»Die meisten Gegenwartsfilme sind mir zu vorhersehbar« |
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Jerzy Skolimowski im Filmmuseum München | ||
(Foto: Dunja Bialas) |
Das Gespräch führte Katrin Hillgruber
Seit seinem Film Der Start, den er 1967 mit Jean-Pierre Léaud in Belgien realisierte, gilt Jerzy Skolimowski als zweites polnisches Regiewunder neben seinem engen Freund Roman Polanski. Am 5. Mai 2018 wurde Jerzy Skolimowski achtzig Jahre alt. Aus diesem Anlass zeigt das Münchner Filmmuseum noch bis zum 24. Juni eine vollständige Retrospektive des polnischen Regisseurs, in dessen vielfach ausgezeichnetem Werk die kreative Überraschung das einzig konstante Moment ist: Von einem sanften akustischen Horrorfilm wie Der Todesschrei (8. Juni) bis hin zum Film 11 Minuten (24. Juni), in dem er mehrere Handlungsstränge à elf Minuten zu einem Warschauer Katastrophenpanorama zusammenführte. Katrin Hillgruber traf Jerzy Skolimowski zu einem Gespräch für »artechock«.
artechock: Herr Skolimowski, bei Ihrem Besuch im Münchner Filmmuseum zur Vorführung von Ręce do góry (Hände hoch!) haben Sie im Gespräch mit Stefan Drößler erzählt, wie sie 1967 durch dieses kritische Werk zur Emigration aus der damaligen Volksrepublik Polen gezwungen wurden. Was geschah damals genau?
Jerzy Skolimowski: Morgens um acht hatte ich einen Anhörungstermin im sogenannten Weißen Haus, dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei in Warschau. Die Sekretärin sagte mir: »Sie haben fünf Minuten«, als ich das Büro des Genossen betrat. Ich dachte beim Sprechen über die verrinnende Zeit nach – drei Minuten, vier Minuten –, und schließlich sagte ich: Wenn dieser Film nicht gezeigt wird, kann ich in Polen keine Filme mehr drehen. Da stand er auf und meinte: Viel Glück! Und am nächsten Tag brachten sie mir meinen Pass vorbei. Das bedeutete de facto, dass ich ausgewiesen war. Im Keller des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei gab es übrigens einen Vorführraum. Ganz offensichtlich liebten die Parteioberen meinen Film, aber unglücklicherweise führte die Intervention des russischen Botschafters, der sagte: »Wenn dieser Film gezeigt wird, bekommt Ihr Schwierigkeiten!«, dazu, dass er verschwand.
artechock: Das war ja immerhin vierzehn Jahre nach Stalins Tod und der darauffolgenden liberaleren Chruschtschow-Ära…
Skolimowski: Ja, wir glaubten zu jener Zeit an die Tauwetterperiode und daran, dass die kommunistische Ära bald vergessen sein würde – was aber nicht der Fall war, wie Sie wissen. Der Geist der Menschen war indoktriniert. Als Stalin am 5. März 1953 starb, sah ich Menschen auf der Straße weinen – einige zumindest, die glaubten, dass nun nichts mehr sein würde wie zuvor. Sie hatten Angst vor einer Verschlechterung und weinten deshalb.
artechock: Im Jahr 2010 haben Sie Essential Killing gedreht, in dem es um geheime CIA-Gefängnisse in Ostpolen geht, in denen gefoltert wurde. Wie hat die traditionell USA-freundliche polnische Öffentlichkeit auf diesen Film reagiert?
Skolimowski: Merkwürdigerweise haben die Amerikaner ausgerechnet an dem Tag, an dem der Film beim Festival in Venedig laufen sollte, offiziell zugegeben, dass es diese Gefängnisse gibt. Ein seltsamer Zufall, aber so war es.
artechock: Seit 1991 mit der Verfilmung von Witold Gombrowicz' Roman „Ferdydurke“, die Sie wegen der vielen Kompromisse bei der internationalen Koproduktion als „Europudding“ empfanden, bis 2008 mit Cztery noce z Anna (Vier Nächte mit Anna) haben Sie als Filmemacher pausiert und stattdessen gemalt. Wie kam es dazu?
