20.01.2005

Der Fisch und das Fleisch

Szenenbild 9 SONGs
Sex and Rock 'n' Roll: 9 Songs

Michael Winterbottom über Sex und Neugier im Kino, seine Arbeitsweise und seine neuen Filme 9 Songs und Code 46

Die Brite Michael Winter­bottom (42) ist einer der besten, inter­es­san­testen und erfolg­reichsten europäi­schen Filme­ma­cher. Ein Viel­filmer, der bisher in 14 Jahren 17 Filme gedreht hat – durchweg von heraus­ra­gender Qualität. Im Stil eines François Truffaut ist Winter­bottom in sehr verschie­denen Genres zuhause, dreht Komödien wie Dramen. Mit der Flücht­lings­ge­schichte In This World gewann Winter­bottom vor zwei Jahren bei den Berliner Film­fest­spielen den Goldenen Bären. Jetzt kommt 9 Songs in Kino, eine Liebes­ge­schichte, erzählt mit viel Pop-Musik und expli­ziten Sex-Szenen, die schon vorab für Aufsehen sorgten. Ab 3. März folgt dann Code 46, ein Science-Fiction um Liebe und Erin­ne­rung – eine kühlere europäi­sche Antwort auf Wong Kar-wais 2046.
Rüdiger Suchsland sprach mit dem Regisseur.

artechock: Lassen Sie uns mit 9 SONGS anfangen. Erzählen Sie mir ein bisschen über die Idee, die am Anfang des Projekts stand. Wie fing es an?

Michael Winter­bottom: Ich habe mich einfach gefragt: Warum kann man nicht Sex im Kino zeigen? Was ist falsch daran? Es ist ja nicht nur so, dass alle Leute in ihrem eigenen Leben Sex haben möchten – es ist auch ein sehr offen präsentes Thema in der Kunst. Von einem Tabu kann keine Rede sein. Viele zeit­genös­si­sche Romane enthalten sehr freie Beschrei­bungen von Sex, die Zeitungen sind voll davon, das Fernsehen auch. Nur das Kino scheint all dem in anachro­nis­ti­scher Weise auszu­wei­chen – als ob das Kino eine allem anderen entge­gen­ge­setzte Moral hätte. Dabei ist das Kino eigent­lich der beste Ort dafür. Denn man kann es sehr direkt und simpel zeigen. Also: warum nicht?

artechock: War 9 Songs für Sie zunächst ein Liebes­film, oder war es die eher tech­ni­sche Frage: Wie zeigt man bestimmte Dinge, oder war da noch etwas ganz anderes, viel­leicht das Verhältnis von Musik und Liebe?

Winter­bottom: Es gab die drei Stränge, die Sie nennen. Aber ich denke, Sex war schon die eigent­liche Trieb­kraft. Und die Heraus­for­de­rung, dass das Projekt gelingen kann. Manche Leute hielten es schon im Ansatz für eine schlechte Idee. Mit expli­zitem Sex müsste das auf jeden Fall ein Porno werden. Ich fragte mich: Warum eigent­lich? Wie kann man es vermeiden, dass es Porno wird? Und wie kann man umgekehrt überhaupt eine wahr­haf­tige Liebes­ge­schichte erzählen, wenn man so etwas Wesent­li­ches wie den Sex völlig ausblendet?
Also ging es am Anfang erst einmal darum, den Rahmen zu finden, eine Geschichte zu entwi­ckeln, die inter­es­sant ist, aber zugleich so einfach wie möglich.

artechock: In Ihren letzten Filmen scheint sich Ihr Stil ein wenig zu verändern. Viel­leicht kommt es auch durch den Einsatz der digitalen Kamera: Ihre Bilder »driften« mehr, sie wirken wie ein Flaneur, der uns einige Fragmente zeigt, aber die Geschichte nie ganz auser­zählt...

Winter­bottom: Ja, ich wollte ein bisschen weg von den großen Plots – soweit das möglich ist. Natürlich haben alle meine Filme eine Handlung und eine Struktur. Aber wie sie sagen: in den Szenen und im Rhythmus des Drehens versuche ich zunehmend – ganz im Gegensatz zu jenen, die den Dreh sehr detail­liert vorbe­reiten, die ein Story­board haben, wo schon vorher jede Einstel­lung fest­ge­legt ist – den Dreh so offen und relaxed wie möglich zu halten. Ich arbeite mit Hand­ka­mera, mit mobilem Licht, nicht im Studio, lasse die Schau­spieler impro­vi­sieren, verschie­dene Varianten auspro­bieren, überhaupt tun, was sie für richtig halten. Ich probiere auch selber Dinge mit der Kamera aus. Es ist also bei mir nicht alles perfekt orga­ni­siert, es tut nicht jeder immer wieder genau das gleiche bei jedem Take. Der Film ist also nie ganz fest­ge­legt.
Und klarer­weise nimmt man dann auch beim Schneiden hiervon ein bisschen und davon ein bisschen, und erlaubt der Geschichte auch, sich während dieses Prozesses zu verändern. Es sind mehr wie Exzerpte vom Dreh. Also: Ja, der Rhythmus des Filmens und daher auch der Rhythmus der Filme selbst, hat sich verändert.

