicht alle gleichzeitig zum Ausgang zu drängen. Verlassen Sie den Saal bitte geordnet in Gruppen zu drei bis vier Personen.
Wir würden uns freuen, Sie nächstes Jahr wieder bei uns begrüßen zu dürfen.