»Es wurde es Zeit, dass wir im Kino durch die Hölle gehen« |
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Der Horror kommt bei Lars von Trier immer in Serie | ||
(Foto: Concorde) |
The House That Jack Built, der Titel von Lars von Triers neuem Film klingt harmlos, als ginge es um das Portrait eines Architekten. Ein Architekt ist jener Jack zwar tatsächlich, vor allem aber ist er ein Serienmörder.
Der Däne Lars von Trier, Regisseur dieses Films, gilt seit langem als das »enfant terrible« des Weltkinos, ein unumstrittener Meister seines Fachs,
der das Publikum trotzdem regelmäßig mit seinen Provokationen zwischen Empörung und Begeisterung spaltet.
Und weil das so ist, ist The House That Jack Built auch überhaupt kein gewöhnlicher Serienmörderfilm. Vielmehr handelt es sich hier nicht nur um Lars von Triers ganz persönliche Interpretation von Dantes »Die Göttliche Komödie«, sondern um die
Selbstkritik eines Künstlers, die zugleich eine Kritik an jenem Publikum ist, das solange in Gewalt vernarrt ist, solange diese nur gut konsumierbar verpackt wird. Trotzdem ist dies aber auch ein humorvoller Film. Zur Seite stehen dem Dänen einmal mehr große Schauspieler: Unter anderem Uma Thurman, Bruno Ganz und in der Titelrolle der wandlungsreiche Matt Dillon.
Das Gespräch führte via Bildtelefon Rüdiger Suchsland
Lars von Trier: Hallo?
artechock: Hallo, hier ist Rüdiger. Können Sie mich hören und sehen?
von Trier: Ja, ich kann Sie in jedem Fall sehen und hören auch. Können Sie mich sehen?
artechock: Ja unbedingt. Wo immer Sie sind. Ich bin in Duisburg bei einem Dokumentarfilmfestival in einem Hotelzimmer.
von Trier: Ok Ok.
artechock: Danke für Ihre Zeit. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Film. Ich habe ihn in Cannes gesehen, und mochte ihn sehr gern. Ich würde gern zunächst einmal etwas über Ihre Ausgangsideen erfahren: Wie kamen Sie dazu The House That Jack Built zu drehen?
von Trier: Yeah... Das ist eine gute Frage. Jenie Hallund, eine Frau, mit der ich zusammenarbeite, fragte mich irgendwann, ob ich nicht etwas über die Hölle machen wollte? Ich fand das einen guten Einfall. Ich weiß nicht mehr genau, wie ich davon dann zu den Serienmördern kam, aber meine früheren Frauen waren aus irgendeinem sonderbaren Grund richtig verrückt nach allem, was mit dem Thema Serienkiller zu tun hatte.
artechock: Ist nicht die ganze westliche Kultur in den letzten zwei, drei Jahrzehnten in gewissem Sinn besessen von dem Thema? Denken Sie an Das Schweigen der Lämmer...
von Trier: Ja, aber das ist etwas, das Frauen mehr fasziniert. Wenn ich meine Ex-Frauen als Maßstab nehme: Es war viel wichtiger für sie als für mich oder andere Männer, die ich kenne.
Und darum dachte ich, ich könnte auch andere Leute dafür interessieren. Ich habe das Genre genommen, und gewissermaßen gedreht und verzerrt. Das Ergebnis ist The
House That Jack Built. Ich weiß nicht mehr, in welcher Reihenfolge ich auf bestimmte Ideen zu diesem Hauptthema Hölle kam, aber irgendwann hat dann alles einen Sinn gemacht und zusammengepasst.
artechock: Waren die Bücher, die Ihre Frauen gelesen haben, Sachbücher oder Romane?
von Trier: Romane.
artechock: Frauen mögen das Horrorgenre lieber als Männer. Manche Wissenschaftler behaupten, das liege daran, dass Frauen eine andere Beziehung zu körperlichem Schmerz haben?
von Trier: Ok...
artechock: Teilen Sie diesen Eindruck? Oder sehen Sie das anders?
von Trier: Keine Ahnung. Ich weiß nicht, was eine Frau den ganzen Tag über erleben muss, wie es ist, eine Frau zu sein. Aber vielleicht ist es wahr. Was mich erstaunt: Wenn ich mir Dokumentarfilme über Gerichtsprozesse ansehe, sitzen im Publikum immer viel mehr Frauen als Männer.
