19.11.2009
26. Filmfest München 2009

»Gott­sei­dank gibt es so viele Zwischen­töne.«

Hans-Christian Ströbele, Horst Mahrler und Otto Schily im Gerichtssaal
Die drei Tenöre der APO:
Ströbele, Mahler, Schily

Regisseurin Birgit Schulz im Interview zu ihrem neuen Film Die Anwälte – Eine deutsche Geschichte

Der Ausgangs­punkt von Birgit Schulz' Doku Die Anwälte ist ein Foto, dass Anfang der 70er Jahre drei Männer gemeinsam vor Gericht zeigt: Zwei Vertei­diger und ihr Mandant, damals selbst Star­an­walt. Allesamt zentrale Figuren im Kampf der Außer­par­la­men­ta­ri­schen Oppo­si­tion. Die Männer sind Hans-Christian Ströbele, Otto Schily und Horst Mahler. In knapp 40 Jahren scheinen sich ihre Lebens­wege von dieser Basis aus in denkbar unter­schied­lichste Rich­tungen entwi­ckelt zu haben – vom unbeugsam basis­de­mo­kra­ti­schen Linken über den Ex-SPD-Innen­mi­nister mit seinen berüch­tigten Sicher­heits­ge­setzen bis hin zum noto­ri­schen Rechts­extremen. Artechock traf die Regis­seurin im Rahmen des Münchner Filmfests im Sommer 2009. Das Gespräch führte Thomas Willmann.

artechock: Nachdem Ihre bisherige Filmo­grafie geprägt war von dem, was man »Frau­en­themen« nennt, nun ein Film über diese gleich drei Alphamänn­chen. Wie war das?

Birgit Schulz: Es war sehr inter­es­sant. Ich sag' auch immer gerne: Mein erster Film über Männer. (Lacht) Ich habe viele Filme gemacht über starke Frau­en­fi­guren und deren Posi­tio­nie­rung in dieser doch männer­ge­prägten Gesell­schaft. Das inter­es­siert mich immer wieder, und das wird auch bleiben. Aber inter­es­san­ter­weise waren mir diese Männer alle nicht fremd. Ich habe erwartet, dass ich mich da an was ganz anderem abar­beiten muss als sonst, weil ich zu diesen Frau­en­fi­guren einen anderen Bezug habe. Aber ich fand das gar nicht so anders. Von daher würde ich da auch gar keinen Unter­schied machen. Außer dass es für Frauen immer noch schwie­riger ist, in Macht­po­si­tionen zu kommen, weil sie einfach ganz andere Barriere über­winden müssen. Es hat sich viel geändert, aber nicht bis zum letzten.

artechock: War es schwierig, an die drei Prot­ago­nisten ranzu­kommen?

Schulz: Sehr schwierig. Keiner von denen wollte, es hat sehr lange gedauert. Am aller­längsten hat es mit Herrn Schily gedauert, der eigent­lich erst sehr koope­rativ war – und dann ist er abge­taucht. Und wir haben wirklich fast zwei Jahre gebraucht, um ihn zu kriegen.

artechock: Schily war freilich auch derjenige, der wohl poten­tiell am meisten zu verlieren gehabt hätte bei so einem Projekt. Bei dem am wenigsten vorab klar war, was so ein Film für sein Image bedeutet...

Schulz: Ich bin ja der Meinung – und ich hoffe, dass er das selber auch so sieht – dass sich sein öffent­li­ches Image durch diesen Film eher ins Positive verändert. Er müsste einfach nur mal zu sich selber stehen. Ich finde es ja völlig falsch von ihm, eine bestimmte Zeit immer wegzu­drängen und verleugnen zu wollen, weil er Angst hat, dass sie einem schaden könnte. Das wird ihm niemals schaden. Dieses »Ich lehne das ab, der RAF-Anwalt gewesen zu sein« finde ich die viel schwächere Position, und es ist auch in der Öffent­lich­keit eher die schäd­li­chere. Die starke Position ist ganz klar, offensiv dazu zu stehen. Viel­leicht begreift er das ja jetzt, das wäre schön. Ich bin mal gespannt, was er sagt. (Lacht)

artechock: Was gab für ihn den Ausschlag, nach zwei Jahren doch mitzu­ma­chen?

