Vom Sammeln und Jagen |
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Nicolas Wackerbarth beim Drehstart von Casting |
Das Gespräch führte Dennis Vetter
Ein Film über große Fußstapfen: Die Dokumentarfilmemacherin Vera (Judith Engel) soll zum Fassbinder-Jubiläum Die bitteren Tränen der Petra von Kant fürs Fernsehen neu verfilmen. Weil die Ergebnisse schon während der Vorbereitung des Drehs ausbleiben, macht der Sender immer stärkeren Druck. Doch die richtige Hauptdarstellerin will einfach nicht auftauchen.
Und zunehmend werden alle nervös...
Nicolas Wackerbarths neuer Film Casting wurde für den SWR gedreht und untersucht, wie während der Proben für einen Filmdreh alle Beteiligten einer Filmproduktion beruflich, privat und künstlerisch vereinnahmt werden. Nach der Uraufführung des Films als Eröffnungsfilm des diesjährigen Forums der Berlinale kann Nicolas
Wackerbarth kurz vor dem Kinostart auf die Festivalkarriere seines Films blicken. Grund genug, eine erste Bilanz zu ziehen. Im Gespräch erläutert der Regisseur, warum ihn das Improvisierte reizt und wie es sich für ihn eigentlich mit Fassbinder verhält.
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Nicolas Wackerbarth wurde am 31. Mai 1973 in München geboren und studierte erst Schauspiel an der Bayerischen Theaterakademie in München. Nach seinem Theaterengagement am Schauspiel Frankfurt, wurde er Ensemblemitglied an den Städtischen Bühnen Köln. Anschließend studierte er Filmregie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Nicolas Wackerbarth unterrichtet an verschiedenen Filmhochschulen (DFFB, UDK Berlin, HfG Karlsruhe, u.a.), kuratiert Filmprogramme und Filmgespräche wie REVOLVER LIVE an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Er ist Mitherausgeber der Filmzeitschrift REVOLVER, lebt als Regisseur und Autor in Berlin.
Sein Kurzfilm Halbe Stunden wurde nach der Premiere auf den Filmfestspielen in Cannes und den Kurzfilmtagen Oberhausen auf der Viennale gezeigt. Das Debüt Unten Mitte Kinn wurde auf dem Filmfest München mit einer lobenden Erwähnung bedacht, Halbschatten feierte seine Weltpremiere in der Sektion Forum der Berlinale. Casting wurde dort ebenfalls uraufgeführt, war dann Eröffnungsfilm des BAFICI und wurde zuletzt mit dem Filmkunstpreis Ludwigshafen ausgezeichnet.
artechock: Da Sie selbst viel als Schauspieler gearbeitet haben, kann ich mir natürlich eine Frage nicht verkneifen: War es bei Casting eine Erwägung, selbst vor der Kamera zu stehen?
Nicolas Wackerbarth: Nein. Meine Arbeitsmethode wäre auch schwierig anzuwenden gewesen, da bei Improvisationen jemand die Spielangebote von außen anschauen und ordnen muss. Für mich ist es wichtig, zu beobachten, welche Wege die Schauspielerinnen und Schauspieler beschreiten. Ich möchte ihnen bei ihren Entscheidungen, wie es in bestimmten Situationen weitergehen könnte, helfen. Das kann ich aber nur leisten, wenn ich selbst nicht Teil der Aktion bin. Ich weiß die Qualitäten eines Schauspielers vom Format eines Andreas Lust zu schätzen, der in so einen Film emotional sehr viel einbringen kann. Vielleicht ist auch meine Eitelkeit nicht so ausgeprägt, dass ich als Autor im Film auftreten und dann noch der Hauptdarsteller sein möchte, wie das zum Beispiel Woody Allen macht. Ich möchte eigentlich nicht als alleiniger Autor des Films angesehen werden. Ich finde, es wird meist vielschichtiger, wenn andere Körper ins Spiel kommen und andere Gedanken. Ich stoße etwas an und dann gehen wir gemeinsamen jagen und sammeln.
artechock: Sie sagen, Andreas Lust hat sehr viel eingebracht. Was interessiert Sie als Regisseur denn an bestimmten Schauspielenden?
