F/B/D/USA 2021 · 140 min. · FSK: ab 12 Regie: Léos Carax Drehbuch: Ron Mael, Russell Mael Kamera: Caroline Champetier Darsteller: Adam Driver, Marion Cotillard, Simon Helberg, Rila Fukushima, Kiko Mizuhara u.a. |
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Liebe zum Mitsingen: »We love each other so much.« | ||
(Foto: Alamode) |
Abend für Abend ist Showtime für Henry McHenry, der als »Ape of God« seinem Publikum einheizt. Im Garderobenraum bringt sich der Stand-up-Comedian auf Touren, zieht die Kapuze seines Frottee-Bademantels tief ins Gesicht, raucht, isst gleichzeitig eine Banane und deutet in Henry-Maske-Manier einen Boxkampf gegen unsichtbare Schatten an. Rechte Faust, linke Faust, ducken, Zug von der Zigarette, Biss von der Banane, diese im Aschenbecher zusammen mit der Zigarette ausdrücken, und los auf die Bühne. Dort wird das vergnügungsbereite Publikum verhöhnt, das immer nur lachen will: »And now: laugh, laugh, laugh!«, brüllt er ihnen singend entgegen. Zuvor hatte Henry die Zuschauer in die schwarzen Ecken seiner Seele blicken lassen, seinen Aggressionen freien Lauf gelassen und sie beschimpft, darauf haben sie begeistert gewartet, deshalb sind sie hier. Auch seine Frau steht in diesem Moment auf einer Bühne, Ann ist Sopranistin an der Oper und Megastar. Abend für Abend stirbt sie, weil es die hohe Kunst der Tragödie so will, das Publikum feiert auch sie dafür. »You die, die, die, and then you bow, bow, bow!«, singt Henry wütend am anderen Ende von Los Angeles. Die frenetisch begleiteten Verbeugungen als ständige Wiederauferstehung kränken ihn in seinem Narzissmus und setzen in ihm toxische Männlichkeit frei.
Mit dieser furiosen Parallelmontage zwischen der populären und der hohen Bühnenkunst zieht Leos Carax, der vor zehn Jahren mit dem phantastischen Holy Motors das Erzählkino verabschiedet hat, seine Zuschauer in ein neues Filmexperiment hinein. Annette ist Rock-Oper und Musical, das Libretto und die Songs stammen von der amerikanischen Avantgarde-Pop-Legende Sparks der Brüder Russell und Ron Mael, die auch am Drehbuch mitgeschrieben haben. Wie es sich für ein Musical gehört, wird nicht nur auf der Bühne gesungen, sondern auch alle Dialoge. Ein zentrales fantastisches Element lässt überdies kaum zu, die Handlung noch für bare Münze zu nehmen: Die titelgebende Hauptfigur, Annette (das Baby von Ann und Henry), wird repräsentiert durch eine animierte Gliederpuppe aus Holz, einen altmodischen Pinocchio-Avatar. Annette kann außerdem singen und schweben, als wäre sie nicht von dieser Welt – eine Hommage auch an François Ozons Ricky und sein fliegendes Baby. Der Film gerät auf diese Weise zu einem einzigen Verfremdungs- und Verstörungseffekt, der sich mit Wucht auf der Leinwand entfaltet. Als heute aus der Mode gekommenes Genre fordert das Musical die Rezipienten hochgradig heraus und meint es noch dazu mit seinen Figuren nicht gut. Wie Lars von Triers Musical Dancer in the Dark nimmt Annette keine Rücksicht auf figurenempathische Zuschauer-Gefühle und ist unentrinnbar wie jüngst Julia Ducournaus Bodyhorror Titane.
In der Eingangssequenz des Films sehen wir Regisseur Leos Carax, seine Tochter Nastya (als Regieassistenz) und die Sparks-Brothers. Gitarren werden in den Verstärker gestöpselt, der Regisseur raucht und wartet, bis sich die Musiker und der Background-Chor aufgebaut haben. »So may we start?« fragt der Regisseur am Mischpult. Und dann geht es – »one, two, three, four« – los in den Kosmos der Rock-Oper. »So may we start? It’s time to start«, greifen die Mael-Brüder singend auf, gehen singend aus dem Studio, Adam Driver und Marion Cotillard reihen sich ein, dazu kommt »Big Bang Theory«-Darsteller Simon Helberg, der den Dirigenten im Film spielen wird. »Wir werden für euch singen, und wenn ihr wollt, dass wir töten, werden wir damit einverstanden sein«, singen die Schauspieler für die Zuschauer im Kinosaal. Der Auftakt-Spoiler ist vielsagende Fiktionsdurchbrechung und führt in ein vielschichtiges Metaverse ein, das von nun an nicht mehr verlassen wird.