Schulz: Nachdem ich ihn einmal getroffen habe, ist er letzt­end­lich abge­taucht und ich habe ihn nie wieder erreicht. Er hat auch nie abgesagt, über andert­halb Jahre hinweg. Ich hatte letztes Jahr im Sommer MONATE dieser völligen Abhän­gig­keit davon, ob ich ihn jetzt mal erreiche oder nicht. Er hat alle Energien eigent­lich von unserem ganzen Büro gebunden, weil wir immer dachten: »Was machen wir mit diesem Film? Der stagniert und stagniert.« Um mich aus dieser Unfrei­heit zu lösen habe ich dann gesagt: »Okay, ich mach den Film jetzt ohne ihn!« Und dann haben wir einen kompletten Film geschnitten mit ihm nur als Archiv­figur. Wir haben die anderen beiden die entspre­chenden Geschichten miter­zählen lassen. Das war natürlich nicht besonders befrie­di­gend. Und als das fertig war, habe ich Herrn Schily eine Mail geschrieben und gesagt: »So, der Film ist jetzt fertig, sie sind auf jeden Fall in diesem Film drin, und wir bringen den Film auch so raus, und über diesen Film wird auch auf jeden Fall geredet werden.« Und ob er den sehen will. Und dann hab ich sofort einen Termin bekommen, und bin dann – nicht mit dem ganzen Film, aber mit einer halben Stunde – zu ihm in sein Büro gefahren. Er hat mich empfangen mit den Worten: »Na, sie sind ja ganz schön hart­nä­ckig.« (Lacht) Und dann musste ich schon sehr lachen, weil ich sagte: »Na, das ist ja wohl eine Eigen­schaft, die ihnen sehr bekannt vorkommen müsste.« Und dann hat er sich das angeguckt, und daraufhin haben wir einen Inter­view­termin bekommen. Und dann haben wir den ganzen Film nochmal neu geschnitten.

artechock: Aber das Material von Mahler und Ströbele ist das von den Inter­views zur ersten Fassung – oder haben sie die auch nochmal inter­viewt?

Schulz: Nein, nein. Diese Inter­views waren geführt. Aber wir haben natürlich ganz viel von denen wieder raus­ge­nommen und Herrn Schily eingebaut. Und ich kann mir auch gar nicht mehr vorstellen, dass wir ihn nicht gekriegt hätten. Das geht gar nicht. Der Film ist um LÄNGEN, um Tausende von Kilo­me­tern Längen, besser geworden. Ja, aber es war ein langer Weg.

artechock: Wie liefen die Inter­views konkret ab?

Schulz: Ich führe die Gespräche immer komplett ohne Skript, weil ich sonst die Inten­sität nicht herstellen kann. Wenn ich das einmal verin­ner­licht habe, habe ich dann aber auch den Spielraum, während des Gesprächs aufzu­ma­chen und ganz andere Aspekte zuzu­lassen. Je nachdem, was sich da ergibt. Von daher haben sich natürlich auch immer wieder Gespräche und Dialoge entsponnen. Aber ich hab immer versucht, dann auch sehr klar wieder die Führung zu über­nehmen. Denn wenn man Politiker reden lässt, wird das auch schnell lang­weilig. Man muss da selber eine unheim­liche Konzen­tra­tion rein­bringen. Die größte Schwie­rig­keit bei Poli­ti­kern ist ja, überhaupt erstmal diese Struk­turen zu druch­bre­chen. Die sagen ja immer das Gleiche. Ich habe ja solche Stapel Artikel vorher gelesen. Und in allen Artikeln steht das Gleiche, wort­wört­lich! Und mir ging’s schon darum, mehr raus­zu­finden als das, was immer in all diesen Artikeln stand. Dafür muss man sie auch erstmal dazu bringen, ihre eigenen Mauern durch­bre­chen zu lassen. Und in dem Moment, wo sie emotional werden, da bin ich dann auch da. Da hak' ich dann auch ein. Und da geb' ich auch den Spielraum. Aber da hau' ich ihnen dann auch mal so einen vor den Bug, dass sie ganz woanders hinkommen.

artechock: Wie lang waren die Inter­views jeweils?

Schulz: Wir haben die drei jeweils einen ganzen Tag inter­viewt. Natürlich mit Dreh­pausen dazwi­schen. Herrn Mahler sieben Stunden, Herrn Schily fünf oder sechs. Am kürzesten war Herr Ströbele, weil er sich eigent­lich nicht wirklich drauf einlassen wollte... Der war aber am aller-, aller-, aller­we­nigsten bereit, irgendwas zuzu­lassen und aufzu­ma­chen. Das fand ich inter­es­sant. Der wirkt immer gut in den Antworten, und ist jedes Statement druck­fertig. Er erzählt auch ganz schön. Aber man kommt nicht wirklich emotional da ran. Für den ist das nicht wichtig. Für den sind Geschichten, wo er aktuell politisch reagieren kann, einfach viel, viel, viel wichtiger. Als ein Zeuge einer Zeit­ge­schichte dazu­stehen, das hat er nicht einsehen wollen. Ich habe hinterher nochmal einen Versuch gestartet, ihm zu erklären, dass es auch wichtig ist, dass er das tut. Und da war’s ihm ein bisschen unan­ge­nehm, dass er unge­duldig gewesen war – aber er war sehr unge­duldig.

Das ist inter­es­san­ter­weise bei Schily wirklich viel, viel besser gelungen. Er lässt eine ganz andere Emotion zu in diesem Film. Er sagt auch mal: Das ist eine traurige Geschichte. Er sagt auch mal: Da hatte ich die Verant­wor­tung, und ich konnte sie gar nicht mehr tragen. Das sind ja tolle Momente, und das hab' ich bei Herrn Ströbele überhaupt nicht geschafft.

artechock: Das ist inter­es­sant, weil Ströbele – zumindest in meiner Wahr­neh­mung – auch wirklich am ehesten an dem Bild bleibt, das man schon vorher von ihm hatte. Schily ist jemand, auf den sich die Wahr­neh­mung extrem ändert. Mahler hält ein paar Über­ra­schungen bereit...