Wackerbarth: Bei diesem Film ist es doch interessant, dass Schauspieler Schauspieler spielen. Dadurch entsteht eine Dopplung, die ihnen erlaubt, ihren Beruf zu kommentieren. Im Film gibt es zwar authentische Momente, aber die sind umgeben von spielerischen und satirischen Setzungen. Dieses Wechselspiel zwischen Dokumentation und Fiktion suche ich auf. Bei der Besetzung habe ich darauf geachtet, dass verschiedene Schauspielstile zur Geltung kommen. Corinna Kirchhoff repräsentiert natürlich die alte Schaubühne und deren besonderen Sprachduktus. Die Zeit, in der Die bitteren Tränen der Petra von Kant oder ähnliche Filme von Bergmann im Kino gestartet sind, hat sie noch miterlebt. Zurecht fordert ihre Figur ein, der Sprache Fassbinders gerecht zu werden und keinen naturalistischen, sondern einen Horváthschen Spielduktus zu verfolgen. Da in der Berufswelt der Agenturen und Produzenten ein dauerironischer Speech herrscht, der zwischenmenschliche Konflikte weglacht, suchte ich für diese Rollen Schauspieler mit Selbstironie. Milena Dreissig hat viele Komödien gespielt, darin ist sie fulminant... genauso wie Stephan Grossmann, ohne dass ich beide darauf reduzieren wollen würde. Und diesen beiden setze ich dann einem Schauspieler wie Andreas Lust gegenüber, der solche Strategien der Selbstdistanzierung überhaupt nicht kennt. Im Lauf des Projekts habe ich immer mehr realisiert, dass gerade Andis Ernsthaftigkeit und Direktheit einen großen Gewinn für das improvisatorische Arbeiten darstellt. Denn bei der Improvisation gibt es die Gefahr, dass Situationen von den Spielern nicht ernst genommen und veralbert werden. Für Andreas geht es aber immer ums Ganze: um Leben und Tod.
artechock: Können Sie über den Zusammenhang von Besetzung und Figuren sprechen?
Wackerbarth: In dem Moment, in dem der Anspielpartner die Hauptrolle Petra von Kant spielen muss, ist eine große Leidenschaft und tiefe Verzweiflung gefordert. Entstehen diese Gefühle nicht, dann rührt niemanden dieser Moment an. Folglich hätte ich jemanden, der das nicht spielen kann, falsch besetzt. Wenn diese Stelle im Film albern wird, dann kann der ganze Film ins Zynische kippen und uninteressant werden. Ich denke bei der Besetzung an solche Notwendigkeiten. Wichtig ist für mich, zu schauen, wie die verschiedenen Schauspieler aufeinander reagieren. Deshalb warte ich auch mit den Zusagen der Besetzung immer so lange, bis ich das ganze Ensemble zusammen habe – was alle total stresst. Ich muss viele Schauspieler lange hinhalten, bis ich alle zusammen habe. Was zwischen den Schauspielern passiert, ist aber für meine Entscheidung zentral. Erst durch das Verhalten zueinander, die Anziehungs- und Abgrenzungsdynamiken, definiert sich in der Improvisation ein Charakter. Zum Beispiel waren Judith Engel und Andreas Lust zusammen beim Casting. Judith war sehr fordernd. Sie war im Spiel angstfrei gegenüber einem Mann, stellte persönliche Fragen und forderte ehrliche Antworten ein. Judith hat an großen Theatern gespielt und hat ein Bewusstsein für Form, welches sich in ihren Körper eingeschrieben hat. Andreas Lust hat dagegen einen durchlässigen Körper, der sinnlich auf alles reagiert und nichts abblockt. Er spielt also nie. Im ganzen Material gibt es keinen Moment von ihm, der ausgedacht wirkt. Da treffen nicht nur zwei schauspielerische Welten aufeinander. Das hat einen solchen Reichtum, so dass ich gern auf andere Dinge verzichte, die einem vielleicht noch im Treatment wichtig erschienen.
artechock: Die Körperlichkeit von Andreas Lust wird im Film immer wieder kommentiert. Etwa wenn er in einer Szene mit Corinna Kirchhoff immer wieder von ihr zurechtgewiesen wird, mit dem Verweis, dass seine Figur eben gerade nicht über den Körper funktioniert.