Das wird dann viel­leicht besonders offen­sicht­lich bei den Filmen, die gar kein Drehbuch hatten, wie 9 Songs und In This World, oder bei Filmen mit nur einem sehr lockeren Script wie Wonder­land 24 Hour Party People hatte eine Menge Impro­vi­sa­tion, aller­dings auch viele künst­liche Momente, eine Art 'arti­fi­cial story­tel­ling'. Wenn man damit durch­kommt, gar keine Geschichte mehr zu erzählen, ist das gut, denke ich. [Lacht]

Etwa bei Code 46 gab es zwar viel Impro­vi­sa­tion, aber wir haben auch streng nach Script gedreht. Jeden Tag dreht man irgendwie, was im Script steht, und denkt dann: Oh my god, war da nicht noch irgendwas, hat man hier nicht mehr zu erzählen?
Wenn man Glück hat, passiert jeden Tag etwas Uner­war­tetes, etwas womit man nicht gerechnet hat. Und das ist ein großer Genuss. Ob es dann auch ein guter Film wird, ist noch eine ganz andere Frage – aber zumindest macht es sehr großes Vergnügen den Film zu drehen.

artechock: Ja genau das ist ja Ihr Zugang, Ihre Haltung zum Filme­ma­chen: Das Relaxte, Zurück­ge­lehnte, Offene. Sie können sich das auch erlauben: Sie haben den Goldenen Bär gewonnen, Sie haben heute schon mehr Filme gemacht, als manche anderen Filme­ma­cher in Ihrem ganzen Leben...

Winter­bottom: Ganz genau! [lacht] Wenn man relaxen kann, ist das gut – auch für die Sachen, die man macht. Es ist sicher ganz ähnlich als Jour­na­list: Sie haben eine Idee von dem Artikel, den Sie schreiben werden, Sie haben eine Vorstel­lung von den Fragen, die Sie mir stellen wollen. Viel­leicht sogar von den Antworten, die Sie wohl von mir bekommen werden. Aber wenn Sie exakt wüssten, was Sie fragen, exakt wüssten, was ich antworte, und den Artikel schon exakt im Kopf hätten, dann würde es gar keinen Sinn machen, noch das Interview zu führen. Man hofft immer auf etwas, das über­rascht, abweicht, die Annahmen variiert.
So ist das auch bei mir. Man weiß nicht nichts vorher. Aber man hofft einfach, dass etwas passiert, auf das man antworten muss, mit dem man nicht gerechnet hat, das einen aber berei­chert.

artechock: Wenn ich ein Interview mache, dann habe ich nie einen Zettel mit Fragen dabei. Es ist mehr wie Tanzen oder Kochen… Ist so auch ihr Stil, zu drehen?

Winter­bottom: Ja, mit Kochen hat Filme­ma­chen viel zu tun. Wenn Sie zum Markt gehen, wissen Sie, was Sie kaufen wollen. Aber dann sehen Sie: Das Fleisch ist schlecht, der Fisch aber sehr gut. Dann kaufen Sie den Fisch und kochen nicht trotzdem das Fleisch, bloß, weil Sie sich das so vorge­nommen haben.
Filme brauchen leider sehr lang. Man hat einen gerin­geren Output, als als Jour­na­list. Dafür hat man mehr Zeit, über etwas nach­zu­denken, einen Einfall zu über­denken und viel­leicht zu ändern. Es gibt mehr Zusam­men­ar­beit: der Kame­ra­mann, die Leute am Set, die Schau­spieler. Den meisten Druck gibt es von den Finan­ciers und Produ­zenten. Da gibt es oft Konflikte, die ich sehr lang­weilig finde. Darum habe ich 9 Songs selbst finan­ziert. Damit keiner reinredet, mir erzählt, was zu teuer ist.
Also: Verschie­dene Filme brauchen verschie­dene Arbeits­be­din­gungen.

artechock: Das bedeutet also: Der Prozeß des Drehens selbst ist für Sie das wahre Abenteuer. Viele Regis­seure sagen ja, dass Sie den Dreh nicht mögen, weil da viel Unvor­her­ge­se­henes passiert. Sie sagen, der Film sei dann schon im Kopf fertig – oder umgekehrt: Er wird sowieso erst im Schnei­de­raum fertig.

