64. Berlinale 2014
Vielleicht ist Sex einfach ein bisschen überschätzt? |
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Lars von Triers Nymphomaniac 1 | ||
(Foto: Lars von Trier) |
»Im Grunde warten wir nur auf die Erlaubnis zu sterben.«
aus: Nymphomaniac Vol. One
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Medienpartnerschaften – es gibt viele bei einem Festival wie diesem. Auch durch öffentliche Radio-und Fernsehsender. Aber warum? Sollte das nicht anstößig sein? Schleich-Werbung ist den Öffentlichen ja verboten. Stellen wir uns einmal vor, das ZDF schließt eine Medienpartnerschaft mit dem CDU-Parteitag, der BR mit den LINKEN. Undenkbar. Bei einem Filmfestival aber sehr wohl. Hier gilt jas auch in der Berichterstattung viel zu oft: Kritik ist unerwünscht. Von Redakteuren hört man dann: »Warum soll man denn den Film verreißen? Dann besprechen wir doch lieber drei, die gut sind.«
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»Ich wollte das Politische meines Themas in den Vordergrund stellen«, erzählt die Regisseurin, »aber bei dem Workshop habe ich gelernt, dass die Familiengeschichte das Entscheidende ist.« – Ja, dann hättest du besser keinen Workshop besucht, denke ich.
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Ein Zug rast durch Zeit und Raum. Nie hält er an, denn Stillstand bedeutet Tod. In dem Zug sitzt die Menschheit, oder das, was von ihr übriggeblieben ist in einer Zukunft, die Katastrophe heißt, einer neuen Eiszeit, die die ganze Welt in eine arktische Schnee- und Gletscherwüste verwandelt hat. Snowpiercer heißt dieser wilde Film des renommierten koreanischen Autorenfilmers Boon Jung-Ho, ein herausragendes Beispiel für die Gegenwart des phantastischen Films.
Snowpiercer, ein Highlight in der Panorama-Sektion der Berlinale, ist ein Science Fiction, nach einer berühmten französischen Graphic Novel, der von den Koreanern mit europäischen und amerikanischen Schauspielern, darunter Tilda Swinton und John Hurt in der Tschechischen Republik und in den österreichischen Alpen gedreht wurde. Ein unterhaltsamer Genrefilm mit tieferer Bedeutung. Denn natürlich repräsentiert dieser Zukunftszug wie jeder gute Science-Fiction-Einfall unsere eigene Gegenwart, also eine Moderne in rasendem Stillstand; eine neue Klassengesellschaft voller innerer Widersprüche, die die Abwesenheit jedes Sinnhorizonts durch eine törichte Unterhaltungsmaschine ersetzt. Eine provozierende Phantasie, die unserer Gegenwart den Spiegel vorhält.
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Nach dem Screening, in das überhaupt hineinzukommen eine ähnlich waghalsige Aktion war, wie der Aufstand der Helden des Films, tritt um halb zwei Uhr nachts Park Chan-wook auf die Bühne, der Produzent des Films, selbst seit Oldboy ein Regie-Star des koreanischen Kinos. Boon Jung-hoo ist nicht da, vor Beginn hatte er aber eine sehr lustige und zunehmend absurde Videobotschaft ans
Publikum präsentiert, die mit dem Versprechen endete, beim nächsten Forum kostenlos als Praktikant zu arbeiten.
Park gab viele interessante Erläuterungen. Das lag aber auch an der besten Moderation seit Jahren im Forum – perfekt vorbereitet und charmant; ein Lob an den netten unbekannten Moderator im Cubix-Kino.
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Ein zweiter, anderer Film aus Südkorea bleibt gleichfalls von den ersten Berlinale-Tagen im Gedächtnis: A Dream of Iron, von Kelvyn Kyun Kun Park ist ein Essayfilm im Stil des genialen Franzosen Chris Marker, der die koreanische Geschichte der 70er und 80er Jahre mit der der Stahlindustrie, der der Meeressäugetiere im Gelben Meer und einer Liebeserinnerungsgeschichte verbindet.
Ein untergründiges Thema ist auch in anderen Filmen offenkundig das Sujet der Identitätsspaltung und der Schizophrenie. So etwa in The Demon Within (Mo Jing) vom Hongkong-Regisseur Dante Lam. Der verbindet das Schicksal eines traumatisierten Polizisten mit Elementen des typischen Hongkong-Films und einer melancholischen Betrachtung über die Veränderungen in der ehemaligen britischen Kronkolonie und dem Verschwinden alter Stadtviertel.
Die seit Jahren qualitativ verlässlichste Berlinale-Sektion ist die »Generation« – die sich auf Filme mit jugendlichen Themen spezialisiert hat. Besonders viele Filme kommen hier in diesem Jahr aus Lateinamerika. Zum Beispiel Atlantida von Ines Maria Barrinuevo, der eine Handvoll von Jugendlichen an einem heißen Sommertag auf dem Land begleitet – ein subtiles Gruppenpsychogramm aus Argentinien, kluge Menschenbeobachtung in erlesenen Bildern.