Wackerbarth: Nicht seine Figur, sondern die Meta-Ebene des Theaterstücks wird ihrer Meinung nach durch dieses körperliche, naturalistische Spiel verfehlt. Wenn der Anspielpartner später im Film von den Frauen als Sexobjekt begutachtet wird, ist das übrigens auch eine Parallele zu Angst essen Seele auf. Da gibt es die Szene in der Britte Mira ihren Freundinnen Ali stolz präsentiert. So ein Begutachten ist heute in Castingshows Gang und Gäbe, aber nicht mit einem Schauspieler um die 45, sondern meist mit einer jungen Frau. Es war natürlich spannend, das einfach umzudrehen und zu sagen: Hier in diesem Film haben die Frauen die Machtposition inne. Im Fernsehen verschiebt sich die Anzahl der Hauptrollen für Frauen ab 30 Jahren auf ein Verhältnis von 70 % männlich und 30 % weiblich. Ältere Frauen sind in tragenden Rollen leider unterrepräsentiert. Einen Fernsehfilm – der sich um ein Casting dreht – mit 90% Frauen und einem offen schwulen Mann in den tragenden Rollen zu realisieren, ist also ein Statement dafür, diese falsche, vorherrschende Besetzungspolitik deutscher Filmproduktionen endlich zu ändern.
artechock: Einige der Schauspielerinnen, die Sie besetzt haben, sind ja ziemliche Veteraninnen. Wie kam es zur Entscheidung, Schauspielerinnen zu casten, die mehr Erfahrung haben als Sie, mitunter auch in puncto Status und Prominenz eine andere Grundlage mitbringen? War Ihnen ein Statusgefälle wichtig, um Ihre Machtposition als Regisseur zu reflektieren?
Wackerbarth: Es gibt einen Film von Chris Kraus (Scherbentanz), da spielt Margit Carstensen mit und in einem Rückblick stellt Andrea Sawatzki sie als junge Frau dar. Ursina Lardi war am Schauspiel Frankfurt, als ich dort für mein erstes Schauspiel-Engagement hinkam. Judith Engel kenne ich noch von den Zadek-Inszenierungen, von vor langer Zeit also. Und Corinna Kirchhoff von Schaubühnen-Inszenierungen. Ich kenne deren Geschichte und habe keine Scheu davor, mich mit ihnen in ein Arbeitsverhältnis zu setzen. Als Filmemacher denke ich dabei auch ihre Rollengeschichte mit. Prinzipiell finde ich es schön – auch als jemand, der eine Filmzeitschrift mit herausgibt und sich mit Filmgeschichte beschäftigt – Brücken zu schlagen. Die deutsche Filmgeschichte ist ja immer wieder von Brüchen durchzogen. Solche Bezüge werden sich nicht jedem Zuschauer erschließen. Aber wenn es das tut, schadet es nicht und macht Spaß...
artechock: Casting formuliert auch in der Tat einen sehr klaren Bezug zur Filmgeschichte und verweist auf Fassbinders Die bitteren Tränen der Petra von Kant. Der Film soll fürs Fernsehen neu inszeniert werden. Verspüren Sie als Regisseur denn prinzipiell ein Bedürfnis, sich zur Filmgeschichte deutlich zu positionieren?