Es gibt Unterschiede zwischen den Geschlechtern.
artechock: Absolut... Ich gehöre zu jener Minderheit unter meinen Filmkritikerkollegen, die finden, dass Sie einer der großen Frauenregisseure unserer Zeit sind. Ich weiß, dass dem nicht jeder zustimmt.
Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie glauben, dass sich Ihr neuer Film mehr an weibliches Publikum richtet?
von Trier: Nun, „richtet“ würde ich nicht sagen, aber die erwähnte Disposition meiner Exfrauen hat mich neugierig gemacht.
Ich richte mich nie an ein bestimmtes Publikum. Aber für mich war das Thema nicht so interessant, wie es glaube ich für Frauen ist. Andererseits wurde es Zeit, dass wir im Kino derart durch die Hölle gehen. Das ist lange nicht mehr passiert.
artechock: Wie haben sie den Darstellerinnen ihre Figuren und die Story beschrieben? Schließlich werden sie alle brutal ermordet. Hat sich da die eine oder andere unwohl gefühlt?
von Trier: Ich glaube nicht, dass sich irgendwer unwohl gefühlt hat. Für mich war das eine sehr angenehme Arbeit und für Matt Dillon auch. Es war alles recht selbstverständlich.
artechock: Mussten Sie Ihnen irgendetwas erklären?
von Trier: Meine Arbeitsweise ist folgende: Normalerweise gibt es ein Treffen, bei dem die Darsteller selbst ihre Figuren beschreiben. Wir filmen das und ich fülle danach die Leerräume und mache Vorschläge. Wir verändern auch die Charaktere ständig ein wenig. Mir ist es wichtig, dass Schauspieler ihre eigenen Ideen einbringen. Und ich kann dann im Schneideraum bestimmte Dinge verstärken, oder im Gegenteil abschwächen.
artechock: Was würden Sie sagen: Wo entstehen Ihre Filme eigentlich hauptsächlich? Ist schon nach der Vorbereitungsphase alles fertig? Beim Drehen selbst? Oder vor allem danach im Schneideraum?
von Trier: Ich mag den Prozeß im Schneideraum sehr. Die Szenen vorher zu filmen – das ist eher wie der Gang zum Supermarkt: Man holt sich alles Mögliche, nimmt sich, was man braucht, darf nichts Wesentliches vergessen, und besorgt sich im Zweifelsfall etwas zuviel von allem. Dann fährt man nach Hause und kocht.
Das Drehen selbst kann manchmal etwas hart sein. Für mich jedenfalls.
Aber im Schneideraum, da habe ich dann
wirklich die Kontrolle.
artechock: Ist es Ihnen schon mal passiert, dass Sie beim Schnitt merkten, dass Sie etwas vergessen hatten?
von Trier: Nicht wirklich. Erstmal benutze ich ja oft eine Erzählstimme aus dem Off. Das ist sehr clever, denn damit kann man auch alle Unklarheiten vermeiden. An diesem Erzähltext arbeite ich ständig, und passe ihn den Bildern an. Und wenn ich irgendetwas beim Drehen vergessen habe, kommt es hinein. Aber ich erinnere mich nicht, dass bei mir jemals ein Nachdreh nötig war.
artechock: Wie gehen Sie eigentlich mit Musik um? Im Schneideraum geht es ja darum, dass man für den Film einen Rhythmus findet. Und man könnte sogar behaupten, dass Film der Musik näher steht, als der Literatur oder der Malerei.
von Trier: Ja, das könnte man. Man denkt an so etwas aber nicht während der Arbeit. Aber in meinen letzten Filmen habe ich gemerkt, dass ich nicht so viel verschiedene Musik brauche. Ich bin kein Fan davon, lange Passagen mit Musik zu unterlegen und Gefühle ständig zu verstärken, um das Publikum zu manipulieren. Mir ist es lieber, kleine, klare Akzente zu setzen – wie zum Beispiel mit der Musik von Glenn Gould in diesem Film.