Schulz: Ich seh das ganz genauso. Herr Ströbele hat keine Über­ra­schungen – aber das ist auch so. Der ist ganz gradlinig immer so gewesen. Und das ist ja auch ein Knochenjob, den er macht – immer den Finger in die Wunde legen, immer dort vor Ort zu sein, wo das seiner poli­ti­schen Über­zeu­gung nach richtig und wichtig ist. Der macht ja eigent­lich richtig die poli­ti­sche Arbeit, in dieser mühsamen Form des kleinen Wider­stands, wo immer es möglich ist.

artechock: Und es passt ja auch: Es passt sowohl in diese Konstel­la­tion, dass einer den relativ geraden Weg geht, derjenige, bei dem man am schnellsten versteht, warum er damals dort war und heute hier ist. Er als Person ist auch stimmig...

Schulz: Die lang­wei­ligste Filmfigur von den dreien.

artechock: Ich würde nicht­einmal sagen lang­weilig. Aber es ist derjenige mit den wenigsten Über­ra­schungen.

Schulz: Ja, genau. Ich find ihn auch nicht lang­weilig, um Gottes Willen. Aber es ist natürlich der, wo man nicht aufgerüt­telt wird.

artechock: Er ist derjenige, der am meisten auf einer bloß intel­lek­tu­ellen Ebene inter­es­sant ist. Viel­leicht ist er wirklich mit sich selbst so im Reinen, mit sich so identisch...

Schulz: Das ist auch so. Er ist schon total authen­tisch. Der ist wie er ist. Und ich finde ihn ja auch unheim­lich wichtig in unserer Gesell­schaft. Das ist ein ganz wichtiger Mahner und Zweifler, der immer an den entschei­denden Punkten nochmal sagt: »Ist das wirklich richtig so? Nein, ich glaube nicht.« Der liefert wirklich ein großes Lebens­werk ab.

Und man merkt schon auch... Mein Lieb­lings­ka­pitel in dem Film ist das über die Toten von Stammheim. Was heißt das eigent­lich für die Vertei­diger, wenn plötzlich die Mandanten tot sind? Und diese Mischung aus »Das ist eine Nieder­lage, es löst aber auch Wut aus,« das bringt er schon sehr gut auf den Punkt. Da war er wirklich absolut aufge­bracht damals und absolut erbost und wusste ganz genau, das geht alles hier nicht mehr mit rechten Dingen zu. Das ist schon sehr echt – und da ist er auch emotional, finde ich.

artechock: Was war für Sie der größte „Wow“-Moment, an dem jemand, wie Sie sagen, „aufge­macht hat“?

Schulz: Das war ganz klar die Geschichte als Schily sagte: »Es sind so viele Menschen in dieser RAF-Zeit verloren gegangen, die eine große Rolle hätten spielen können in dieser Gesell­schaft.« Das war für mich einer der ganz, ganz, ganz wich­tigsten Momente überhaupt. Auch schon während des Inter­views wusste ich sofort: Das wird eine absolute Schlüs­sel­szene sein.

artechock: Weil Sie das gerade anspre­chen: Wieviel von der formalen Struktur war Ihnen schon vorher klar, wieviel hat sich erst ergeben?

Schulz: Das Procedere war: Zuerst kam das Sichten der Archiv­ma­te­ria­lien. Das hat sehr lange gedauert. Wir haben alle, alle, alle Archive in Deutsch­land einmal umge­graben. Und auf der Basis hat sich für mich ein erstes Layout entwi­ckelt. Denn dann ist ja überhaupt erst klar: Was kann ich mit Bildern erzählen? Ich brauche Bilder, das ist ja kein Hörfunk. Und wo haben wir Dokumente, wo es Über­schnei­dungen gibt, Berüh­rungs­punkte? Dann habe ich für jeden einzelnen sehr, sehr lange Inter­viewstruk­turen erar­beitet, wo es natürlich darum ging, einmal die Biografie durch­zu­gehen, wo man sich dann aber irgend­wann festlegen musste: Was sind die wichtigen Themen. Und die Inter­views führe ich immer so, dass ich die wichtigen Themen zuerst völlig unab­hängig von jeglicher Chro­no­logie abfrage. Dann fangen wir an mit der Biografie. Und dann gehe ich nochmal auf die wichtigen Themen ein. Die waren mir dann schon bevor ich ange­fangen habe zu inter­viewen sehr klar. Und dann gibt’s noch viele Sachen, die ich im Gespräch erfahren habe. Auf der Basis des Materials habe ich dann nochmal neu konzi­piert.