Wackerbarth: Ich möchte mich zum Status Quo unserer Gesellschaft positionieren. Durch die Entscheidung, dass ein TV-Remake eines Fassbinder-Films gemacht wird, kann ich bestimmte Dinge sichtbar machen, die mir wichtig sind. Beispielsweise, dass im Vergleich zu damals dieser Casting-Prozess ewig dauert. Bei Casting hinterfragt Vera ihr Selbstbild, fragt sich ständig, ob sie in diesem Fernsehkontext überhaupt richtig aufgehoben ist. Man weiß, dass Fassbinder sehr schnell besetzt und sehr schnell gedreht hat. Er konnte wohl auch viele Filme gemeinsam mit dem Fernsehen schnell finanzieren. Nach dem Tod von Fassbinder wurde die Filmförderung eingeführt und damit haben sich die Dinge für viele sehr verlangsamt. Heute reicht man an verschiedenen Institutionen sein Projekt ein und muss als Filmemacher viel länger warten, bis man seinen Film finanziert bekommt. Ich bin ein Produkt davon. (lacht) Ein Produkt dieser unserer Bundesrepublik und seines Fördersystems. Für meine Filme brauche ich sehr lang. Das mag auch an mir liegen und dass ich nicht so schnell und gut schreiben kann wie der Fassbinder. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will mich da nicht aus der Verantwortung ziehen, aber Casting wollte keiner finanzieren. Ich wollte den Film schon 2014 drehen. Und ich kenne viele, die in solchen Warteschleifen stecken und hingehalten werden. Wenn du dann mal einen Film machen darfst, steigt natürlich der Druck enorm. Und das schürt wiederum die Angst vor einer falschen Besetzungsentscheidung. Davon zu erzählen, hat mir diese Setzung mit Fassbinder ermöglicht. Lustig ist ja auch der Ausgangspunkt unseres Films, dass das Theaterstück von Fassbinder für dieses TV-Remake heterosexualisiert worden ist und man auf den konservativen Roll-Back im Fernsehen hinweisen kann. Ein Fernsehspielchef erwartet sich von einer solchen Besetzung eine bessere Quote. Als Rechtfertigung dafür dreht man die liberale Argumentation einfach um und tut so, als ob heute ja ohnehin alle gleich sind. »Es geht ja nicht um eine lesbische Liebe, sondern nur um eine Liebe.« Genau. Klar. (lacht) Später äußert die Casterin, die diesen Satz im Film sagt, dann lauter Vorurteile gegenüber dem schwulen Anspielpartner und stellt in Frage, ob er für die Rolle aufgrund seiner Sexualität geeignet ist. Und das, obwohl seine Art sich zu bewegen nicht mal feminin ist. Und selbst wenn: haben schwule Schauspieler nicht vielleicht einen offeneren Zugang zu Erotik, egal ob männlich oder weiblich als diese ganzen deutschen verklemmten Heten-Darsteller? (lacht) Ich spiele nur damit, weil die gegenteilige Behauptung nicht nur in Casting-Kreisen immer wieder aufgestellt wird. Hier offenbart sich eine Kluft: jemand, der sich nach aussen hin liberal gibt und einen reifen Intellekt vorgibt, zeigt sein wahres Gesicht. So bald eine konkrete Frage in private Räume vordringt – etwas, was die eigene Sexualität oder Fantasie betrifft – wird man auf sein Bauchgefühl zurückgeworfen. In Behind-The-Scene Situationen werden andere Äusserungen getätigt, als die, die öffentlich vertreten werden. Diese Kluft ist interessant. Diese Kluft lässt sich mit der Methode der Improvisation gut erarbeiten. Weil wir alle, wie ich jetzt vielleicht auch gerade in diesem Interview, in solche Lücken immer wieder hineinfallen. Man realisiert dann: »Ok, ich dachte eigentlich immer, mir sei das klar. Aber in Wahrheit habe ich nichts begriffen. Ich dachte, ich bin schon viel weiter.« (lacht) Ich habe bloß ein mir genehmes Selbstbild erschaffen.
artechock: Euer Film spielt im Fernsehkontext und bildet diesen deutlich ab. Gleichzeitig wurde Casting auch wirklich fürs Fernsehen (SWR) produziert. Ist das denn nun ein subversiver Film?