artechock: Nach Glenn Gould wollte ich Sie sowieso fragen. Für die Hauptfigur Jack scheint er große Bedeutung zu haben. Identifiziert er sich – als Künstler – mit Gould?
von Trier: Ich mag Glenn Gould sehr. Zunächst mochte ich ihn sehr, weil ich aus irgendeinem Grund dachte, er sei Jude. Das stimmt aber ganz und gar nicht. [Lacht] Ein merkwürdiger Mann, in seiner Arbeit von einer höllischen Disziplin.
Ich finde diesen Clip mit den Bachaufnahmen fantastisch. Ich hab mich in sie verliebt.
artechock: Die Musik-Rechte waren vermutlich sehr teuer...
von Trier: Nein, ich glaube das war gar nicht so teuer – das Problem ist, dass die Stiftung, die seine Rechte verwaltet, Angst vor Missbrauch hat, und genau hinschaut, wozu man die Rechte haben möchte.
artechock: Sehen Sie irgendeine Verbindung zwischen Glenn Gould und Ihrem Hauptthema „Hölle“?
von Trier: Nein, ich glaube er sitzt auf einer kleinen weißen Wolke. Er war eine sehr bemerkenswerte Person. Andererseits ist meine Hölle auch eine kleine nette Hölle. Es ist nicht so, dass da viele Teufel mit einem Dreizack herumlaufen würden. Es ist ein bisschen anders. Und natürlich war ich sehr froh, dass ich Bruno Ganz als Höllenführer hatte.
[Das Gespräch wird von einer Computerstimme unterbrochen]
Sorry, das war etwas aus meinem Computer. Er sagt mir regelmäßig, wie spät es ist, und ich weiß nicht, wie man das ausschalten kann. Computer sind die moderne Hölle.
Was interessant an Computern ist: Kein Science-Fiction-Autor hat je das Internet vorausgesagt.
artechock: Vielleicht Kubrick ein bisschen? Mit seinem Weltraumcomputer HAL. Klingt übrigens wie „Hölle“...
von Trier: Am Anfang schien das Internet die totale Demokratie zu verwirklichen. Aber die Dinge funktionieren auf seltsamen Wegen. Ich habe vorausgeahnt, dass die kleinen Kamera den Film revolutionieren würden.
artechock: Heute ist alles digitalisiert. Alle möglichen alten Filme existieren heute in digitalen Versionen. Alles steht zur Verfügung, aber in Versionen, denen man nicht vertrauen kann. Zum Beispiel Leni Riefenstahls »Olympia« existiert auf You-Tube in einem Dutzend Fassungen. Aber sie sind alle falsch, weil Riefenstahl den Film später umgeschnitten und gewissermaßen entnazifiziert hat...
von Trier: Die Nazi-Kunst ist sehr interessant: Durch die politische Situation haben ein paar Opportunisten sehr viel Freiheit bekommen. Ich denke an Leni Riefenstahl und an Hitlers Architekten Albert Speer. Es ist interessant: Sie hätten kein künstlerisches Leben haben können ohne diese politischen Umstände.
Ich würde heute sehr gern ein paar Filme sehen, über die ich mich wirklich aufregen und mit denen ich innerlich streiten
kann.
Ich bin es so satt, immer diese europäischen und amerikanischen Filme zu sehen, in denen alles gut ausgeht und wir Zuschauer zum Besseren erzogen werden sollen.
artechock: Dieses Wellness-Kino mag ich auch gar nicht... In The House That Jack Built benutzen Sie auch einige Ausschnitte aus Nazi-Filmen, NS-Wochenschauen Bilder des Faschismus. Warum das? Repräsentiert das für Sie das ultimative Böse? Wollten Sie Bilder für die Hölle finden? Was waren Ihre Gedanken?
von Trier: Wenn ich an Dokumentarfilme über die NS-Zeit denke, die ich sehe, fällt mir auf, dass deutsche Filme viel hasserfüllter sind, als dänische. Da würden die Fakten genügen. In deutschen Filmen, wird immer klargemacht, dass das böse ist.