Die Handlung entpuppt sich dann als recht konventionelle Eifersuchtsstory, in der Prototypen agieren: der zynische Comedian wird zunehmend eifersüchtig auf die gefeierte Opernsängerin, als Babysitter der gemeinsamen Tochter muss er zu Hause bleiben, worunter seine Karriere leidet. Er greift zum Alkohol und gönnt sich immer wieder Eskapaden. Berichte der Yellow Press begleiten wie der Chor in einer griechischen Tragödie den Auf- und Abstieg des Celebrity-Paars – Hochzeit, Schwangerschaft, Geburt, Karriereeinbruch, Me-too-Skandal, schließlich Femizid – während die Figuren im Duett, dann in monologischen Arien von ihrer erst harmonischen (»We love each other so much«), dann zerrissenen Gefühlslage singen.
Jedoch nicht aus dem Plot ergibt sich die eigentlich tragische Handlung, sondern aus der Welt der Kunst: Um Ann vom Bühnentod zu befreien, den die Tragödie ihr abverlangt, befördert Henry die Frau, die er abgöttisch liebt, ins Jenseits. Den Kreislauf der ewigen Wiederkehr aber kann er nicht aufhalten, denn Ann wird sich in Baby Annette als singender Geist niederlassen und Henry bei den Auftritten des neuen Kinderstars heimsuchen. Die Tragödie wird zusehends zum melodramatischen Schauermärchen, das sich mit dem singenden Baby grotesk anreichert und am Ende als Lehrstück über Exploitation im Musik-Business gedeutet werden kann.
Die sich durch den Film hindurchziehende Meta-Ebene ließe sich mühelos auf parafiktionaler Ebene fortsetzen: Die im Intro auftretende Nastya, der auch der Film gewidmet ist, ist das gemeinsame Kind von Regisseur Leos Carax und der mit 44 Jahren jung verstorbenen Schauspielerin Jekaterina Golubeva. Carax war von da an der alleinerziehende Vater einer Tochter, genau wie Filmfigur Henry. So lässt sich die tragisch-groteske Handlung bis über die Filmgrenzen hinaus fortspinnen, ohne dass man sie jedoch allzu buchstäblich-autofiktional nehmen sollte. Allein Baby-Annette durch eine Puppe zu besetzen und dadurch einem inhärenten Selbstwiderspruch zuvorzukommen, kann als Beweis dafür gelten, dass Carax sein Thema nicht nur ornamental nimmt.
Wenn Carax in der bewegenden Schlussszene dann noch einen verstörenden Naturalismus zulässt, wird die ganze verführerische Illusionskraft des Filmmediums offenbar, der man sich bis dahin trotz aller Fiktionalisierungssignale ohne Wenn und Aber übergeben hatte. Obgleich operettenhaftes Schauermärchen, entfaltet Annette die hohe Tonlage einer klassischen Tragödie, in der allgemeine Prinzipien gegeneinander antreten: der Mann und die Frau, die Liebe und der Neid, das Leben und der Tod, das Diesseits und das Jenseits, das Tote und das Beseelte. Das ist menschlich und mythisch, ist Eros und Thanatos, ist zugleich simpel und abstrakt. Und eine betörend-verstörende Film-Oper, wie man sie noch nie gesehen hat.
Alles beginnt mit einer Ouvertüre. Wie es sich für ein Musical gehört. Leos Carax zündet sich eine Zigarette an. Marion Cotillard, Adam Driver, Simon Helberg und viele mehr gehen entschlossenen Schrittes mit einem Orchester eine Straße hinunter und singen die bravouröse Musicalnummer »So may we start?« Nach und nach baut sich hinter ihnen eine immer größere Menschenmenge auf – Backgroundsänger und Kinder von wer weiß woher; die Kinoleinwand verwandelt sich in eine
Bühne.
Künstlichkeit, Bühnenhaftigkeit und Selbstreflexion des Films im Film bestimmen von Anfang an die Haltung von Film und Regisseur.
