USA 2020 · 399 min. · FSK: ab 16 Regie: Scott Frank Drehbuch: Scott Frank, Allan Scott Kamera: Steven Meizler Darsteller: Anya Taylor-Joy, Bill Camp, Moses Ingram, Isla Johnston, Christiane Seidel u.a. |
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Mensch unter Menschen, Frau unter Männern oder einfach SchachspielerIn? | ||
(Foto: Netflix) |
»[…] je mehr sich einer begrenzt, um so mehr ist er andererseits dem Unendlichen nah; gerade solche scheinbar Weltabseitigen bauen in ihrer besonderen Materie sich termitenhaft eine merkwürdige und durchaus einmalige Abbreviatur der Welt.« – Stefan Zweig, Schnachnovelle
Nach der siebten und letzten Folge von Scott Franks Miniserie The Queen’s Gambit, die man mindestens zweimal sehen sollte, um alle Feinheiten des Plots, der Inszenierung und des Subtextes würdigen zu können, kommen einem unweigerlich Gedanken zum Sportfilm. Warum machen das die Amerikaner so gut und so viel besser als die Europäer? Warum sind sie die unbestrittenen Sporfilmweltmeister? Nur weil sie jede Leitsportart kontinuierlich mit anspruchsvollem Filmstoff unterfüttern – man denke nur an Produktionen wie Moneyball (Baseball), White Men can’t jump (Basketball) oder Jerry Maguire (Football)? Darüber hat in einer großartigen Steadycam-Ausgabe (oder waren es gleich mehrere?) auch Steadycam-Herausgeber Milan Pavlovic lange Texte geschrieben, von denen mir aber nur eins in Erinnerung geblieben ist, Pavlovics Begeisterung.
Die Antwort, warum die Amerikaner Sportfilmweltmeister sind, liegt irgendwie auch in dieser partiellen Erinnerung verborgen – denn amerikanische Sportfilme gehen noch viel weiter, sie »begeistern« eben nicht nur für Leitsportarten, sondern auch für Randsportarten, und machen aus einer Randsportart eine Leitsportart – so wie das Schachspielen in The Queen’s Gambit. Das ist wirklich nicht weit hergeholt und reißerisch übertrieben, denn seit The Queen’s Gambit vor einem Monat, Ende November 2020, bei Netflix erschien, ist The Queen’s Gambit nicht nur zur Überraschung aller Beteiligten Netflix' erfolgreichste Miniserie geworden, sondern hat der Sportart Schach einen Zulauf beschert, der vorher nicht denkbar war. Was natürlich ganz und gar nicht nur daran liegt, dass wir gerade in Zeiten der Pandemie leben und zwei Spieler in korrekter Distanz gesünder leben als ein Haufen aufeinanderkrachender Spieler.
Nein, das liegt gleich an einer ganzen Reihe von immer wieder schwindelerregenden Faktoren, wie das im Sport (und im Leben) halt so üblich ist.
Und schon hier wird einem schwindlig wie nach einem wilden, völlig unvorhersehbaren, verqueren Ritt: Denn das erst mit der Serienvielfalt Anfang des 20. Jahrhunderts aufkommende (obwohl auch im Kinofilm nicht unbekannte) Verantwortungsamalgam des Showrunners ist im Fall von The Queen’s Gambit noch einmal auf die Spitze getrieben und stellt sogar Nic Pizzolattos Dienste für die erste Staffel von True Detective in den Schatten. Denn Regie, Drehbuch und Produktion werden tatsächlich fast nur von einer Person besetzt. Dazu muss man allerdings ergänzen, dass Scott Frank, der alle diese Funktionen besetzt, nicht nur die großartigen Drehbücher zu Kinofilmen wie Get Shorty (1995), Out of Sight (1998), Minority Report (2002) oder Logan (2017) verfasst hat, sondern mit The Lookout (2007) auch ein hervorragendes Debüt als (Kinofilm-) Regisseur hinlegte. Und man muss wissen, dass er für The Queen’s Gambit mit dem Co-Produzenten und Co-Drehbuchautor Allan Scott zusammengearbeitet hat, der die Filmrechte für den gleichnamigen Roman von Walter Tevis bereits 1992 erworben und seitdem unermüdlich versucht hat, ihn filmisch zu adaptieren.