Skolimowski: Ich hatte mich damals sehr über das Filmemachen geärgert, allerdings hätte ich nicht gedacht, dass die Unterbrechung ganze siebzehn Jahre dauern würde. Aber die Malerei gewann einfach die Überhand und ich machte große Fortschritte, hatte Ausstellungen. Nebenbei: Jack Nicholson hat vier meiner Gemälde gekauft, was mich sehr gefreut hat, Dennis Hopper hat drei erworben, ebenso einige andere berühmte Leute wie Michael Cimino. Ich war also mit dieser neuen künstlerischen Aktivität ziemlich beschäftigt, mit der ich bei Null angefangen hatte. Aber dann dachte ich mir: Zehn, zwölf Jahre Abstinenz vom Filmemachen sind in Ordnung, aber jetzt sind es siebzehn Jahre. Und ich fühlte soviel neue Energie in mir, dass ich mir sagte: Okay, jetzt kann ich wieder einen Film drehen.
artechock: War es auch die Sehnsucht nach Polen, die Sie in die Masurischen Wälder ziehen ließ?
Skolimowski: Ja, sicher. Ich hatte ein schönes Haus in Malibu, wo ich all diese großen Formate gemalt habe, was ich jetzt nicht mehr kann – sie waren drei mal fünf Meter groß. Zunächst habe ich die Leinwand in meinem Pool eingeweicht und sie dann zum Trocknen in die Sonne gelegt, und anschließend zurück in den Pool. Diese Kombination aus Wasser und Sonne ergab einen sehr speziellen Hintergrund. Dann bin ich nach Polen gezogen, und damit der Wechsel von diesem 180-Grad-Panoramablick auf den Ozean und den Horizont vor mir und mit den Bergen von Santa Monica hinter mir – ein herrlicher Ort! Deshalb dachte ich mir, ich kann jetzt nicht in eine Stadt ziehen. Und dann habe ich ein kleines ehemals deutsches Jagdhaus gefunden, tief im Wald. Ich habe also das Meer und die Berge gegen den echten Wald getauscht, weit weg von allen Leuten und mit einer schrecklichen Zufahrtsstraße. Die Anfahrt war das einzige Problem, aber sonst war es sehr schön: Zu meinem Haus kamen wilde Tiere, Hirsche, Wildschweine, Füchse… Es war eine totale Veränderung in meinem Leben. Und da ich wieder für einen Film bereit war, habe ich mich entschieden, Vier Nächte mit Anna in Masuren zu drehen. Manche Szenen entstanden etwa hundert Meter von meiner Jagdhütte entfernt, was sehr praktisch war.
artechock: Wie kam es zu diesem Film?
Skolimowski: Mein damaliger Produzent Paulo Branco sagte: Du solltest einen kleinen Film machen, nur um zu zeigen, dass du nach siebzehn Jahren Pause noch dazu fähig bist. Ich war einverstanden und unterschrieb einen Vertrag, den ich dann aber komplett vergessen habe. Und drei Tage vor Ablauf des Vertrags bemerkte Ewa, meine Frau, dass wir noch nichts gemacht hatten und eine Konventionalstrafe würden zahlen müssen – eine schreckliche Sache. Daraufhin beschlossen wir, das Drehbuch in drei Tagen zu schreiben. Ewa hatte in der „Los Angeles Times“ im Vermischten eine Nachricht entdeckt, wonach ein Japaner sich so sehr in eine Unbekannte verliebt hatte, dass er nachts durch ihr Fenster im ersten Stock stieg und sie im Schlaf betrachtete. Auf dieser Grundlage entwickelten wir Vier Nächte mit Anna und schickten das Drehbuch an Branco. Achtundvierzig Stunden später rief er an und sagte: »Es ist phantastisch, lasst es uns machen« – und so geschah es.
artechock: Noch einmal zurück zu ihren Filmen aus den 1960er Jahren. Ręce do góry!, Hände hoch!, wurde ja zweimal von der Zensur verboten, 1967 und nach der Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981. Droht angesichts der restriktiven Kulturpolitik der Kaczynski-Regierung eine neue Art von Zensur in Polen?