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Gleich darauf tritt ein Stand-up-Comedian namens Henry McHenry (gespielt von Adam Driver) auf. Er hat Pantoffeln an und einen Frotteebademantel. Das Publikum ist von diesem bösen Clown völlig besessen.
Die Menge fragt: »Warum sind Sie Comedian geworden? Wegen des Geldes?« – »Nein, es ist weg.«
»Ruhm?« – »Nein, der ist sogar noch flüchtiger.«
»Um Frauen zu erobern?« – »Nein, ich werde bald heiraten.«
McHenry ist ein Skandalisierer, Provokateur mit tyrannisch-narzisstischen Zügen. Hier spielt Leos Carax, Regisseur so unvergesslicher Filme wie Die Liebenden von
Pont-Neuf und Pola X ganz offensichtlich mit dem Image, das ihm selbst die Öffentlichkeit seit Jahrzehnten angehängt hat – nicht ohne sein Zutun.
Später wird McHenry auch gefragt, wie die Vorstellung gewesen sei? Seine Antwort, bezogen aufs Publikum: »I killed them I destroyed them!! I murdered them!!!«
Eine wunderbare Szene und unendlich großer Auftritt von Adam Driver, der hier seine komplexeste, schizophrenste, beängstigendste Rolle spielt. Beide, Carax und Driver, erweisen sich als Seelenverwandte und zeigen in dieser perfekten Szene, dass sie alles verstanden haben: Was Kino ist, was Schauspiel ist, dass man Publikum
und Welt erschüttern muss.
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Nun beginnt das Drama: McHenrys Verlobte Ann (gespielt von Marion Cotillard) ist eine gefeierte Operndiva, und ihr Duett ist eine Allianz von Engel und Teufel. Die Öffentlichkeit missbilligt ihre Verbindung. Zeitungen veröffentlichen Schlagzeilen wie »Die Schöne und das Biest«. Eine kurze Passage der Kritik an den Boulevardmedien bei Carax, die er als Statisten einer grandiosen Gesellschaft des Spektakels decouvriert. Auch hier wieder zielt Carax auf eigene Erfahrungen und
die Tatsache, dass auch »Personen des öffentlichen Lebens« und gerade Prominente der unteren Ränge kein Recht mehr auf Privatsphäre zu haben scheinen und auch keine Zeit mehr, um überhaupt zu verstehen, was mit ihrem Leben passiert, bevor sie von Stress und kulminierender Unsicherheit weggerissen werden und in den Augen der Übrigen versagen.
Bald zeigen die Boulevard-Medien auch den Bauch der schwangeren Anne. Aber im Film wird kein echtes Baby zu sehen sein, sondern eine Puppe mit
Armen an Scharnieren, eine latent gruselig aussehende Kreatur, die von fern an die Mörderpuppe Chucky erinnert.
Ein zugegeben befremdendes Spiel mit Verfremdung. Zugleich ein Angelpunkt des Ganzen, der all die schwelenden Widersprüche des Films in sich vereint. Denn diese Holzpuppe verändert unseren Blick auf das Verhalten der Eltern. Was man bei einem »echten«, von einem Kind dargestellten Kind mindestens durchgehen ließe, wird hier zu komplett absurdem Verhalten. Carax
dekonstruiert die Liebe der Eltern zueinander und zu ihrem Kind die falsche, erfundene Liebe als Selbsttäuschung. Alles kreist um das elterliche Ego...
Und der Refrain hinter ihrem »We love each other so much« ist der Narzissmus.
Die übrige Ästhetik des Films ist eher der Musical-Tradition verpflichtet, und doch ganz eigen: Gelegentlich kreist die Kamera in Allegro-Tempo über den singenden Schauspielern. Die Bilder stehen der Musik in Bezug auf die dramatische Intensität in nichts nach – ein gehobener, hyperrealer Stil wird beibehalten. Jede Szene ist sozusagen eine visuelle Arie in intensiven Farben: Gelb, Lila, Grün...
Bald nach der Hochzeit hört Ann auf zu singen und im weiteren Verlauf des Films stirbt sie unter merkwürdigen Umständen. Könnte Henry dran Schuld tragen? Jedenfalls beginnt die kleine Tochter Annette nicht nur zu singen, sondern auch ihren Vater als Mörder ihrer Mutter anzuklagen...
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Was ist das bloß für ein Film?
Ein Musical wie gesagt; viel eher aber noch eine Rockoper mit surrealem Einschlag, denn die von den Sparks komponierte Musik ist nicht gerade typische Musical-Musik.