Die Struktur zu erar­beiten war schon ein Stück Arbeit. Da eine Drama­turgie rein­zu­kriegen, und sich zu entscheiden was man auch weglässt. Es gibt ja viele, viele Sachen, die unter den Tisch gefallen sind. Am schwie­rigsten war das letzte Kapitel. Ich wollte eigent­lich unbedingt noch rein­nehmen, dass Herr Ströbele seinen Wahlkampf zu Fuß durch Kreuzberg absol­viert hat, weil seine eigene Partei ihm den Listen­platz nicht gegeben hat. Und dann war’s aber genau eine Geschichte zuviel am Ende und wir haben uns dann doch entschieden, es ganz am Ende nochmal zulaufen zu lassen auf eine Zwei­er­ge­schichte Schily/Mahler. Das sind natürlich immer so Sachen, die einem unheim­lich schwer fallen. Kill your darlings heißt es im Schnei­de­raum. Ich hatte eine sehr strenge Cutterin. Die hat mir immer ganz klar um die Ohren geworfen, was wirklich nicht geht, und wo der Film inkon­se­quent wird. Das war ein sehr wichtiges Korrektiv.

artechock: Wie lange haben sie geschnitten?

Schulz: Sechs Monate. Ungefähr. Mit großen Unter­bre­chungen.

artechock: Und in welcher Reihen­folge haben sie inter­viewt?

Schulz: Mahler, Ströbele, Schily.

artechock: Wie viel Zeit lag zwischen den Inter­views?

Schulz: Horst Mahler hatten wir im Oktober 07. Herrn Ströbele im August 2008. Und Herrn Schily im März diesen Jahres [2009].

artechock: Und wieviel hat sich durch die konkreten Inter­views nochmal geändert gegenüber der Konzep­tion, die Sie viel­leicht vorher hatten?

Schulz: Für mich war das Tolle und das Spannende, dass ich auch meine eigenen Klischee­bilder dieser Figuren in den Papier­korb werfen konnte. Da bin ich jetzt im Nach­hinein sogar dankbar, dass alles so lange gedauert hat, weil man sich da alles doch immer nochmal und immer nochmal verge­gen­wär­tigt. Und ich mag auch alle drei. Nach wie vor – mehr als vorher sogar. Und es sind dann doch einfach Glücks­mo­mente, wenn man selber aufmachen kann und merkt: Gott­sei­dank reali­siert sich nicht das Klischee­bild, das man im Kopf hat. Gott­sei­dank gibt es so viele Zwischen­töne. Gott­sei­dank ist es soviel komplexer, als man das anfangs gedacht und ange­nommen hat. Natürlich sucht man immer erst nach den Bildern, die man im Kopf hat. Und das dann plötzlich sein zu lassen und selber auch aufzu­ma­chen – das ist natürlich wirklich toll. Das ist auch ein großes Lust­ge­fühl.

artechock: Könnten Sie die Klischee­bilder, die Sie vorher zu den drei Personen im Kopf hatten, und das Bild nachher kurz beschreiben?

Schulz: Bei Herrn Schily ist es ja relativ klar: Ich hab natürlich nach dem scharfen Innen­mi­nister gesucht, natürlich nach diesem »Wie kann der vom RAF-Anwalt zum rech­testen SPD-Innen­mi­nister aller Zeiten werden?«. Ich war sehr positiv über­rascht, dass er zu seiner Posi­tio­nie­rung in der RAF-Zeit total steht; dass sich dahinter ein huma­nis­ti­sches Bild verbirgt. Was sich für mich glaubhaft auch durch die Innen­mi­nister-Zeit zieht. Das war mir vorher nicht klar. Ich nehme dem Mann absolut ab, dass es ihm um den Rechs­staat geht. Ich würde niemals alles unter­schreiben, was er gemacht hat in Bezug auf die Sicher­heits­ge­setzte, ganz bestimmt nicht. Wenn man jetzt ins poli­ti­sche Detail gehen würde, wäre ich in ganz vielen Punkten nicht seiner Meinung. Aber ich nehme ihm ab, dass er sich seine Ideale bewahrt hat, und dass er das auch mit einem ganz klaren huma­nis­ti­schen Ansatz tut. Das nehme ich ihm ab. Und das hat mich sehr positiv über­rascht, muss ich wirklich sagen.

Bei Ströbele hat sich weitest­ge­hend das Bild erfüllt, das ich hatte, außer dass mir nochmal klarer geworden ist, was er da eigent­lich für eine Knochen­ar­beit leistet. Ich finde es gut, dass er sich so treu geblieben ist – sogar so treu, dass er innerhalb seiner eigenen Partei zu einer Rand- und Außen­sei­ter­figur geworden ist, weil die Partei ihn quasi von rechts überholt hat. Weil die Partei soviel konser­va­tiver geworden ist, sowohl optisch als auch inhalt­lich. Und da in der Dimension standhaft zu bleiben das war mir auch nicht ganz so klar, was das eigent­lich bedeutet. Eigent­lich gar nicht mehr unbedingt immer seine eigenen Leute noch hinter sich zu wissen, und dann aber zu sagen :Ich bleib' wie ich bin, ich find' das nach wie vor wichtig, und ich lass' mich nicht korrum­pieren von der Macht – was ja viele in seiner Partei getan haben, in der Koalition mit der SPD. Wir bereiten jetzt einen Film vor über die Geschichte der Grünen, und für mich ist das Ende der Grünen natürlich die Teilnahme am Kosovo-Krieg. Das ist für mich eine ganz klare Markie­rung.