Warum das so lange gedauert hat, ist eins dieser unlösbaren Rätsel, denn schließlich hat Tevis eine ganze Reihe von Romanen geschrieben, die es zu großen Verfilmungen gebracht haben: Robert Rossens Haie der Großstadt (1961), Nicolas Roegs Der Mann, der vom Himmel fiel (1976) oder Martin Scorseses Die Farbe des Geldes (1986). Die einfachste Antwort wäre natürlich zu sagen: Es musste erst Netflix kommen, um dem Roman gerecht zu werden, was selbstverständlich nur am Rande stimmt, aber immerhin bietet Netflix die Option der Miniserie.
Miniserien sind einer Romanverfilmung vielleicht am dienlichsten – weil sie das Große mit dem Kleinen verbinden, das Detail und die Ausschweifung, den klassischen Plot und das erzählerische Experiment, sie sind echte Quergänger. So könnte man nach heutigen Aspekten vielleicht sogar Stanley Kubricks Barry Lyndon als Miniserie werten, die damals natürlich nur im Kino gezeigt wurde – anders als so überzeugende Romanadaptionen wie Sarah Polleys Alias Grace, Lisa Cholodenkos Olive Kitteridge oder im Frühjahr dieses Jahres Maria Schraders Unorthodox.
Und genau wie in diesen aufgeführten Beispielen spielt auch Scott Frank die Stärken des kurzen Langformats bzw. des langen Kurzformats auf allen Ebenen aus.
Frank lässt sich Zeit. Er erzählt die Kindheit des Waisenkinds Beth Harmon (Anya Taylor-Joy), ihre Traumatisierung durch den Tod der Mutter und die Einweisung in ein Kinderheim, ein Trauma und seine Bewältigung, ein Handlungs- und Bedeutungsstrang, der auch in späteren Folgen wieder aufgenommen werden wird und der im Grunde die Initialzündung von Beths Hinwendung zum Schachspiel ist.
Aber Scott belässt es dabei nicht. Er hat die Zeit und nimmt sich die Zeit, auch gleich eine ganze Epoche zu beschreiben, die ausgehenden 1950er bis in die späten 1960er Jahre. Und bringt das, was beim Leser des Buches im Kopf entsteht, in immer wieder überraschende kaleidoskopartige Bilder. Denn alles ist für Frank gleich wichtig in dieser lustvollen, elegischen Ethnografie eines historisch so wichtigen Zeitabschnitts, in dem auch wirklich kein Bauer geopfert wird: Der Kalte Krieg zwischen Russland und den USA ist auch ein Krieg im Schachspiel, aber fast genauso wichtig sind die Kleider (und was für Kleider!), die die Schachspieler und allen voran Beth tragen, sind die Genderkonflikte, die hier ausgetragen werden, in einer männerdominierten Schachwelt (nicht viel anders als heute), die der realen Welt kurz vor dem Summer of Love und einer neuen Hippie-Moral in nichts nachsteht, selbst in Bezug auf den Drogenkonsum nicht.
Und genauso wichtig sind auch die Interieurs, das Innere der Häuser und der Spielstätten, ja sogar die Tapeten strahlen in einer Intensität, die beim Betrachter lange nachhallt und deutlich macht, dass Innenräume nicht nur Spiegel der Außenwelt sind, sondern immer auch Spiegel der verlorenen Seelen, die sich in ihnen Trost und Heimat erhoffen und eigentlich das zeigen, was die Außenwelt, also die Realität, schon lange nicht mehr ist und wohl auch nie war.
Aber Frank spielt auch mit der Zeit, verkürzt sie. Gerade in den grandiosen Kamerafahrten, die immer wieder im Takt der Schachuhr geschnitten sind, verkürzt sich die Zeit zu dem des Denkenden, dem, der am Zug ist, und wird eine andere, wenn die Kamera aus ihrer turmartigen Singularität auf die Zuschauer blickt, wird auch hier deutlich, dass Menschen in völlig unterschiedlichen »Zeitzonen« leben und doch miteinander agieren können. Wird gerade über das Schachspielen auch deutlich gemacht, dass Schach ein zutiefst symbolischer Ausdruck des Lebens ist und ungeahnte Bewältigungsstrategien bietet.
Das erkennt auch Beth schon sehr früh. Selbst unfähig, das eigene Leben in seiner Komplexität und Schwere zu ertragen, sucht sie sich das Schachspiel zielgerichtet als alternative Lebensform aus. Denn die 64 Felder eines Schachbretts lassen sich einfach erheblich besser kontrollieren als ein ganzes Leben.