Dies ist auch ein Horror-Film. Voller Verweise auf die Kinogeschichte. Es ist kein Zufall, dass der Film unheimliche Tragödien der Operntradition zitiert – von Verdis Othello bis zu Bartóks »Blaubarts Burg«. Aber auch die surreale Phantastik von Edgar Allan Poe. Annette ist auch eine
Burleske, ein Alptraum, eine Fantasie.
Zugleich ein Film voller Glamour, Romantik und Schönheit, gespickt mit Ironie und erfüllt von der exzellenten Musik des Duos Sparks.
Vor allem ist diese unerträgliche Liebesgeschichte ein schmerzhaft persönlicher Film. Ein Film, der sehr selbstreflexiv ist, und seine Zuschauer ständig daran erinnert, dass er es ist.
Manche Kritiker haben mögliche, unheimliche konkrete biographische Parallelen benannt, und Annette als »Schlüsselfilm« – nicht nur zum Leben von Carax selbst, sondern auch zum Leben der 2011 verstorbenen Pola X-Schauspielerin Ekaterina Golubeva, deren gemeinsame Tochter in Annette einen Auftritt hat, und zu dem litauischen Regisseur (und Pola X-Darsteller) Šarūnas Bartas, der Golubevas erster Ehemann war, und in der Figur des von Helberg gespielten Dirigenten, der sich als Anns »Love-Interest« behauptet.
Am Ende stehen der Blick in den Abgrund und Hoffnungslosigkeit (»Sympathy for the abyss« heißt der letzte Song der Henry-Figur): Nicht an das optimistische Pathos von West Side Story, Les demoiselles de Rochefort oder Moulin Rouge sollte man denken, sondern allenfalls an Dancer in the Dark. Annette ist ein grandioses Feel Bad Movie.
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Bei aller Verwirrung, bei allen bewussten Widersprüchen und der grundsätzlichen Romantik der Haltung – und Romantik sollte man hier nicht mit deren immer noch folgenreicher deutscher Reduktion auf Blaue-Blümchen-Sehnsuchtsharmonie verwechseln – ist dies eine hochmoderne Geschichte darüber, wie Liebe gewalttätig wird oder jedenfalls werden kann. Wie männliches Aufbegehren gegen weibliche Domestikation in Gewalt mündet, weil manche Männer glauben, sich anders nicht helfen zu können. Oder weil Gewalt als leichtester Weg erscheint. Und wie die künstlerische Provokation, mit der sich gerade Kreative so gerne brüsten, ins Verbrechen abrutschen kann.
Es gibt darum auch eine musikalische Nummer in Annette, die voller Leidenschaft auf die #MeToo-Bewegung zielt. Der Stil selbst bleibt jedoch betont altmodisch und verweist auf die Eleganz der Melodramen des Stummfilms und des frühen Tonfilms.
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Dies ist die Art von Film, die spaltet. So darf, so muss Autorenkino sein. Unharmonische Zeiten und ambivalente Situationen werden hier nicht mit einer Harmonie-Sauce zugegossen.
Annette unterläuft alle Erwartungen immer wieder radikal, inklusive all jener, die durch die Tatsache genährt wurden, dass dies der erste Film ist, der seit neun Jahren von Leos Carax gedreht wurde, dessen Handlung lange, bis zur Premiere bei den Filmfestspielen von Cannes geheimgehalten war. Carax ist ein Regisseur, der manchen als Genie und anderen als ein bisschen wahnsinnig gilt. Oder beides.
Am Ende des problematisch-abwechslungsreichen Kinojahres 2021 kommt mit diesem Werk noch einer der besten Filme des Jahres ins Kino, ein Film, der zugleich den ganzen Reichtum, die Chancen, wie die ganze Widersprüchlichkeit des Kinos in sich vereint.
Die erste Szene von Annette spielt in einem Tonstudio. In diesem sind der Regisseur Leos Carax und seine Tochter Nastya zu sehen, letzterer ist Annette gewidmet. Des Weiteren sehen wir Ron und Russell Mael. Die beiden bilden zusammen das Rock-Duo Sparks. Sie haben nicht nur die gesamte Musik für den Film geschrieben, sondern auch gemeinsam mit Carax das Drehbuch verfasst. Schließlich tauchen in dieser Szene auch noch Adam Driver (Paterson, 2016) und Marion Cotillard (La vie en rose, 2007) auf. Sie werden im folgenden Film die Hauptrollen spielen.