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Unerwünschte Folgen der Digitalisierung: Durch die Sichtbarkeit der Nasenhaare ist die Großaufnahme aus der Mode gekommen.
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»Führe mich!« – ein bisschen, wie von Teufels Gnaden, klingt sie ja, die Stimme von »Rammstein«, der Berliner Schocker-Band unter Fascho-Verdacht, mit deren Song Lars von Trier seinen neuen Film einleitet, oder soll man sagen: seinen neuesten höllischen Spaß? »Führe mich!« – das kann so vieles meinen, die Sehnsucht nach einem politischen Herrn und Gebieter, aber auch die Einladung zu sadomasochistischen Sexspielchen.
Und das war es wohl, was man vor allem erwartete, als am Sonntagabend im Berlinale-Palast Nymphomaniac Volume 1 Premiere hatte. Wohlplatzierte Trailer, wohldosierte Skandalbilder hatten den Medienbetrieb über Monate gefüttert und die Erwartungen ebenso nach oben geschraubt wie fast schon wieder etwas ermüdet: Lars von Trier, jenes Regie-Enfant-Terrible aus Dänemark, würde diesmal also einen Porno drehen, ein »richtigen«, was immer das ist, mit Darstellern, die nicht mehr so tun als ob, sondern richtig mitmachen. Auch das ist schon da gewesen, spätestens bei Andy Warhol vor knapp 50 Jahren, und jeder Teenager hat sowas schon längst im Internet gesehen, man konnte also auch einen wichtigtuerischen Kunstporno befürchten, der Barrikaden einrennt, die schon unsere Großväter geräumt haben.
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Aber Lars von Trier ist viel zu klug für derart postpubertäre Späße. Er, der seit über 20 Jahren den europäischen Autorenfilm durcheinanderwirbelt, ist auch viel zu neugierig und unruhig, viel zu sehr daran interessiert, mit sich selbst zu experimentieren, als das ihn solche Sachen ernsthaft interessieren würden. Und so war es denn auch: Einmal mehr hat Lars von Trier einen typischen Lars-von-Trier-Film gedreht, also ein hochästhetisches ausgeklügeltes Spiel mit
Referenzen aus der Kunst- und Geistesgeschichte, und im Zentrum die kunstvolle Passionsgeschichte einer jungen Frau – manchen gilt von Trier zwar als Frauenfeind, aber auch dies ist er ein primitives Klischee, dass seine Schauspielerinnen auch nicht zu teilen scheinen. In diesem Fall sind es Charlotte Gainsbourg, Stacy Martin und Uma Thurman. Martin spielt die junge, Gainsbourg die ältere Heldin, eine Frau namens Joe, die zusammengeschlagen auf der Straße aufgelesen
wird und ihrem Samariter ihre Geschichte erzählt:
Es ist dies die Geschichte einer Nymphomanin, einer sexsüchtigen Arzttochter. Was sie sucht, ist bis zum Ende nicht ganz klar, wohl auch ihr selber – hinzu kommt, dass es bislang ja nur den ersten Teil zu sehen gibt.
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Pornographisch sind tatsächlich einige Szenen – jedenfalls im Sinne des Gesetzes, nach dem Pornographie dann vorliegt, wenn primäre Geschlechtsteile des Menschen in Aktion gezeigt werden. Andererseits ist das alles andere als lustvoll und lusterregend, auch wenn man manch schöne Menschen im Bett in Aktion sieht. Vor allem aber ist der Sex trotzdem nicht die Hauptsache: Statt Eros geht es mehr um Thanatos, den Tod, den kleinen und den großen am Ende des Lebens. Sex ist in diesem Film ein Mittel zur Beschleunigung des Endes, und auch dazu, uns bis zum Ende etwas die Zeit zu vertreiben.
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»Im Grunde warten wir nur auf die Erlaubnis zu sterben«, heißt es an zentraler Stelle. Ansonsten interessieren von Trier Zahlen-Mystik, Kabbalistik, die Philosophie von Kierkegaard und die Naturwissenschaft von Pythagoras und die Musik von Schostakowitsch und Johann Sebastian Bach. Vielleicht, so denkt man, ist Sex einfach ein bisschen überschätzt, auch von Lars von Trier, vielleicht sollte man Sex nicht metaphysisch überhöhen, sondern einfach als normale Möglichkeit des
Menschen akzeptieren, und ihm nicht aufbürden, Mittel zur Selbst-Erkenntnis zu werden, wie das dieser Regisseur tut. Sein Film ist aber so oder so eine faszinierende Herausforderung.
Nymphomaniac ist ein Manifest gegen die Liebe, gegen libertäre Moral und gegen die Sex-Besessenheit der Gegenwartsgesellschaft. Zugleich verfällt der Film dieser natürlich auch und verspottet
alle konservativen Moralvorstellungen.
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Am Schluss steht einerseits das olympische – aufklärend-spöttische – Gelächter einer göttlichen Komödie, und andererseits eine ganz anmutige Ode an die Schönheit, wie sie bei Bachs erklingt: »Ich ruf zu Dir, oh Jesu Christ!«