Skolimowski: Das betrifft mich bislang nicht, da ich mich unter der neuen Regierung nicht um eine Finanzierung bemüht habe. Unter meinen Kollegen gibt es ein gewisses Zögern, wie man mit der neuen Situation umgehen soll. Ich habe da bis jetzt keine Erfahrung gemacht, deshalb weiß ich es wirklich nicht. Polnische Filme waren ja in der jüngsten Zeit sehr erfolgreich – Pawlikowski wurde in Cannes als bester Regisseur ausgezeichnet, Szumowska erhielt den Silbernen Bären in Berlin. Im Moment ist das polnische Kino also eher stark, und ich hoffe, dass es das bleiben wird. Natürlich versucht die neue Regierung, so viel Einfluss wie möglich auszuüben. Aber die Menschen in der Filmbranche beharren doch sehr entschieden auf ihrem eigenen Willen und auf dem, was sie machen möchten.
artechock: Aber ist dieser Wille in einer sich völlig verändernden Medienlandschaft stark genug?
Skolimowski: Bisher ist die Situation mehr oder weniger okay, aber man weiß natürlich nie, was geschehen wird. Selbstverständlich gibt es von der Regierung aus Druck, die sich sogenannte patriotische Epen über nicht unbedingt heldenhafte Figuren der polnischen Geschichte wünscht, aber noch ist das nicht geschehen.
artechock: Haben Sie bei den sehr beeindruckenden Zug-Szenen in Hände hoch! mit Gips gearbeitet?
Skolimowski: Ja, und es war sehr ungesund, diesen Gips einzuatmen, wir haben ziemlich gehustet.
artechock: Wie kommt es, dass in Ihren frühen Filmen wie Barriere und Hände hoch! so viele Medizinstudenten auftreten? Könnte es sich um eine Analyse der sozialistischen Gesellschaft handeln? Man denke nur an die vielen lateinischen Muskelbezeichnungen, die in Barriere aufgeführt werden.
Skolimowski: Da haben Sie recht, aber das habe ich damals nicht miteinander in Verbindung gebracht, als ich die Drehbücher schrieb. Aber doch, das stimmt, auch wenn ich mich nie für das Studium der Medizin interessiert habe.
artechock: Und es blitzen immer wieder Assoziationen an den Zweiten Weltkrieg auf. Die Szenen in dem Güterzug in Hände hoch! erinnern an die deutsche Besatzung und die Deportationen.
Skolimowski: Das war der metaphorische Ausdruck dessen, was damals in den Köpfen der Menschen vor sich ging. Die Erinnerungen an den Krieg waren noch sehr stark. Wie Sie vielleicht wissen, starb mein eigener Vater im Konzentrationslager von Flossenbürg. Von seinem Tod hatte ich Visionen, die in den Film eingeflossen sind.
artechock: Auch in Ihren späteren Filmen findet sich häufig ein autobiographischer Bezug.
Skolimowski: Ja, besonders bei dem Film, den ich 1984 in London gedreht habe, Success Is the Best Revenge. Es handelt sich um die Geschichte eines polnischen Regisseurs, der sich danach sehnt, sich in der angespannten politischen Situation seines Heimatlandes zu Wort zu melden, was er als Emigrant aber nicht kann, genau wie es bei mir war. Ich wurde von Michael York gespielt, und wir hatten insgesamt eine hervorragende Besetzung mit Michel Piccoli und Anouk Aimé. Aber der Film ähnelte einem Tagebuch. Meine Frau spielte die Frau von Michael York und meine Söhne deren Kinder.
artechock: Wie lange haben Sie in London gelebt?
Skolimowski: Lange, etwa sieben oder acht Jahre, und dann mehr als zwanzig Jahre in Kalifornien. Ich habe Polen 1978 verlassen und bin 2006 zurückgekehrt, war also fast dreißig Jahre außer Landes.
artechock: Gibt es einen spezifisch britischen stilistischen Einfluss bei Filmen wie Deep End (1970), der in einem Londoner Schwimmbad spielt, bei dem es sich in Wahrheit um das Müllersche Volksbad handelt, und dem sanften südenglischen Horrorepos The Shout (Der Todesschrei) von 1978?