Winter­bottom: Nein. Früher habe ich das auch gesagt. Es kann sehr enttäu­schend und erschöp­fend sein. Man hat etwas im Sinn, und schafft es nicht. Muss dann tricksen, vortäu­schen und lügen. Weiterhin ist das Drehen wenig angenehm, besonders, wenn die Logistik aufwendig ist – manchmal muss sie das eben sein, weil die Geschichte das erfordert. Und wenn man eine Menge Szenen pro Tag drehen muss – weil das Drehbuch lang ist und kompli­ziert –, wird alles weniger lustig. Da gibt es dann einen Druck, den man eigent­lich nicht haben möchte.
Also: Je einfacher ein Film ist, umso mehr Vergnügen macht es, ihn zu drehen. Ein Film wie In This World, mit dem ich die Berlinale gewonnen habe: Wir sind damals nur zu zehnt, mit ganz kleinem Team also, durch die Wüste gefahren. Das hat für sich genommen etwas sehr Inter­es­santes, selbst, wenn man nicht sicher ist, wie der Film wird. Aber es ist schon spannend, an diesem Ort zu sein, die Verhält­nisse kennen­zu­lernen, etwas Unge­wöhn­li­ches zu erleben. In ganz anderer Weise, aber im Prinzip ganz ähnlich, verhielt es sich mit 9 Songs.

artechock: artechock: Wie haben Sie die Schau­spieler vorbe­reitet? Wie haben Sie ihnen erklärt, was Sie vorhaben und von ihnen erwarten?

Winter­bottom: Zuerst musste man Vertrauen schaffen – so ehrlich wie möglich. Es waren private, freund­schaft­liche Gespräche, beide hatten dieselben Fragen und Gedanken: Wie man sich fühlen würde, wenn man beim Sex aufge­nommen wird, wenn der Film rauskommt. Ich wollte eines von Anfang an so klar wie möglich machen: Der Ausgangs­punkt dieses Film sind zwei Leute, die wirklich Liebe machen.
Danach ging es darum, Sicher­heit und eine relaxte Atmo­sphäre zu schaffen. In der ersten Woche haben wir dann relativ unver­fäng­liche Sachen gedreht: am Strand und solche Dinge. Ein Konzert. Dann Sex. Dann eine Woche Pause. Es ging darum, einen Arbeits­rhythmus zu schaffen. Und es war wie immer bei der Arbeit: Es gab gute Tage und schlechte Tage. Wie es auch in zwischen­mensch­li­chen Bezie­hungen der Fall ist.

artechock: Wie viel Material haben Sie aufge­nommen?

Winter­bottom: Viel­leicht 30 Tage, etwa 100 Stunden. Der Schnitt war angenehm. Wir waren in der Lage, uns treiben zu lassen, und eine Atmo­sphäre zu kreieren. Es war kein Alptraum – mit Unmengen an Material, sodass wir nicht mehr wussten, was wir damit anfangen sollten.

artechock: Hatten Sie Angst vor der Zensur? In England ist sie ja vergleichs­weise streng – man weiß, dass Kubricks A Clockwork Orange lange verboten war, dass David Cronen­berg mit Crash massive Probleme bekam...

Winter­bottom: Vorher haben mich viele gewarnt: Das kann man nicht im Kino zeigen. Aber genau um diese Frage ging es: warum eigent­lich nicht? Was darf man nicht zeigen? Ich bin überzeugt, dass man im Prinzip alles zeigen kann und darf – entschei­dend ist das „Wie“. Wie zeigt man die Dinge? Wir haben uns in gewissem Sinn gar nicht um die Zensur gekümmert – wenn man das dauernd im Kopf hat, braucht man gar keinen Film zu machen. Wir wollten einfach beim Drehen so direkt und offen und aufrichtig wie möglich sein.
Als wir fertig waren, haben wir den Film in Cannes auf dem Markt gezeigt, um eine Reaktion zu erhalten. Der Schlüssel war der: Behaup­tung und Täuschung funk­tio­niert nicht. Die Zuschauer spüren das „Gemachte“.
Am Ende war die Reaktion der Zensur­behörde sehr inter­es­sant: Die Zensoren waren regel­recht froh über den Film. Sie haben ihn ohne Korrek­turen zuge­lassen, denn sie konnten anhand dieses Films belegen, dass sie nicht dagegen haben, dass Sex im Kino statt­findet – sondern, dass auch sie sich um das „Wie?“ kümmern. Sie konnten Ja sagen, um zu demons­trieren, dass sie liberal sind, dass sie nur Ausbeu­tung und Gewalt und Amoral zensieren.