Und bei Herrn Mahler war ich sehr über­rascht, dass er mich tatsäch­lich inter­es­siert. Ich werd nie verstehen, wie er zur Holocaust-Leugnung kommt – das ist auch nicht verstehbar. Aber der ist nicht einfach nur »der Rechte«. Das ist auch keiner, den die NPD vor den Karren spannen kann. Der lässt sich gar nicht instru­men­ta­li­sieren. Der ist ein absoluter Solitär. Das muss man nicht mögen, und ich bin absolut nicht seiner poli­ti­schen Meinung. Die lehne ich ganz klar ab. Nichts­des­to­trotz ist auch er eine viel komple­xere und inter­es­san­tere Figur, als ich dachte.

artechock: Es ist inter­es­sant: Man kennt ja beispiels­weise dieses Streit­ge­spräch mit Michel Friedmann. Aber mein Eindruck ist: Wenn jemand Mahler die Chance bietet, auf Konfron­ta­tion zu gehen, dann wird er genau bloß zu dieser platten Karikatur.

Schulz: Ja, das lang­wei­ligste Interview aller Zeiten war das, nicht?

artechock: Es war kein Gespräch. Das inter­es­sante an dem Film fand ich, dass wenn man Mahler diese Rolle nicht bietet, den Teufel zu spielen, dann tatsäch­lich viel komple­xere Sachen mit ihm passieren. Wie Sie sagen: Es gibt Punkte, die kann man nicht wirklich nach­voll­ziehen – aber man versteht zumindest teilweise etwas.

Schulz: Er ist auf jeden Fall ein total schlauer Kopf. Man darf nicht vergessen, der war ja schon mit Ende 20 Star­an­walt. Der hat in Berlin die ganz großen Wirt­schafts­pro­zesse gewonnen, bevor er überhaupt zur Studen­ten­be­we­gung kam. Also er ist auf jeden Fall super­schlau. Und wir hatten auch noch viel Material, das jetzt nicht im Film ist, wo wir ganz intensiv gespro­chen haben über: Was ist Gewalt für ihn? Das ist ja auch überhaupt kein Typ, der so einfach zur Waffe greift, bei der RAF. Das hat er dann auch ganz eingehend erläutert, der hat überhaupt keinen Bezug zur Gewalt. Das kam nur aus einer ratio­nalen, poli­ti­schen Über­le­gung heraus, dass, wenn es notwendig ist, man es auch machen muss. Der hat mit Skinheads nichts zu tun, mit dieser dumpfen Schlä­ger­men­ta­lität, das ist alles nicht seins. Und deshalb muss man das auch ein bisschen anders sehen. Der hat sich verlaufen, würde ich mal sagen. Aber er ist nicht »der Führer einer rechten Bewegung«, oder so. Der hat sich im klas­si­schen Sinne völlig verirrt. In einem abstrakten Denken, wo er für mich überhaupt keinen Fuß, keinen Kontakt mehr zur Realität kriegt. Schily bringt’s auf den Punkt: Schily sagt nicht »Ich find' den doof, ich find den scheiße, ich will mit dem nichts zu tun haben« – der sagt einfach »Es ist eine Tragödie«. Das fand ich eine sehr kluge Antwort. Der hat sich da gar nicht abgrenzen müssen. Sondern es ist tragisch. Dass Mahler quasi als kluger Kopf verloren ist für Sachen, wo man ihn eigent­lich viel besser hätte gebrau­chen können.

artechock: Das macht ja diese Figur auch so frus­trie­rend. Dass man merkt: Er ist nicht blöd. Und man immer noch das Gefühl hat: Wenn man richtig mit ihm reden könnte, muss doch ein derart intel­li­genter Mensch irgendwie einsehen, wo seine Denk­fehler sind...

Schulz: Nein, da gab’s auch gar kein Rankommen. Das werd ich auch nie verstehen, nie begreifen. Ich wollte danach auch nicht weiter fragen, weil es im Vorhinein bei diesem Film lange Diskus­sionen mit den Redak­teuren gegeben hat, inwieweit man ihm überhaupt eine Plattform geben darf. Als diese ganze ‘68er-Bericht­erstat­tung war, da hat er ja in einem NDR-Feature drei O-Töne gehabt, da haben die sich in der ARD die Köpfe einge­schlagen, weil der überhaupt vor laufender Kamera aufge­taucht ist. Das find' ich ja ganz falsch. Ich finde ja, man muss sich mit den Leuten ausein­an­der­setzen. Das nützt ja gar nichts, irgendwie so zu tun als gäbe es sie nicht. Aber was ganz klar war: Dass wir ihm auf gar keinen Fall ein Forum bieten würden für irgend­welche rechten Parolen.

artechock: Aber wie Sie sagen: Wenn man ihn gar nicht zu Wort kommen lässt und nicht mit ihm redet, das gibt ihm ja genau wieder die Möglich­keit, in diese Märty­rer­pose rein­zu­kommen. Da kann er wieder von Denk­ver­boten reden. Dabei geht es nicht um Denk­ver­bote, sondern um Unsinns­ver­bote. Bzw. es geht ja auch nicht darum, den Unsinn zu verbieten, sondern zu sagen: Unsinn ist Unsinn.