Skolimowski: Ich war das, was die Briten einen „bloody foreigner“ nennen. Aber als ein solcher hatte ich einen speziellen Blick auf die britische Lebensart. So verstehe ich zum Beispiel immer noch nicht das Geringste von Cricket, ein Spiel, nach dem sie verrückt sind. Aber da wichtige Szenen in Der Todesschrei vom Cricket-Match handeln, bin ich zu einem Spiel gefahren und habe mich zu Tode gelangweilt. Alle fünfzehn Minuten passierte etwas und ich fragte: Was war das, was war das? – Das war „four legs“, bekam ich zur Antwort. Also notierte ich „four legs“. Ich stellte eine kurze Liste mit den wenigen Momenten zusammen, die mir interessant erschienen. Als wir dann gedreht haben, sagte ich, wir beginnen mit „four legs“, und wir fügten diverse Fragmente aneinander, aber es war trotzdem ein Cricket-Spiel. Das illustriert meine Haltung zum britischen Lebensstil: Was mir bemerkenswert erschien, das habe ich verwendet. Beide Produktionen wurden als britische Filme des Jahres ausgezeichnet, ich erhielt den sogenannten »Evening Standard Award« aus der Hand von Prinz Charles, es war eine große Zeremonie.
artechock: Neben Deep End haben Sie noch einen zweiten Film in München realisiert?
Skolimowski: Deep End wurde nicht komplett in München gedreht, jedoch alle Szenen in Innenräumen sowie eine Szene im Englischen Garten. Natürlich waren es echte Londoner Straßen, aber zwei Drittel des Films entstanden in München. Und der andere war King, Queen, Knave mit Gina Lollobrigida und David Niven, den wir in den Bavaria-Studios gedreht haben, mit einer Ausnahme in Nizza, wo eine der Schlussszenen spielt.
artechock: Im Filmmuseum sprachen Sie davon, einen Avantgarde-Film zu planen. Können Sie schon Details verraten?
Skolimowski: Eigentlich sollte ich dazu noch nichts sagen, da ich es noch nicht formulieren kann. Instinktiv weiß ich, was ich sehen möchte: Ich möchte mit filmischen Mitteln so nah wie möglich an einen echten Traum herankommen. Träume bestehen ja oft aus unzusammenhängenden Fakten und seltsamen Situationen, aber insgesamt ergibt sich ein Sinn, weil der Traum zeigt, was in unserer Psyche vor sich geht. So einen Film würde ich gerne machen, aber ich kann das noch lange nicht auf dem Papier in Worte fassen.
artechock: Sie sagten auch, dass Sie die meisten Gegenwartsfilme als „zu vorhersehbar“ empfinden.
Skolimowski: Das meine ich generell. Ich vermeide es mittlerweile, Filme anzuschauen, vor allem Hollywood-Produktionen. Zum Glück habe ich in The Avengers direkt am Anfang mitgespielt, so dass es nach zehn Minuten vorbei war, denn ich kann solche Filme nicht ansehen.
artechock: Die Retrospektive im Münchner Filmmuseum endet am 24. Juni mit Ihrem jüngsten Film 11 Minut, einem formalen Meisterwerk aus dem Jahr 2015. Steckt in dem Titel eine Anspielung auf 9/11?
Skolimowski: Vielleicht ein kleines bisschen, aber meine Überlegung zu dieser Zahl war folgende: Ich wusste, es werden acht oder neun Episoden, von denen jede etwa zehn Minuten dauert. Also kann ich entweder die Zahl zehn aussuchen, was aber zu glatt wirkt und an die Zehn Gebote erinnert, oder elf oder zwölf. Zwölf ist aber mit den zwölf Aposteln und den zwölf Monaten auch schon zu belegt, ebenso die Dreizehn. Also erschien mir elf als die beste Zahl, außerdem sind die beiden Einsen grafisch reizvoll, deshalb habe ich nicht gezögert, sie auszuwählen.