Wackerbarth: Nein, ich finde ihn nicht subversiv, sondern „up front“. Bei den Schauspielern kam manchmal die Frage auf, ob manche Szenen nicht zu platt werden könnten oder zu direkt geraten. Darauf habe ich immer geantwortet, dass es doch gar nicht direkt genug sein kann. Ich meine, Fassbinder war ja auch nicht subtil. Ich sagte: »Wenn wir das jetzt als Fernsehproduktion realisieren, dann sollten wir doch auch unsere eigenen Arbeitsbedingungen thematisieren.« Ich stecke selbst in den gleichen Widersprüchen wie Vera, die Regisseurin im Film. Viele Film-im-Film-Komödien verhandeln das nicht. Da geht es um Anekdoten, dass man seinen Kumpel anflehen muss, bei dem Film zu helfen, später Stress mit der Freundin hat, weil man nur am Set ist. Also dieses ganze charmante Chaos, das sich aus einer No-Budget, einer unterfinanzierten Studenten-Produktion ergibt. Ich wollte dagegen die Umstände zeigen, die mit dem Beruf zu tun haben. Inwiefern verschärft sich der inhaltliche Einfluss, wenn man mit einem Fernsehsender arbeitet? Wie geht man mit vorgegebenen, wenig flexiblen Produktionsbedingungen um? Vieles ist ja von vornherein festgelegt.
artechock: Es wurden 80 Stunden Material gefilmt, das Sie dann mit Saskia Metten über einen Zeitraum von drei Monaten geschnitten haben. Gab es im Umgang mit dem Material Streitpunkte oder Uneinigkeiten?
Wackerbarth: Saskia ist eine tolle Cutterin, die viel Dokumentarfilme geschnitten hat. Bei Casting war das eine produktive Zusammenarbeit. Es gab keine grundlegenden Konflikte in dem Sinne, dass jemand eine ganz andere Richtung verfolgt hätte. Gute Cutter lassen sich von dem Material leiten und nicht von ihren eigenen Vorstellungen. Es gab improvisierte Takes von einer ganzen Stunde, in denen die Schauspielerinnen einen eigenen, bösen Witz miteinander teilten, sich von einer ganz bestimmten Art zu sprechen mitreissen ließen. Das erleichterte es uns im Schnitt, eine in sich stimmige Welt formen zu k önnen.
artechock: Die Kamera sieht ihnen dabei sehr genau zu. Würden Sie sagen, die Formentscheidungen bei diesem Film standen ganz im Dienst des Schauspiels?
Wackerbarth: Das Kamerakonzept steht im Dienst der Aussage des Films: Wir leben in einer Konkurrenzgesellschaft, deren höchstes Gut die Aufmerksamkeit ist. Erst wenn man von möglichst vielen gesehen wird, nimmt man sich heute als Teil der Gesellschaft wahr, fühlt sich existent. Für die Erfolglosen unter uns scheint es gar keinen Raum zu geben. Deshalb haben wir nur mit einer Kamera gedreht und alle mussten darum ringen, gefilmt zu werden. War einer der Spielenden nicht im Kamerafokus, musste er sich etwas einfallen lassen, um die Kameralinse wieder in seine Richtung zu lenken.
artechock: Auch Schärfenverlagerungen kommen vor und damit klare Hierarchisierungen im Sichtbaren. Entstanden all diese Eingriffe live aus der Situation heraus?
Wackerbarth: Alles wurde aus der Situation heraus entschieden. Unser Kamerakonzept war das denkbar größte Gegenteil zu dem Fassbinder-Film. Dort ist vor allem eine statische Kamera im Einsatz, manchmal verbunden mit Fahrten. Diese pointierte, gestaltete Sprache von Fassbinder hatte ich vorhin im Zusammenhang mit Horváth schon erwähnt... das ist so ein Kunstbayrisch. Der stellen wir eine fließende, ungenaue, wortreiche Alltagssprache gegenüber, die Sätze oft nur anreißt... welche von beiden entspricht der Wirklichkeit? Gerade Alltagssprache wirkt in einem Film künstlich, da sie nicht den Konventionen des Fernsehens entspricht.
artechock: Wie ist Ihr Draht zu Fassbinder? Ist er für Sie nur als ikonische Figur interessant? Oder kommen die Bezüge aus den erwähnten ästhetischen Fragen heraus?