Schulz: Ja klar, sicher.

artechock: Ich schätze an dem Film extrem seine Fähigkeit, sehr genau und geduldig zuzuhören. Aber wie schwierig ist es, wenn man jemand wie Mahler im Interview dasitzen hat, nicht das Disku­tieren anzu­fangen? Oder haben sie viel disku­tiert und das nur geschnitten?

Schulz: Ich habe überhaupt nicht mit ihm disku­tiert. Ich habe mich natürlich sehr gut vorbe­reitet. Es war immer klar: Ich kann ihn nur inter­viewen, wenn ich mich auf Augenhöhe bewege. Es darf niemals der Respekt vor mir verloren gehen, sonst ist es eh aus. Was ein bisschen stressig ist bei so klugen Köpfen, auf jeden Fall. Aber bei Herrn Mahler war mir ganz klar: Ich will ganz viele Sachen wissen, und ich will nicht mit ihm disku­tieren. Das war sehr anstren­gend. Weil wir natürlich auch an diesen Tagen riesen­große Programme abgespult haben. Und es war insofern anstren­gend, weil er der einzige war, mit dem ich auch in den Dreh­pausen keinen Smalltalk führen konnte. Weil ich mich mit ihm nicht gemein machen wollte. Ich will Sachen erfor­schen, ich will Sachen wissen, aber auf gar keinen Fall disku­tieren.

artechock: Um nochmal auf Schily zurück­zu­kommen: Diese Zeit als Innen­mi­nister, wo er erklärt, weshalb er dazu steht. Ich verstehe absolut, was Sie sagen mit: Er ist ein Verfechter des Rechts­staats. Er hat ein sehr durch­dachtes Bild davon, was Rechts­staat ist. Und das gibt auch einen Schlüssel zu dieser ganzen Biografie. Ande­rer­seits war das auch der Punkt, wo ich das Gefühl hatte: Da hat er sich am ehesten doch von der Macht verführen lassen.

Schulz: Es ist eine ganz klare Verfüh­rung durch die Macht bei ihm da. Er findet das gut. Was mir ja in der Größen­ord­nung auch nicht klar war: Ich hab ihn ja gefragt, wie groß sein Minis­te­rium war, da sagt er: Mehrere Zehn­tau­send Mitar­beiter. Meh-re-re Zehn­tau­send! Das findet er gut. Da hat er eine Spiel­wiese. Er hat die Macht auf jeden Fall ange­strebt. Er ist super­gerne im Rampen­licht, super­gerne eine öffent­liche Figur. Das ist genau der Punkt, wo er sich durch die Macht so verführen hat lassen, dass er auch einen Teil seiner Ideale dran­ge­geben hat, ja.

artechock: Gerade wo er über die Sicher­heits­ge­setze redet schien mir auch der Punkt, wo am ehesten bloß eine für sich selbst zurecht­ge­legte Recht­fer­ti­gung vorge­tragen wird.

Schulz: Richtig. Ganz genau: »Ich habe damals den Rechts­staat vertei­digt, vertei­dige ihn heute immer noch.« Das ist seine Argu­men­ta­tion. »Nur Idioten ändern sich nicht,« sagt er gleich­zeitig. Da wird er wider­sprüch­lich, ja. Wenn das raus­ge­kommen ist, finde ich das gut.

artechock: Sie hatten vorher die sehr umfang­reiche Archiv­re­cherche ange­spro­chen. Das Angenehme an dem Film ist ja aber, dass er nicht jedes Bild, das er in einem Archiv gefunden hat, auf die Leinwand bringt. Dass er generell sehr dem Wort vertraut und den Gesich­tern. War es schwer, das bei den Redak­tionen durch­zu­kriegen? Man ist ja heute leider eine etwas andere Art von Geschichts­dokus gewohnt...

Schulz: Ich hatte ja vier Redak­teure. Das ist ja der Horror für jeden Regisseur. (Lacht) Und ich habe versucht, mir vorher immer klar zu machen: Nichts­des­to­trotz, die Hälfte des Budgets haben wir selber erworben, durch unsere Förder­an­träge. Ich bin hier also nicht Auftrag­neh­merin, sondern Copro­duk­ti­ons­part­nerin. Das ist erstmal innerlich eine stärkere Posi­tio­nie­rung. Im entschei­denden Moment hätte ich auf jeden Fall klar gemacht, dass es eine Kino­va­ri­ante gibt und eine Fern­seh­va­ri­ante, und dass sie mir bei der Kino­va­ri­ante nicht drein­reden dürfen bis zum Geht­nicht­mehr. Sie hätten’s natürlich trotzdem alle versucht.