Der Stil meines Films ist durch das bestimmt... Ich sollte nachdenken, bevor ich rede. [Denkt ein paar Sekunden nach]
Ich reize meine Themen immer bis zum Extrem aus. Vielleicht gehe ich zu
weit. Jack spricht zu dem von Bruno Ganz gespielten Verge in Bildern des Dritten Reichs und seiner Folgen. Es sind Bilder extremer Brutalität und des Mordens. Besonders jene Bilder, in denen Bulldozer Leichen zusammenschieben, sind in meiner Sicht Bilder des absolut Bösen. Die Menschen sind tot, aber man sieht das Leiden immer noch. Ein sehr starkes Bild.
artechock: Sie verbinden die Gewalt mit bestimmten Vorstellungen von Kunst. Ihre Hauptfigur Jack ist ein Künstler. Er ist Architekt – das ist natürlich eine sehr spezielle Kunstform, die dem Kino sehr nahesteht. Viele Filmemacher haben eine Affinität zur Architektur, oder sogar Architektur studiert, wie Fritz Lang.
von Trier: Wirklich? Das wusste ich nicht.
artechock: Ja, genau wie der Filmkritiker und Historiker Siegrfried Kracauer, der das berühmte Buch über das Kino der Weimarer Republik schrieb: „Von Caligari zu Hitler“. Haben Sie eine Idee, worin diese Verbindung zwischen Film und Architektur besteht?
Was interessiert Sie an Architektur?
von Trier: Architekten haben mich immer interessiert. Der erste Liebhaber meiner Mutter war ein Architekt. Sie floh 1941 nach Schweden, weil sie im Widerstand war, und ließ den Architekten zurück.
Und heute lebe ich in dem Haus, das mir meine Mutter immer als „das Haus des Architekten“ beschrieben hat. Es ist ein altes Sommerhaus, dass für mich immer eine spezielle Bedeutung hatte. Ich habe es vor 20 Jahren gekauft, und baue
es seitdem um. Gerade in diesen Tagen geht der Umbau zuende.
Dies zeigt einem viele Dinge: Vor allem sollte man nicht glauben, dass man irgendetwas selbst entscheidet. Es ist immer die Mutter, die einen programmiert. Als mir meine Mutter gestand, dass mein Vater nicht mein leiblicher Vater war, sagte sie, sie hätte „künstlerische Gene“ gesucht.
Und natürlich möchte man als Kind nie das tun, was die Eltern von einem wollen. Aber man endet so, dass man genau das tut.
Es gibt natürlich auch eine negative
Programmierung: Indem Eltern sehr gegen etwas sind, führen sie ein Kind genau dahin.
artechock: Sie sagen, Sie bauen Ihr Haus um. Das heißt Sie sind selbst eine Art Architekt. Gibt es irgendeine geheime Beziehung oder Nähe zu Ihrer Hauptfigur, dem Architekten/Künstler/Mörder?
von Trier: Ja, aber ich bin immer sehr schlecht, wenn ich versuche in meinen Filmen Selbstportraits einzubauen. In Dogville gibt es auch eine Figur, die davon träumt, Künstler zu sein – und das ist der größte Schurke von allen.
Alle meine Filme sind eigentlich sehr humorvoll, oft Komödien, aber das kommt nicht heraus. Die Ideen
werden so geformt, wie wenn man sich einen Witz ausdenkt. Und dann erzählt man ihn, vermasselt aber die Pointe.
Dann sieht man nur noch die ernste Seite hinter allem. Humor ist nicht das Gegenteil von Ernst.
artechock: Ihr Film ist in fünf Kapitel unterteilt. Welchen Sinn hat diese dramaturgische Struktur? Man denkt an die Stadien der Höllenfahrt in Dantes „Göttlicher Komödie“...
von Trier: Ich bin kein Experte in irgendetwas. Aber ich habe Dantes „Göttliche Komödie“ gelesen. Es scheint, als hätte Dante vor allem den Teil genossen, der von der Hölle handelt. Darin konnte er sich an seinen vielen Feinden rächen. Den Himmel zu beschrieben, war dagegen gar kein Vergnügen. Der Himmel ist kein Spaß [Lacht].
