Elephant

USA 2003 · 81 min. · FSK: ab 12
Regie: Gus Van Sant
Drehbuch:
Kamera: Harris Savides
Darsteller: Alex Frost, Eric Deulen, John Robinson, Elias McConnell u.a.

»So foul and fair a day«

Eine High School-Todesfuge

Die Dinge sind nicht so, wie man viel­leicht auf den ersten Blick annehmen könnte. Eigent­lich sind sie auch nicht ganz von dieser Welt. Spar­ta­ni­scher Musik­ein­satz, ein wenig Beethoven. Die Kamera vage und doch sehr real, keine Angst vor der Leere. Zehn Kapitel, bei denen die verschie­denen Figuren, von denen sie erzählen, namens­ge­bend sind. Spielort: Portland, Oregon.

Elephant zeigt Teenager an einem Tag wie jedem anderen, in der Schule und auf dem Weg dorthin. Verschieden sind ihre Pfade und werden doch irgendwie zusam­men­ge­halten durch das, wozu jeder von ihnen beiträgt – ihre eigene Welt, die Welt der Teenager, die wie eine Membran vor der Welt der Erwach­senen schützt, gleichsam semi­per­me­abel, nur das durch­las­send, was kompa­tibel ist. Das können ganz verschie­dene Dinge sein: die Idee eines schlanken Körpers ohne ein Gramm Fett oder die in sich verkro­chene Variante einer Scham­be­haa­rung, die man nicht entfernt und sich deswegen schämt. Das können Ambi­tionen sein, wie an der Kunst­hoch­schule ange­nommen zu werden oder die Begeis­te­rung für Waffen; die Jugend­li­chen sind alt genug, um sich ihrer selbst annehmen zu müssen – es klappt nicht immer auf gesunde Weise. Doch innerhalb ihrer Welt machen alle Versuche dem Leben zu begegnen glei­cher­maßen Sinn. Ein Urteil von außen, etwa durch die Erwach­senen, zählt nicht. Richter gibt es nur in den eigenen Reihen, und für welchen Lebens­stil die Entschei­dung auch fallen mag – einen Sieg trägt man immer davon. Entweder über die Mitschüler, gravie­render: die Gesell­schaft, oder eben sich selbst.

Verbin­dungen nach außen: John muss gleich zu Anfang des Films Rollen mit seinem Vater tauschen. Betrunken und mit verdelltem Auto kommt dieser angekurvt, und John muss ihn nicht nur vom Steuer vertreiben, sondern auch dafür sorgen, dass er aus dem Schul­se­kre­ta­riat abgeholt wird. So können Jugend­liche sein. Sie können auch ganz anders sein. Alles wird ihnen in diesem Film zuge­standen, er will sie bloß nicht über einen Kamm scheren. Denn das wäre das Lang­wei­ligste und Reak­ti­onärste, was zu Zeiten von Littleton und seiner deutschen Variante Erfurt entgegnet werden könnte: dass die Jugend­li­chen von heute ganz besonders übel seien.

Der Film ist wie Gedicht. Eines das andeutet, nie statuiert. Das einen Haufen Körner ausstreut und im Kopf der Zuschauer Gedan­ken­bilder wachsen lässt. Rein beob­ach­tend und ohne Präten­tion dehnt Gus van Sant einen Tag des Jungseins ins Unend­liche. Und seine Laien­dar­steller, die allesamt wirklich in Portland, Oregon zur Schule gehen, verkör­pern diese Jugend­li­chen so voll­kommen ohne Barrieren, dass der Film fast doku­men­ta­ri­sche Züge annimmt. Wären da nicht die planen Einstel­lungen, in denen die Kamera ganz ähnlich wie in van Sants letztem Film Gerry langsam verschie­denen Prot­ago­nisten folgt, auf ihrem Weg zur Schule und durch die Schul­ge­bäude. Dabei bleibt sie seltsam unge­spannt, bis auf eine einzige Bündelung: Dreimal laufen sich Eli, der Photo­graph, und John auf dem Gang über den Weg und die verschämte Michele im Hinter­grund an ihnen vorbei. Ihr Hand­schlag ein Code, selbst­ver­s­tänd­li­ches Acces­soire zweier Personen, die wahr­schein­lich die inte­gersten und irgendwie reifsten Charak­tere des Films sind. Genau deshalb erzählt Elephant umso mehr über sie, wenn diese Begegnung auf dem Gang dreimal, in unter­schied­li­chen Einstel­lungen und als Faden­kreuz verschie­dener Hand­lungs­stränge statt­findet: Es ist eine eigene, kodierte, voll­kommen autarke Welt, die sich die Jugend­li­chen erschaffen. Und genauso ist es unaus­ge­spro­chenes Gesetz, dass bei diesem Spiel nicht alle mitmachen können. Weil sie wie Michele Haare am Körper haben und alle anderen Mädchen die Shaving Cream im Rucksack; oder aber einfach weil sie wie Eric Ziel­scheibe der Energien anderer sind, eben der Klas­sen­spast. Wer durch das Code-Raster fällt, muss sich einen Privat­kosmos erschaffen. Sich hinter Bücher­bergen verschanzen, wie Michele, oder sich Waffen besorgen, um einfach mal Rache zu nehmen.