artechock: Da ich so ziemlich alle Ihre Filme – selbst die frühen TV-Sachen – kenne, frage ich mich seit zwei Jahren: Warum hat ausge­rechnet In This World so einen welt­weiten Erfolg gehabt? [Winter­bottom lacht] Zum Beispiel finde ich I Want You und Butterfly Kiss, und Wonder­land offen gesagt viel besser. Auch The Claim war damals einer der besten Filme im Wett­be­werb. Trotzdem haben sie mit diesen Filmen nie einen Preis in einem A-Festival gewonnen. Warum In This World? Klar könnte man antworten: Wegen der poli­ti­schen Message. Aber das bedeutete ja: Die Filmwelt schätzt Ihren Stil nicht genug, versteht bis jetzt viel­leicht nicht wirklich, was sie tun...

Winter­bottom: Ich weiß nicht. Es ist sicher kompli­zierter, als das. Es gilt für alle meine Filme und denke ich für jeden, der Filme macht, dass man am Ende einige Leute kennt, die einen Film mögen, und einige, die ihn nicht mögen. Die Propor­tionen mögen schwanken. Aber im Prinzip hört man Gutes und Schlechtes. Auch von den Kritikern. Und manche finden alle Filme gut und plötzlich einen bestimmten schlecht. Oder umgekehrt.
Ich denke ganz ehrlich gesagt, dass man sich darum gar nicht kümmern darf. Selbst wenn man sagt: Jetzt mache ich mal etwas, was allen gefällt – was ich nicht sagen würde-, klappt das dann doch nicht. Wenn man einen Film machen will, dann sollte man ihn machen. Am Anfang weiß man nie, was ein Film am Ende sein wird. Und ich bevorzuge solche unsi­cheren Projekte gegenüber den anderen.
Das macht mehr Spaß.

artechock: Man kann Popu­la­rität nicht planen – da gebe ich Ihnen Recht. Aber meine Frage richtete sich mehr auf etwas anderes: Wie denken Sie, werden Sie von anderen gesehen? Wie erklären Sie den breiten Erfolg von In This World und den gerin­geren Erfolg, den dann dessen unmit­tel­barer Nach­folger Code 46 – für mich der weitaus bessere Film – hatte?

Winter­bottom: Wenn Sie nach diesem spezi­ellen Beispiel fragen: Da läuft es am Ende darauf hinaus, dass die Leute die Haupt­figur Jamal mochten. Und das sie offenbar Tim Robbins und Samantha Morton in Code 46 weniger mochten.
Solche Dinge sind ganz schwer vorher­zu­sehen. Und überhaupt egal: Man will auch nicht immer einen Film nur deswegen machen, weil die Charak­tere sympa­thisch sind. Das ist nicht das, was man als Regisseur zu machen versucht.
Warum ein Film funk­tio­niert oder nicht, das sind oft ganz einfache Dinge. Manchmal trifft etwas die Menschen ins Herz. Und manchmal nicht.
Der poli­ti­sche Kontext der Flücht­lings-Geschichte macht übrigens meiner Meinung nach nicht den Erfolg von In This World aus. Er hätte genauso gut dazu führen können, dass man den Film gerade nicht mag. Wir hatten Glück.

artechock: Wenn man alle Ihre Filme sieht, kann man sagen: Sie probieren sehr viele verschie­dene Genres aus. Steckt da ein tieferer Plan dahinter? Wollen Sie nicht fest­ge­legt werden? Oder wie Kubrick in jedem Genre einen Film drehen? Oder ist das mehr Zufall?