Ich mag ja generell Kapitel in meinen Filmen. Das liegt an Stanley Kubricks Film Barry Lyndon, den ich liebe. Davon habe ich gelernt. Das hilft dem Publikum, alles zu strukturieren und nachzuvollziehen.
artechock: Ich habe mir den Film so zurechtgelegt, dass die verschiedenen Kapitel, die ja in ihrer Atmosphäre und in ihrem Charakter sehr verschieden sind, verschiedene Phasen in der Geschichte des Horrorkinos repräsentieren. Sie erzählen damit eine Art Geschichte des Kinos des Horrors und des Schreckens.
von Trier: Ok. Interessant.
artechock: Ich weiß nicht, ob Sie damit etwas anfangen können, aber der erste Teil atmet die Stimmung des Film noir... später folgt das 50er-Melodram, dann die B-Movies der 70er, und so weiter... Aber vielleicht finden Sie das doof, es ist eher ein Verständnisangebot...
von Trier: Jaja – aber das ist sehr interessant. Tatsächlich wollte ich eine Evolution und Eskalation der Gewalt zeigen: Es beginnt mit einem Mord aus Zufall, und wird immer sadistischer. Aber es geht nicht anders. Jack ist sehr böse. Aber es spricht zu uns. Was er sagt macht einen gewissen Sinn, wenn auch nicht sehr viel – aber logisch kann man ihm folgen: Mord als schöne Kunst betrachtet
artechock: Die Kapitel sind in sich sehr verschieden, die Atmosphäre, ihr Geschmack...
von Trier: Ja. Gut so. So soll es sein.
artechock: Sicher war das Ihre Absicht. Aber warum?
von Trier: Wissen Sie, jemand wie ich, dessen bestes Fach früher in der Schule immer Mathematik war, endet immer wieder in Logik und ihren Mustern. Egal wie sehr ich dagegen ankämpfe.
Sich müssen mich entschuldigen. Ich hatte vor unserem Gespräch geschlafen, und muss erst wach werden. Ich kämpfe mit der Sprache. Beim Drehem rede ich dauernd Englisch, aber zur Zeit bin ich außer Form. Würde ich Dänisch sprechen, würde ich viel bessere,
genauere und intelligentere Antworten geben.
artechock: Verstehen Sie eigentlich Deutsch?
von Trier: Oh ja! Ich verstehe das Meiste. Aber es kommt sehr darauf an, wer spricht. Sie wissen vermutlich, dass ich beinahe in Bayreuth Wagner inszeniert hätte. Damals bin ich bestimmt zehnmal nach Bayreuth gefahren, um mich mit Wolfgang Wagner, dem Enkel von Richard Wagner, zu treffen. Der sprach fränkischen Dialekt – das war sehr schwierig.
Das einzige, was ich verstanden habe, war, als er mich anschrie, meine Interpretation
sei „entartet“. Und das ganze Komitee saß da und erstarrte, und guckte peinlich berührt zu Boden – aber für ihn war dieser Ausdruck vollkommen normal.
artechock: Ich kenne keinen, der heute dieses Wort gebrauchen würde, auch nicht die rechtsextremen Demagogen...
von Trier: In dem Sinn bin ich ziemlich stolz, „entartet“ genannt zu werden, oder „Persona non grata“. Das ist ok. Alles in Ordnung. Ich fühle mich entartet.
artechock: In jedem Fall sind Sie mit anderen großen Künstlern in einem Boot. In Cannes hatte ich den Eindruck, dass das Publikum in seinen Erwartungen in zwei Hälften gespalten war: Die einen freuten sich, einen neuen Lars-von-Trier-Film zu sehen. Die anderen warteten nur darauf, dass Sie noch einmal durch irgendeine Provokation zur „Persona non grata“ erklärt würden.
Wie haben Sie Cannes erlebt?
von Trier: Naja, die Tatsache, dass 300 Leute während des Films rausgelaufen sind, oder wieviele auch immer, ist für mich vollkommen ok. Wissen Sie, das Publikum in Cannes – dort gehen ja manche nur zu einer Premiere, um über den Roten Teppich zu laufe, und photographiert zu werden. Und schon bei meinem ersten Film sind seinerzeit viele Leute rausgelaufen.
