Belgien/Niederlande 2012 · 112 min. · FSK: ab 12 Regie: Felix Van Groeningen Drehbuch: Carl Joos, Felix Van Groeningen Kamera: Ruben Impens Darsteller: Veerle Baetens, Johan Heldenbergh, Nell Cattrysse, Geert van Rampelberg, Nils De Caster u.a. |
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Wohin nur mit all den Gefühlen? |
Das Männer-Quintett ist um das Mikrophon versammelt und schmettert den Refrain seinen Zuschauern entgegen: »Will the circle be unbroken, by and by Lord, by and by …« Zum Publikum im Club gesellt sich Elise – intelligent, attraktiv und von Anfang an schwer verliebt in Didier, dem Banjospieler dieser Bluegrassband. Kurz darauf werden beide ein Traumpaar, Elise in der Band mitspielen, sie und Didier ihre Tochter, Maybelle, bekommen – und auf die schwerste aller Beziehungsprüfungen zusteuern. Doch alles der Reihe nach. Oder lieber doch nicht?
The Broken Circle ist der vierte Spielfilm des flämischen Regisseurs Felix Van Groeningen, der in Deutschland mit seiner deftigen, tragikomischen Romanadaption von Dimitri Verhulsts Die Beschissenheit der Dinge bekannt wurde. Was Van Groeningen mit seiner aktuellen Arbeit gelungen ist, überrascht umso mehr, als er sich
eigentlich nicht im Beziehungskisten-Genre zuhause fühlt. Doch The Broken Circle steht auf so vielen Säulen, die ihn zu einem großartigen Film erheben. Zum Beispiel durch das Drehbuch von Van Groeningen und Co-Autor Carl Joos: Es basiert auf Johan Heldenberghs und Mieke Dobbels Bühnenstück »The Broken Circle Breakdown Featuring The Cover-ups Of Alabama«, das in Belgien fünf Jahre lang sehr erfolgreich lief. Van Groeningen hat es geschafft, die
langen Theatertexte in eine prägnante schnörkellose Sprache und in Bilder umzuformen, die von Anfang an viel mehr bedeuten als das Gezeigte zu vermitteln scheint. Doch nicht nur das. Er verpasst der gleichsam handlungs- und charaktergetriebenen Handlung eine ausgefallene Struktur, die Nico Leunen in hervorragende Schnittarbeit kleidet, wodurch das Erzähltempo immer wieder auf spannende Weise variiert.
Die zentralen Charaktere des Stücks wurden für den Film hervorragend
ausgearbeitetet: Didier (wie auf der Bühne gespielt von Johan Heldenbergh), der zupackende handwerklich geschickte Träumer und besessene Musiker und Elise (Veerle Baetens), die in der Stadt ihr Tattoostudio hat und deren sexy Körper übersäht ist mit unterschiedlichsten Motiven. Sie ist jedoch keine arschgeweihte Tribaltussi, die tough wirken will, sondern charmante Lebenskünstlerin: Anders als Leonhard in Christopher Nolans Memento, der Tätowierungen braucht, um nicht zu vergessen oder Nikolai in David Cronenbergs Eastern Promises, der die Körperbilder wie einen Lebenslauf zur Schau stellen muss, nutzt sie ihre Tätowierungen als eine Art Tagebuch, das bei Bedarf jeweils mit einem sogenannten Cover-up
kurzerhand von ihr umgestaltet wird, damit das Leben weitergehen kann.
Didier entfacht in Elise die Leidenschaft zur Bluegrassmusik, eine weitere wichtige Säule, wenn nicht das Fundament des Films. Die Songs der Apalachen-Cowboys des 19. Jahrhunderts, mit denen sie ihrem harten Leben entfliehen konnten, wirken nicht nur kommentierend und emotionsverstärkend. Die Lieder von einst setzen auch thematische Kontrapunkte – zum einen inhaltlich durch die Vertröstung auf ein herrliches Leben im Jenseits, was der atheistischen Haltung Didiers
gegenübersteht. Zum anderen durch die Vermittlung eines Images von Amerika, das noch unbegrenzte Möglichkeiten bereithielt, von denen aber im filmischen Heute, dem Land der George W. -Bush-Ära mit seinen mitunter merkwürdigen Moralvorstellungen, offenbar nichts mehr übrig geblieben ist. Der Kraft und Unmittelbarkeit dieser Musik kann sich keiner entziehen, der sich auf den Film einlässt – nicht einmal der heftigste Countrymusik-Verweigerer. Wohl nicht ohne Grund hat der
Film in Belgien einen förmlichen Bluegrass-Hype ausgelöst und sein Soundtrack wochenlang die Charts des Landes angeführt.
Auch die musikalische Performance lebt zu einem großen Teil vom Können der beiden Protagonisten: Für seine Bühnenfigur Didier hat Heldenbergh mit 30 Jahren noch einmal von der Pike auf Mandoline-, Gitarre- und Banjospielen gelernt, was ihm im Film nochmal zugute kam und er selbst als »das schönste Geschenk« bezeichnet, »das ich mir selbst machen konnte«. Und
Baetens, die ursprünglich aus dem Musicalfach kommt, zeigt in ihrer musikalischen Darbietung weniger Ähnlichkeit mit Countryikone Dolly Parton als mit der mutigen Dixie-Chicks-Frontfrau Natalie Maines. Sie ist perfekt für die Rolle, da sie die essentielle Vielseitigkeit mitbringt: als Elise muss sie singen, tanzen und vor allem auch sämtliche Schattierungen der emotionalen Skala glaubwürdig darstellen können. Dass das alles so grandios gelingt, hat unter anderem einen Effekt,
den man heutzutage nicht mehr allzu oft im Kino erlebt: Der Zuschauer wird verführt, die Rolle des affektgetriebenen Schutzengels zu übernehmen, der eifersüchtig über das gezeigte Liebesglück wachen will und doch der Geschichte ihren Lauf lassen muss.
»I just wanted to punish someone, I just wanted to blame someone, 'cause it’s so fucking unfair!«, schleudert Mary ihrem Ehemann Roger in Kenneth Branaghs Peter’s Friends im Heulkrampf entgegen. Wohin mit all den Gefühlen angesichts der größten aller Katastrophen? Didier und Elise versuchen »es« – jeder auf seine Art, auch mit Hilfe ihrer gemeinsamen Musik. Die bleibt, nicht zuletzt in Gestalt treuer Freunde, die, statt sich in Klugscheißerei zu ergehen, lieber zu ihren Instrumenten greifen und mit ihnen den nächsten passenden Song begleiten. Und so galoppiert er immer weiter, der trotzige Rhythmus. Selbst, nachdem The Broken Circle längst zu Ende ist.