Bei alledem bleibt Gus van Sants Regie subtil und respekt­voll. Er maßt sich nicht an, seine Figuren zu durch­schauen. Ganz anders als Teenager­voyeur Larry Clark, der in seinem letzten Film Ken Park den Jugend­li­chen wieder einmal unver­hohlen auf die Pelle rückt. Nach blumi­geren Filmen wie Good Will Hunting und Finding Forrester beschert uns Gus van Sant ein beein­dru­ckend nacktes und trotz seinem fatalen Finale undra­ma­ti­sches Werk. Es klingen ähnliche Fragen an wie in Michael Moores Bowling for Columbine, doch Elephant ist der künst­le­risch wert­vol­lere Film. Dafür gab es in Cannes die Goldene Palme und den Preis für die beste Regie. In den USA goutierte man weniger entschieden das Besondere des Films: seine Details, die inmitten der Lang­sam­keit unver­mutet aufblitzen. Und ihn trotz der distan­zierten Kamera zu einem sehr intimen Film machen, dessen große Erzähl­qua­litäten im Nonver­balen liegen.

Der Titel des Films macht auf ähnlich indirekte Weise Sinn. Während seine Mitschüler Klopa­pier­rollen auf ihn abfeuern, zeichnet Eric mit gesenktem Kopf Elefanten; abgesehen davon kommen sie im Film nicht vor. Daher ein Blick nach außen auf ein anglo­phones Sprich­wort: »If there’s an elephant sitting in a room, how many people will talk about it?« Eher niemand, denn Ignoranz und Feigheit lassen sich schneller bewerk­stel­ligen als Ursa­chen­for­schung. Man könnte sich auch an die berühmte Elefan­ten­pa­rabel erinnern, in der drei Blinde jeweils verschie­dene Körper­teile des Tieres vorge­führt bekommen. Der eine fühlt den Rüssel und denkt, es sei eine Schlange, der andere verwech­selt Bein mit Baum­stumpf, und der Dritte hält den Rumpf für eine Wand – das Phänomen »Elefant« wird zu einer Akku­mu­la­tion subjek­tiver Eindrücke. Wie die aus drei verschie­denen Perspek­tiven wieder­holte Begegnung im Gang zwischen Eli, John und Michelle. Van Sant selbst gab den Hinweis, der Titel sei einer BBC-Doku­men­ta­tion von Alan Clarke über Gewalt in Nord­ir­land entlehnt.

Es ist nicht so, dass das Desaster, man sieht es kommen, dem Film wie ein dunkler Schatten voraus­eilte. Vielmehr der Weg dorthin, in seiner schon fast qual­vollen Lang­sam­keit, inter­es­siert: Wenn man weiß, dass jemand gleich im Militä­routfit seine Schul­ka­me­raden umbringt, dann hört man ihm anders zu, wenn er Beet­ho­vens »Für Elise« spielt; in voller Länge quält sich Eric durch die Melodie, als ginge es darum, einen Hammer­wett­be­werb zu gewinnen, und es sind weniger die Noten­werte, an denen er scheitert – technisch hat er das Stück gelernt, doch die Bedeutung der Töne verschließt sich ihm. Eric versteht nicht, wo sie hinwollen und hinkt ihnen hölzern hinterher, spielt jede Wieder­ho­lung auf dem Noten­pa­pier, bis ihn kurz vor Ende des Stückes ein weiterer Verspieler zum wütenden Abbruch bringt.