Wackerbarth: Der Fassbinder hat am gleichen Tag Geburtstag wie ich. Und er kommt auch aus München. Ich lebe mit einem Mann zusammen, so wie der Fassbinder. Allerdings war Fassbinder in meinem Alter schon lange tot und hatte an die fünfzig Filme gedreht. Ich habe erst drei Langfilme realisiert. (lacht) Das ist natürlich krass, sich dem gegenüberzustellen. Dennoch habe ich kein frömmelndes Verhältnis zu ihm, halte ihn nicht für einen
unantastbaren Gott. Durch meinen Theaterbackground ist mir sein Universum ganz vertraut. Katzelmacher habe ich zum Beispiel erst auf der Bühne gesehen und viel später im Kino. Damals hatte ich ihn als Autor von Theaterstücken schätzen gelernt. Auch Die bitteren Tränen der Petra von
Kant ist ja ein Text für die Bühne, der mittlerweile auf der ganzen Welt aufgeführt worden ist. Zuerst dachte ich auch, dass man diesen Text auf keinen Fall in einem Film verwenden kann. Nun, die Tatsache, dass es bereits an die hundert Petra von Kants weltweit in verschiedenen Sprachen gegeben hat, erleichterte mir die Entscheidung etwas. Inhaltlich gibt es eine Spiegelung zu der Geschichte von Gerwin, der ein erfolgloser Schauspieler ist, zu Petra von Kant, die eine
erfolgreiche Modemacherin ist. Alles was sie anfasst, wird zu Gold, wie in diesem Bild von König Midas, das in dem Fassbinder Film als große Wandtapete zu sehen ist. Durch ihren Ruhm verliert Petra den Kontakt zu ihren Mitmenschen und wird unsicher, ob diese sie um ihrer selbst oder nur um ihrer Macht willen lieben, also nur aufgrund der ökonomischen Möglichkeiten, die sie ihren Mitmenschen bieten kann. Sie sorgt sich um ihr Selbst. Gerwin kann sich solche Gefühle gar nicht leisten.
Unser Anspielpartner in Casting, der scheißt auf sein Selbst. Der will überhaupt Mal im Beruf vorkommen, kämpft um einen Platz auf der Welt und ein Stück Anerkennung.
Ich kann mich mit Gerwin identifizieren, so wie Fassbinder sich wohl mit Petra von Kant identifizieren konnte. Bei dem wurde ja auch alles zu Gold, was er angefasst hat. Das war ein intelligenter Autor, ein Regisseur,
der einen Film nach dem anderen gemacht hat und seine sexuelle Obsessionen und Leidenschaften bis ins Extrem ausgelebt hat. In Warnung vor einer heiligen Nutte sieht man seine Filmfamilie sich besaufen und in Liebschaften verstricken, während sie darauf warten, dass das Filmmaterial angeliefert wird. In Casting hingegen versucht nicht nur der Anspielpartner, sondern auch die bekannten Schauspielerinnen versuchen nichts anderes, als einen Job zu kriegen. Für die Liebe oder den Exzess ist kein Platz. Auch die Regisseurin und der Produzent halten verbissen an jeder Möglichkeit fest, überhaupt mal wieder arbeiten zu dürfen. Sie setzen sich unter einen enormen Erfolgsdruck, der auch aus den hohen gesellschaftlichen Erwartungen resultiert,
die keiner erfüllen kann. Alle fühlen sich ungenügend und kritisieren andere dafür, ungenügend zu sein. Da hat schon ein großer gesellschaftlicher Wandel stattgefunden. Das gibt´s einen großen Unterschied zu dem Berufsleben in den 70er Jahren. Wir leben in einer neoliberalen Konkurrenzgesellschaft und ich hoffe, dass Zuschauer, die nicht aus dem Theater- oder Filmbereich kommen, sondern vielleicht im weiteren Sinne aus der Kreativbranche – die ja immer größer wird,
weil sich heutzutage selbst Start-Ups, die nur Klamotten verkaufen, unter dem Deckmantel von Kreativagenturen generieren – in dem Film etwas aus ihrem Leben wiedererkennen können.
artechock: Steht denn eure Methode der Improvisation einer neoliberalen Situation entgegen? Ihr habt ja versucht, bei der Arbeit an dem Film eine gewisse Offenheit oder Freiheit zu schaffen, oder nicht?