Nach dem ersten Teil des Abspanns treten diese Macher und Darsteller erneut auf und schließen damit eine Klammer. Zwischen dieser entspannt sich ein Drama um Liebe, Eifersucht, Tod, Starruhm, Ausbeutung und mehr in Form eines Musicals. In diesem spielt Adam Driver den provokanten Comedian Henry, der mit der Opernsängerin Anne (Marion Cotillard) verlobt ist. Die zwei Künstler feiern beide rauschende Erfolge und ihr Leben scheint völlig unbeschwert zu sein. Dann kommt Tochter Annette zur Welt. Diese beginnt nach einem tragischen Ereignis wie ihre Mutter zu singen und wird schon als Kleinkind ein internationaler Star. Doch um Henry und Anne ist es nicht gut bestellt.
Annette eröffnete die 74. Internationalen Filmfestspiele von Cannes und wurde auf dem Festival mit dem Regiepreis ausgezeichnet. Und tatsächlich ist es die Inszenierung, die in Annette immer wieder hervorsticht. Wir sehen Henry in einem grünen Bademantel auf der Bühne sein Publikum provozieren. Wild schwenkt er am Ende der Show sein Mikro. Zwischengeschnitten sind immer wieder Bilder, die Henry als einsamen Wolf auf seinem Motorrad durch die Straßen des nächtlichen Los Angeles fahren zeigen. Anne ist ebenfalls auf der Bühne zu sehen. Dort bilden vertikale blaue Stoffstreifen einen stilisierten Wald. Von diesem schreitet die Opernsängerin in einen realen Wald hinüber. Dieser mündet am Ende wieder in den stilisierten Wald der Bühne. Schließlich sehen wir Henry und Anne gemeinsam einen Spaziergang in der freien Natur machen. Schnitt. Die beiden fahren zusammen auf dem Motorrad durch das nächtliche L.A. Schnitt. Die zwei lieben sich in ihrer ebenso malerischen wie luxuriösen Villa. Zu all dem singen sie zusammen: »We love each other so much.«
Carax’ sechster Spielfilm ist sein erster Film, der in englischer Sprache gedreht ist. Allerdings wird diese nur zum geringsten Teil gesprochen und ganz überwiegend gesungen. Schließlich handelt es sich bei Annette um ein Musical. Das Enfant terrible Leos Carax wäre jedoch nicht Carax, wenn er das Genre nicht kräftig gegen den Strich bürsten würde. Von dem allgemeinen Frohsinn gewöhnlicher Musicals ist in Annette nur am Anfang etwas zu spüren. Doch schon hier ist diese Freude gebrochen. Wenn der Chor bei Henrys Show »Laugh, laugh, laugh!« skandiert, dann ist dem Zuschauer wegen der Abgründigkeit nur sehr bedingt zum Lachen zu Mute. Und von dieser etwas schwierigen Ausgangslage aus geht es auch nicht über verschiedene erfolgreich bewältigte Schwierigkeiten zum großen Finale eines die Protagonisten mit der Welt versöhnenden Happy Ends. Stattdessen ist Annette eine Reise in einen immer tieferen Abgrund, bei der Henry am Ende alleine zurückbleibt.
Doch all dies lässt den Zuschauer über weite Strecken seltsam kalt. Annette wirkt insgesamt leider ziemlich aseptisch. Der tragischen Geschichte fehlt der Zauber, der Die Liebenden von Pont-Neuf (1991) auszeichnete. Der Film ist auch nicht durch den überbordenden Einfallsreichtum gekennzeichnet, der Holy Motors unvergesslich macht. Stattdessen sind die behandelten Themen insgesamt eher banal. Henry, der immer mehr zu einem Spiegel für das öffentliche Bild des Regisseurs wird und der auch äußerlich immer stärker Carax ähnelt. #MeToo mal wieder. Ein vom Vater verheizter Kinderstar. Es ist schwer, über die Laufzeit von fast zweieinhalb Stunden ausreichend Interesse für die recht reizlose Geschichte aufzubringen. Da hilft es auch nicht, dass Carax dieser in Form der Darstellung der titelgebende Annette durch eine Puppe auf fast schon zwanghafte Weise eine Originalität zu geben versucht, die dem Film in seiner Gesamtheit schlicht und einfach abgeht. Annette ist leider eine reichlich halbgare Erfahrung.