Winter­bottom: Es ist mehr Zufall. Grund­sätz­lich inter­es­siert mich etwas Neues mehr, als etwas, was ich schon kenne. Gerade wenn ich etwas fertig­ge­stellt habe, möchte ich nicht unmit­telbar darauf das Gleiche wieder tun. Das reizt mich nicht. Also selbst wenn wir jetzt nach CODE 46 die Idee zu einem zweiten Science-Fiction hätten, würde ich immer als erstes fragen: Warum können wir das nicht in der Gegenwart spielen lassen? Eben weil ich das gerade gemacht habe. Und weil Science-Fiction technisch besonders schwierig sind. Man muss auf viele Fragen Rücksicht nehmen.
So ähnlich ist das auch mit Kostüm­filmen. Ich würde immer bevor­zugen, keine Kostüm­filme zu drehen – wenn es sich vermeiden lässt. Wenn es aber so sein muss – ich habe das ja in Jude und in The Claim zweimal gemacht, weil es dort ganz offen­sicht­lich so sein musste –, dann mache ich das gern.
Ich denke, ich fühle mich ganz instinktiv von Dingen mehr angezogen, die ich noch nicht auspro­biert habe. Aber es gibt da keinerlei Strategie. So daß ich jetzt unbedingt einen Kriegs­film drehen möchte, und mich dann auf die Suche nach einer Geschichte mache.

Es ist immer so, dass ich zwei, drei Ideen im Kopf habe. Sie arbeiten in mir, und einige verwerfe ich, aus anderen wird ein Film. Das andere ist: Auch wenn meine Filme offen­sicht­lich eine Verbin­dung zu Genres haben, gehorchen sie den Regeln der Genres keines­wegs streng. Es sind letztlich überhaupt keine echten Genre­filme.
Sie haben immer viel zeit­genös­si­schen Bezug. Und auch wenn ich Western oder Science-Fiction gedreht habe, sind alle meine Filme nicht so unter­schied­lich: Es geht um eine Gruppe von Charak­teren, und um ihre Bezie­hungen mitein­ander, unter­ein­ander.

artechock: Klar. Natürlich gibt es Themen, die sich durch alle Ihre Filme ziehen… Man könnte also sagen: Es ist eher so, dass Sie zu neugierig sind, um immer das Gleiche zu machen, und nicht zu sehr gelang­weilt?

Winter­bottom: Ja, ich denke, die meisten Regis­seure haben ja eine bestimmte Spann­breite, innerhalb derer sie sich in ihrer Arbeit bewegen. Ich verstehe schon, was daran gut ist. Aber das macht mich verrückt – die Vorstel­lung immer da Gleiche zu tun.
Schauen Sie Woody Allen an: Ich liebe Woody-Allen-Filme. Aber ich denke, es muss doch alles so vertraut sein, es muss doch ungemein hart sein, immer nur eine Variante des gleichen Themas zu drehen. So oft!

Oder auch Ken Loach: Ken Loach hat einige groß­ar­tige Filme gemacht – keine Frage. Aber man hat fast den Eindruck, als fühlte er sich verpflichtet: Ich bin Ken Loach, deshalb muss ich immer nur Ken-Loach-Filme drehen. Da muss es doch irgend­einen Teil in ihm geben, der wünscht, einmal etwas ganz anderes zu machen. Aber offenbar tut er das nicht, weil er offenbar denkt: Das ist nicht, was ich tue.

artechock: Noch einmal zurück zu Ihren neuesten Filmen: Zu 9 Songs. Warum ist der eigent­lich so kurz?

Winter­bottom: Ich denke, Liebes­ge­schichten müssen kurz sein. Oft tendieren Filme dazu, auszu­schweifen, und die Konzen­tra­tion auf ihre Haupt­sache zu verlieren. Warum muss ein Film verdammt noch mal 90 Minuten lang sein.
Das ist der eine Grund. der Film handelt von der Atmo­sphäre des Verliebt­seins, „the mood of being in love“. Das muss ein gewisses Tempo haben, um effektiv zu sein.

artechock: Die zweite Frage bezieht sich auf Code 46: Hat der Titel irgend­etwas mit Wong Kar-wais neuem Film 2046 zu tun? Sie haben auch in China gedreht, und wissen sicher, dass „46“ dort ein Code­be­griff der Oppo­si­tion ist: es steht für den 4. Juni (1989), an dem das Tian-an-men-Massaker stattfand...

Winter­bottom: Offen gesagt kannte ich den Titel von Wong Kar-wais Film damals noch nicht. Es gibt zwar gewisse Ähnlich­keiten zwischen den Filmen...

artechock: …die Liebe zweier Menschen, in der Zukunft, das Vergessen und Erinnern...

Winter­bottom: Ich liebe Wong Kar-wais Filme. Politisch geht es natürlich um Unter­drü­ckung, klar. Aber nicht unmit­telbar bezogen auf China. Es gibt einen Zusam­men­hang des Titels mit der Gentech­no­logie: 46 Chro­mo­somen hat der Mensch. Und das letzte definiert das Geschlecht.