Wackerbarth: Nun, wir haben den Druck etwas Bestimmtes erfüllen zu müssen rausgenommen. Es wurde viel Raum für Irrwege zugelassen. Wir haben aber keinen kollektiven Film gemacht. Mein Ko-Autor Hannes Held und ich haben vorab die Dramaturgie genau erarbeitet. In der Filmgeschichte gibt es Werke, die Teilhabe an künstlerischen Entscheidungen zugelassen haben. Symbiopsychotaxiplasm: Take One von William Greeves ist ein gutes Beispiel dafür. Der ist ein großartiger politischer Film übers Filmemachen.
artechock: In Casting schwingt eine Wertschätzung des Undefinierten und Improvisierten mit. Spielt für Sie Flüchtigkeit eine Rolle?
Wackerbarth: Was ich uninteressant finde, ist mit der Improvisation eine Vitalität im Schauspiel zu erarbeiten und diese dann inhaltlich als Lebensmodell anzupreisen. Die Sehnsucht der Deutschen die besseren Italiener zu sein, ist ja groß. Selbstbezogene Ausbruchsversuche, die ein individuelles Freiheitsversprechen anpreisen, fußen auf der Logik, dass alles im Leben zu erreichen ist, wenn man sich selber nur traut und genügend Willenskraft aufbringt. An diese Art der Selbstverwirklichung glaube ich überhaupt nicht. Es kann ja sich nicht alles nur um die persönliche Glückssuche drehen. Es gibt eine ganze Reihe von soziologischen Bedingungen, die mein Leben geformt haben. Wenn ich einen Film mache, möchte ich diese reflektieren. Mit der Improvisation kann ich solche Bedingungen zum Beispiel anhand der erarbeiteten Sprache aufzeigen. Es ist erschreckend, wie eng die eigene Lebenswelt gebaut ist. Man möchte vielleicht nicht wahrhaben, dass man selbst daran mitgebaut hat. Das Flüchtige und Nomadische, das würde ich nicht als Ausweg sehen, sondern eher den Hypereliten aus den Großstädten, die einen globalisierten und konsum-orientieren Lifestyle pflegen zuschreiben. Fassbinder ist übrigens erschrocken, als er zum Dreh von Warum läuft Herr R. Amok? gekommen ist. Das ist der einzige seiner Filme, der mit Improvisation erarbeitet worden ist und den Michael Fengler mit den Fassbinder-Schauspielern inszeniert hatte. In dem Film verkörpern die eine bürgerliche Familie, die über ihre Verhältnisse lebt. Der Ehemann Kurt Raab wird von seiner Frau Irm Herrmann ignoriert und abschätzig behandelt. Sie respektiert ihn nicht, auch weil er zu wenig Geld nachhause bringt. Irm Herrmann monologisiert am Ende des Films zum Beispiel stundenlang übers Skifahren, während Kurt Raab etwas im Fernsehen sehen will. Fassbinder sah, dass seine Truppe, die zu der Zeit in einer Kommune lebte, auf einmal genüsslich und voller Freude das Münchener Bürgertum spielte. Ohne Anstrengung, sondern vielmehr voller Wohlgefühl. Fassbinder hat sie dafür verachtet, wie engstirnig und eklig die agieren. Er dachte wohl, dass die alle schon viel weiter seien, sich auf einen anderen Bewusstseinsstand gebracht hätten und jetzt dieser Rückfall in alte Konventionen. In diesem Fassbinder-Film produziert die Improvisation zwar auch Vitalität, aber eine hysterische, die vom Wesentlichen ablenkt. Es zeigt sich kein Weg auf, wie man aus bürgerlichen Lebensverhältnissen ausbrechen könnte. Ich finde, das ist ein starker Film, der schonungslos Ignoranz und mangelnde Empathie mit den Gefühlen anderer Menschen zeigt.