Aber der heikelste Punkt in dieser Ausein­an­der­set­zung mit den Redak­teuren – die ansonsten sich wirklich TOTAL einge­setzt haben für diesen Film, die alle alles gegeben haben und ja auch sehr viel Geduld aufbringen mussten – der heikelste Punkt war, als nach der ersten Abnahme drei von vier Redak­teuren sagten: »Dieser Film braucht einen Kommen­tar­text.« Und da bin ich das einzige Mal in dieser ganzen Abnah­me­serie ausfal­lend geworden, bin einfach nur pampig geworden und habe gesagt: »Und das mache ich NICHT!« (Lacht) Kein Redakteur dieser Erde ist gewöhnt, Wider­worte zu bekommen, sagen wir’s mal so. Aber da war ich auch: Auf GAR, GAR, GAR, GAR keinen Fall! Und das mit dem Kommen­tar­text halbwegs diplo­ma­tisch auszu­räumen, war wirklich sehr, sehr, sehr schwierig. Inter­es­san­ter­weise haben sie mich dann aber nach der zweiten Version wirklich erstmal in Ruhe gelassen.

artechock: Ein Kommen­tar­text wäre tödlich gewesen! Das ist ja grade das Schöne: Ein Film, der auch mal wieder dem Zuschauer zutraut, dass etwas kapiert, ohne dass man ihm sagt, was er jetzt zu denken hat.

Schulz: Jaja. Warum soll ich mich als Autorin aufschwingen auf die gleiche Ebene? Es war dann immer die Rede von: »Du musst ja keinen normalen Kommen­tar­text machen. Mach doch einen persön­li­chen...« Und ich habe gesagt: Das ist kein Autoren­film. Ich spiele in diesem Film überhaupt keine Rolle. Die einzige Rolle, die ich spiele, ist die derje­nigen, die gefragt hat. Und die das montiert. Ich will keine Filmfigur werden. Ich hab da gar nichts drin verloren. Ich bin nicht auf der gleichen Ebene wie die. Das meine ich jetzt nicht intel­lek­tuell. Aber ich gehör da gar nicht rein. Das sind völlig andere Geschichten. Und wir haben dann uns mit den Stellen ausein­an­der­ge­setzt, die lange Zeit für einen Außen­ste­henden sehr schwer verstehbar waren. Wir haben sehr daran gear­beitet, die Sachen verstehbar zu machen. Und wenn das gelungen ist, dann ist doch alles gut.

artechock: Es wird viel viel­schich­tiger dadurch, dass man in einem Satz der Prot­ago­nisten sehr viele Sachen sehen kann und es nicht nur ein Abfragen von Infor­ma­tionen ist, sondern da oft ganz viel mitschwingt. Und man das auch wahr­nehmen darf, ohne dass es einem durch jemanden, der es dann »erklärt«, zuge­textet wird.

Schulz: Ja, eben. Nein, die können alles perfekt selber erklären. Die sind alle verbal sehr versiert.

artechock: Das Publikum ist ja nicht so bevor­mun­dungs­gierig, wie man immer glaubt.

Schulz: Nein, nein, nein. Das finde ich nämlich auch. Das ist leider der große Fehler im Moment, dass Fern­seh­an­stalten das immer denken.

artechock: Eine der großen Fragen in dem Film ist: Sind das Brüche, Wider­sprüche in den Biogra­fien, oder nicht? Wie haben sie’s empfunden.

Schulz: Jeder beharrt ja darauf, eine Konti­nuität in seinem eigenen Leben zu haben. Es gibt natürlich Brüche in dem Leben von Herrn Schily, auch wenn er sagt, es gibt eine Konti­nuität... Es gibt auch eine Konti­nuität, beides stimmt. Dass er an den Rechts­staat glaubt, und dass das für ihn das höchste Gut ist, diesen zu schützen, das ist wirklich eine Konti­nuität, die nehm ich ihm auch ab. Trotzdem gibt es Brüche. An dem Punkt, wo er sich auch durch die Macht verführen lässt, ist das ein Bruch. Bei Herrn Ströbele gibt es keine Brüche. Ich hab bei ihm zumindest keine entdecken können. Viel­leicht gibt es die, aber die hab ich nicht gefunden. Und bei Herrn Mahler gibt es auch eine große Konti­nuität. Viel­leicht in der Form, dass er sich gerne Posi­tionen sucht, die für ihn die am größt­mög­lichst vorstell­bare Wider­stands­po­si­tion zu diesem Staat ist. Der ja von allen am meisten Systeme durch­laufen. Sehr vieles davon ist ja im Film nicht drin. Der war bei der HJ, dann war er in einer schla­genden Verbin­dung, dann war er bei der SPD, dann war er RAF-Anwalt, dann war er bei der RAF, dann war er Marxist, dann war er Hege­lianer, dann war er plötzlich bei der NPD, und heute ist er Holocaust-Leugner. Soviele Systeme wie er durch­laufen hat, das ist völlig irre. Wie er das letzt­end­lich auf die Reihe kriegt, weiß ich nicht. Da würde man natürlich immer erstmal sagen das sind Brüche über Brüche über Brüche über Brüche. Aber er selber sieht das nicht so, und bis zu einem bestimmten Punkt ist das für mich auch nach­voll­ziehbar.

artechock: Ganz genauso ging’s mir auch. Wie Sie sagen: Er muss immer dagegen sein. Letztlich ist das Extrem für ihn mehr struk­tu­rell als inhalt­lich – ob das jetzt links oder rechts ist.