Wahr­neh­mung und Selbst­steue­rung werden hier zu relativen Größen, auf die man nicht zählen kann. Gut oder böse, falsch oder richtig – Mitschüler und Lehrer abzu­met­zeln ist mehr als grausam. Doch was passiert mit den Amok­läu­fern in diesen Momenten? Dachten die Mörder von Erfurt an etwas anderes, als ihre Ziele gut zu treffen und möglichst hoch zu punkten? Ihr Equipment voll auszu­nutzen? Nahmen sie nicht bloß diese eine Chance wahr, die verhassten Feinde aus dem Weg zu räumen? Wer schraubt den Kopf auf und misst? Gehirn­wellen sagen wenig aus über die Ursache durch­knal­lender Synapsen. Und wenn Alex zwei seinen Opfern mit dem Abzähl­reim begegnet, dann ist das kein plumper Finger­zeig auf Filme wie Natural Born Killers. Sicher, während Eric zu »Für Elise« die Tasten quält, metzelt Alex Bild­schirm­feinde mit dem Joystick. Und während die beiden auf ihre Waffen­lie­fe­rung warten, zeigt eine alte Wochen­schau den gesti­ku­lie­renden Hitler. Doch dies alles, scheint Gus van Sant sagen zu wollen, reicht nicht, um die Dinge wirklich zu erklären. Banalität und Irra­tio­na­lität liegen manchmal arg nah beiein­ander. Und in direkter Linie mit einem der realen Akteure von Littleton kommt dem Alex aus Elephant beim Nachladen seines Gewehrs eine Shake­speare­zeile über die Lippen: »So foul and fair a day I have not seen.«

Das leise Gedicht wird in seiner Unbe­irr­bar­keit zur Fuge. Über Leben und Tod und die Banalität, die das Böse im Teenager­kosmos annehmen kann, als wäre es wie der dreifache Hand­schlag nur Zeichen von Diskon­ti­nuität. Der Monotonie des Schul­all­tags folgt das Massaker wie eine daher­ge­lau­fene Fußnote.

An einem Tag wie jeder andere ...

Ein ganz normaler Schultag in einer ganz normalen ameri­ka­ni­schen Schule, ganz normale ameri­ka­ni­sche Schüler sind in ihren Klassen, auf dem Sport­platz, in der Caféteria zu sehen bei ganz normalem Verhalten. Offenbar ein Tag wie jeder andere, kein Titel, keine Einblen­dung weist auf etwas anderes hin. Doch Spannung entsteht durch das Vorwissen der Zuschauer, irgendwo hat man gehört oder gelesen: Elephant zeige ein Massaker wie an der Columbine High School in Littleton, den Vormittag, an dem zwei Schüler mit Taschen voller Gewehre durch das Gebäude ziehen, um Mitschüler zu erschießen. Das Massaker von Columbine ist, wie das von Erfurt, ein Ereignis, das Zweifel am Funk­tio­nieren der modernen Gesell­schaft weckt. Welche Dramen müssen sich abspielen, die solche Monster gebären?

Um so irri­tie­render der Blick auf die Alltäg­lich­keit der Begeg­nungen im Schulflur, in eine Schul­kan­tine, wie man sie als Tatort aus dem Fernsehen oder aus Bowling for Columbine von Michael Moore kennt, wo auf unscharfen Über­wa­chungs­ka­mera-Bildern die Täter zu sehen waren. Plötzlich ist das alles greifbar, noch wahrer, schiebt sich die insze­nierte Realität vor das, was wir aus anderen Quellen zu wissen glauben. Und doch erfährt man nichts Neues, ist der Schul­alltag nicht grund­sätz­lich anders als der, den man selbst einmal erlebt hat.

Beiläufig stellt van Sant Personen vor, setzt eine kurze Begegnung auf dem Flur zwischen drei Schülern als Zeitmarke kurz vor dem schreck­li­chen Geschehen ein und beginnt, den Vormittag aus einer leicht verscho­benen Perspek­tive noch einmal zu erzählen. Wieder und wieder bis zu dem Moment, als die bewaff­neten Jugend­li­chen die Schule betreten und vorher noch einen Mitschüler warnen. Eine Rück­blende zeigt die zwei Jungen zuhause, beim Rumhängen, bei der Planung. Und dann passiert es.