Der Film nimmt Beths Entscheidung, sich dem Schachspiel zuzuwenden, so ernst wie Beth selbst. Dazu gehört eine Grundeinstellung zum »Sport«, die sich die wenigsten europäischen Filmemacher (zu-) trauen. Dazu gehört, dass Scott Frank das Schachspiel nicht einfach nur als Kulisse inszeniert, sondern mit allen unbedingt notwendigen und banalen Details, die möglich sind.
Beratend standen Scott und seinem Team Ex-Schachweltmeister Garry Kasparov und der legendäre amerikanische Schachtrainer Bruce Pandolfini zur Seite. Sie ermöglichten es, dass hier reale Partien gespielt werden, die Schachbegeisterte erkennen und Novizen wegen ihre Intensität verblüffen.
Wie gut das Drehbuch ist, zeigt sich auch an diesen Partien und ihren Details, und erst recht mit der letzten Folge, ist die finale Partie in der letzten Folge doch auch die einzige Partie, die komplett in Realzeit gezeigt wird und dabei mit derartig fantastischen Schnitten, dem überraschenden Wechsel von Außen- zu Innenaufnahmen, dem Schachspiel im Kopf der begeisterten russischen Zuschauer zum Kopfspiel der Kontrahenten so atemberaubend und mit irrer, perfektionistischer Detailverliebtheit inszeniert ist, dass sie für mich schon jetzt zu meinen Best-Offs in Sportfilmen zählt. Aber nicht nur Laien, auch Schachexperten wie David Howell, Jovanka Houska oder Magnus Carlsen erklärten inzwischen in langen Interviews, wie akkurat und schlichtweg überwältigend The Queen’s Gambit die Faszination, Schönheit und Emotionalität des Schachspiels darstellt.
Und so wie die Experten ahnt auch der Betrachter in seiner Laienbegeisterung spätestens am Ende, dass Schach so wie jede andere Sportart ein Spiegel unserer Welt ist, die Welt im Kleinen zeigt, mit allen Tragödien und Komödien, die dazugehören. Dass Sport auch Politik, Wirtschaft und Kultur, Liebe und Hass und therapeutische Klimax ist. Und immer ein Mensch hinter allem steht.
Ist das vielleicht dann doch die größte Überraschung? Dass The Queen’s Gambit über eine zentrale Hauptrolle so gut funktioniert? Denn das war nach den letzten Filmen, in denen Anya Taylor-Joy Hauptrollen besetzte, nicht unbedingt absehbar. Sei es in Vollblüter (2017) oder erst im Frühjahr dieses Jahres in der Jane Austen-Adaption Emma – Taylor-Joy fiel nicht unbedingt auf, sondern arbeitete in intensiven Zweier- oder extravaganten Gruppenkonstellationen unermüdlich dem Plot zu, ohne ihn zu überstrahlen.
Das hätte dem dann doch eher mittelmäßigen Emma vielleicht gutgetan, in The Queen’s Gambit macht Taylor-Joy dann einfach alles und führt diese Miniserie damit zu einer wahren Maxiserie. Sie strahlt und überstrahlt, macht sich klein, um dann wieder groß zu sein. Und vor allem kann sie wie große Schauspielkolleginnen (man denke nur an Ellen Barkin oder Meryl Streep) nicht nur schön, sondern auch hässlich sein, kann langweilig, aufgesetzt und tussig wirken, um im nächsten Moment etwas »mystisches« , ganz im Sinne von François Truffauts Mann, der die Frauen liebte zu verströmen, um am Ende dann wieder das zu sein, was wir doch alle sind.
Und als ob Scott Frank genau das formulieren wollte, so inszeniert er auch das Ende von The Queen’s Gambit, wird Beth am Ende, nach diesem unglaublichen Parforceritt, in einer sich mit jeder Folge steigernden Dauerklimax, zu einem zufriedenen Menschen unter Menschen. Es ist eine Heimkehr.
* Die Unsterbliche Partie ist eine der berühmtesten Schachpartien der Schachgeschichte. Sie fand 1851 in London zwischen den Schachmeistern Adolf Anderssen und Lionel Kieseritzky statt.
The Queen’s Gambit (Das Damengambit) ist seit dem 23.10.2020 auf Netflix abrufbar.