Aber ich muss sagen: Ich war berührt über die freundliche Begrüßung durch
das Publikum. Das hatte ich nicht erwartet.
artechock: Ich hatte später nur die Berichte gelesen: »Skandal in Cannes! Lars hat es wieder gemacht« – irgendwas in der Art.
Der tiefere Grund meiner Frage ist, dass ich wissen will: Denken Sie beim Filmemachen an ein bestimmtes Publikum?
von Trier: Es ist sehr einfach. Ich nehme mich selbst zum Maßstab: Was möchte ich gerne sehen? Ich denke nicht an ein bestimmtes Publikum.
Mein Erfolgskriterium ist: Spielt der Film genug ein, um einen neuen zu machen? Aber nicht viel mehr, bitte. Denn dann fängt man an und kauft sich teure Häuser und Luxusautos. Um die zu bezahlen, muss man dann ganz schreckliche neue Filme drehen. Das wäre eine Todsünde.
artechock: Das heißt, wir werden nicht erleben, dass Sie eine Netflix-Serie drehen?
von Trier: [Lacht] Sie berühren damit ein schwieriges Thema. Was spricht denn aus Ihrer Sicht gegen Netflix?
artechock: Das passt eigentlich zu unserem Thema. Für einige Filmemacher bietet Netflix große Chancen. Aber es ist wie ein Teufelspakt.
Sie müssen sich an deren Regeln halten. Sie sind nicht mehr der Herr des Films. Ich frage mich, wie die Zusammenarbeit für einen Autorenfilmer wie sie ist. Der Kontrolle will, wie Sie. Sie müssen bei Netflix die Kontrolle abgeben, viel mehr, als wenn Sie selbst produzieren.
von Trier: Ja, das würde ich natürlich nie tun. Ich muss sagen, ich bin in einer sehr glücklichen Position. Wir haben diese Firma, sie verdient etwas Geld, wir drehen damit unsere Filme. Ich bin in der Hinsicht sehr glücklich, dass mir meine Sachen gehören und ich mein eigener Herr bin. Ich weiß nicht wie lang das der Fall ist, eines Tages wird damit Schluss sein.
Aber wenn ich schon mal in dieser Position bin, sollte ich sie auch nutzen.
Denn es gibt so viele Filmemacher, die diese Chance nicht haben. Natürlich gibt es auch Regisseure, die davor sehr viel Angst haben würden, wenn ihnen niemand Grenzen setzt.
artechock: Haben Sie eigentlich die Rechte an Ihren Filmen?
Lars von Trier: Ich habe einen prozentualen Anteil, ja.
artechock: Ich habe gefragt, weil es in Deutschland oft so ist, dass Filmemacher Ihre Rechte nach vier Jahren verlieren.
von Trier: Ach so. Nein, wir haben die kompletten Rechte an unseren Filmen.
artechock: Die ganze Urheberrechtssituation ist kompliziert...
von Trier: Der Grund, warum ich in The House That Jack Built Ausschnitte meiner eigenen Filme zeige, ist genau dies: Ich hätte gern Anderes gezeigt, aber das war alles so unglaublich teuer, dass wir gesagt haben: Zum Teufel damit, unsere eigenen Sachen können wir ohne Einschränkungen benutzen.
artechock: Also, wenn Sie es bezahlen könnten, würden wir Barry Lyndon-Ausschnitte sehen.
von Trier: Absolut! Ich habe eine ganze Liste im Kopf in der ich die für mich zehn bedeutendsten Filme aller Zeiten aufliste. Die sind alle aus Zeiten, als ich selber noch keine Filme gemacht habe.
Und sie sind alle lang.
Filme sollten „zu lang“ sein, wenn man sie zum ersten Mal sieht. Einer von ihnen ist Marguerite Duras India Song.
Ich muss sagen, ich war überrascht. Den sollte man unbedingt gesehen haben. Das ist für mich persönlich ein sehr bedeutender Film – er hat mich von den ersten Momenten an berührt.