Schulz: Ganz genau.

artechock: Nach Fertig­stel­lung des Films kam ja heraus, dass der Polizist, der Benno Ohnesorg erschossen hatte, heim­li­cher Stasi Mann war. Wie bedeutend ist diese Kurass-Geschichte für Sie?

Schulz: (Lacht) Das hätte fast zu einem Auto­un­fall geführt. Ich habe das nämlich im Autoradio gehört morgens früh, und es wurde anmo­de­riert mit den Worten: »Ein Stück deutsche Geschichte muss umge­schrieben werden«, und ich dachte »Oder dein fertiger Film muss umge­schnitten werden«. Ich hab' dann tatsäch­lich den Rest des Tages damit verbracht, heraus­zu­finden, ob das etwas für meine Prot­ago­nisten geändert hätte. Und ich war am Ende des Tages beruhigt, weil es hätte für beide gar nichts geändert. Herr Kurass ist zwar der extremste Polizist am Tag der Schah-Demo gewesen, aber auch unab­hängig von Herrn Kurass waren die Poli­zei­ak­tionen so dermaßen rigide und brutal, dass es sowohl für Herrn Schily wie Herrn Ströbele keinerlei Verän­de­rung der poli­ti­schen Posi­tio­nie­rung gebracht hätte. Oder auch im Auslöser, dass diese Schah-Demons­tra­tion wirklich so ein Initia­ti­ons­ritus war für die Schärfung der poli­ti­schen Haltung, da hat die Kurass-Geschichte nichts geändert. Und hätte sie auch damals nichts geändert, wenn das damals klar geworden wäre.

Und ich finde es total inter­es­sant, welche Bedeutung man dem jetzt beimisst. Sofort SPIEGEL-Titel und so weiter. Die Frage kann ich gar nicht ernst nehmen, dass das was verändert auf den Blick dieser Zeit. Gut, man begreift plötzlich, inwieweit die DDR rein­ge­reicht hat in die bundes­re­pu­bli­ka­ni­sche Wirk­lich­keit. Aber von den Grund­kon­stanten der ‘68er-Bewegung verändert sich NICHTS. Am Ende des Tages habe ich mich sehr beruhigt zurück­ge­lehnt und einen ordent­li­chen Rotwein getrunken und sagte: Nein, der Film bleibt, wie er ist.

Noch dazu ist Kurass ein durch­ge­knallter Waffen­narr, und er hat ja auch nochmal eine eigene Biografie, die wiederum gar nichts mit Politik zu tun hat. Der Mord an Ohnesorg war ja auch kein Auftrag. Im Gegenteil, das hat dazu geführt, dass diese Arbeits­ver­bi­nung beendet wurde. Also von daher hat auch die konkrete Handlung sowieso nichts mit der SED zu tun.

artechock: Und selbst wenn es ein Auftrag gewesen wäre: Nachdem es damals nicht bekannt war, was hätte das dann bedeutet. Die Frage ist doch: Warum hat der Tod des Studenten damals soviel ausgelöst?

Schulz: Eben. Das war der letzte Tropfen, der das Fass zum Über­laufen brachte. Da schien wirklich klar: Dieser Staat ist kein Rechts­staat. Kurass spielt da zwar eine Rolle, aber keine große.

artechock: Wir haben viel von den Personen gespro­chen. Wie hat sich mögli­cher­weise Ihre Sicht auf Deutsch­land verändert?

Schulz: Große Frage... Es hat für mich nie diese eine Sicht auf Deutsch­land gegeben. Es hat viel­leicht nochmal ausgelöst, dass ich die Poli­ti­ker­ge­nera­tion von heute sehr gesichtslos finde, und dass ich es sehr schade finde, dass es wenige Leute gibt, die tatsäch­lich aufgrund von poli­ti­schen Idealen Politik machen. Und das muss man ihnen allen drei zuge­stehen, meinen Prot­ago­nisten. Viel­leicht hat das so ein bisschen Wehmut ausgelöst, dass dieses Poli­tik­ge­schäft von heute dominant beherrscht wird von Menschen, die Partei­kar­rieren machen. Und nicht von diesen Einzel­fi­guren, die sich aufgrund einer Über­zeu­gung und einer poli­ti­schen Vision in die Bresche schlagen. Und das hat bei mir wirklich nochmal eine Trau­rig­keit ausgelöst, das muss ich schon sagen.

Mein Blick auf Deutsch­land hat sich nicht wirklich verändert. Es hat einfach nochmal klar­ge­macht, dass es möglich ist, dass in dieser bundes­re­pu­bli­ka­ni­schen Geschichte drei Leute, die so ähnlich gestartet sind in so verschie­dene Rich­tungen gehen können. Das bedeutet aber, dass wir ein sehr plura­lis­ti­sches Staats­ge­bilde haben, wo das eben auch möglich ist. Also dass es große Freiräume gibt, innerhalb derer man sich einfach posi­tio­nieren muss. Dass wir also letzt­end­lich doch in einer großen Freiheit leben.

Ja, doch, viel­leicht hat es doch etwas verändert: Viel­leicht hatte ich doch am Ende das Gefühl, dass dieser Staat gar nicht der schlech­teste ist.