Mord ist seit Beginn der Film­ge­schichte Sujet, es gibt konven­tio­nelle Methoden, Mörder darzu­stellen. Entweder sind es charak­ter­lose, abgrund­tief schlechte Menschen, Verkör­pe­rungen des Bösen. Oder es sind Unglück­liche, die von den Umständen zu ihren Taten getrieben werden, sei es durch ihre psychi­sche Konsti­tu­tion oder eine unver­s­tän­dige Gesell­schaft. Es gibt Menschen, die, auf welche Weise auch immer, glauben, ihre eigenen Werte vertei­digen zu müssen. Und dann gib es noch Killer, die im Auftrag handeln, denen der Mord­wunsch anderer Leute als Recht­fer­ti­gung genügt, so lange sie bezahlt werden. Eric und Alex passen in keine dieser Kate­go­rien, weil sie sich nicht wirklich von den Mitschü­lern unter­scheiden.

Sind es Erklä­rungs­an­sätze, die van Sant liefern will, wenn er die späteren Todes­schützen als Opfer von Klas­sen­terror, bei Ego-Shooter-Spielen, unin­ter­es­siert vor einer Nazi-Doku oder gemeinsam unter der Dusche zeigt? Oder zeichnet er einfach nur auf, was alle schon über das Leben solcher Atten­täter zu wissen glauben, und mehr: Alex am Klavier wirkt durchaus nicht unaus­ge­gli­chen, die kindliche Begeis­te­rung ob der Gewehr­lie­fe­rung erinnert an das Auspacken von Weih­nachts­ge­schenken und das lako­ni­sche Hab Spaß, als sie die Mord­waffen ins Auto legen, wirkt so beiläufig, dass klar wird: wie viel wir auch wissen mögen über diese beiden Jungen: was sie bewegte, was irgend jemanden zu so einer Tat treiben kann wird immer unvor­stellbar bleiben. All die realis­ti­schen Bilder können uns doch kein schlüs­siges Bild vermit­teln.

Der Film gibt sich als Augen­zeuge, vermit­telt die Illusion des selbst-gesehen-Habens durch lange Steady-Cam-Gänge, ohne auf verwa­ckelte Video­bilder zurück­greifen zu müssen. Einer­seits werden die Sehge­wohn­heiten durch altmo­disch lange Einstel­lungen und sparsame Schnitte stra­pa­ziert, doch bei der episo­di­schen Verzah­nung wird ganz auf die moderne Medie­ner­fah­rung vertraut, die in unserer TV-Gesell­schaft schon den Kleinsten einge­impft wurde. Die Laien­dar­steller spielen weniger eine Rolle, als dass sie Typen verkör­pern. Konven­tio­nelle Erzähl­struktur ist hier ebenso wenig zu erwarten wie einfüh­lende Psycho­lo­gi­sie­rung. Das mag Erwar­tungen enttäu­schen, die an einen Spielfilm gestellt werden, ebenso wie die Hoffnung auf blutig-detail­lierte Close-Ups der Morde ins Leere laufen. Das Grauen resul­tiert aus der Unmo­ti­viert­heit, der Unfass­bar­keit, dem Fehlen verläss­li­cher Kriterien und dem Bruch aner­zo­gener Erwar­tungen. Niemand kann absehen, wer übrig bleibt.

Die Irrgänge der halb­leeren Schul­flure, die Reduktion auf die subjektiv wirkende Kamera setzen den Zuschauer mitten ins Geschehen und wecken gleich­zeitig einen über­mäch­tigen Eindruck von Isolation. Beein­dru­ckend die Musik: von melo­di­scher Klassik (Beethoven) wechselt sie im Verlauf des Films kaum merklich über synko­pi­schen Jazz und atonalen Klänge zu halligem Raumklang mit Natur­geräu­schen, bis nur noch dumpfe Schläge zu hören sind, die die Schüsse gleichsam vorweg­nehmen. Genau wie die Wolken­bilder, die immer wieder zwischen die Schul­szenen geschoben werden, vermit­telt sie ein Gefühl einer Eska­la­tion, einer Richtung in der gebro­chenen Zeit­struktur, ohne das Geschehen als unaus­weich­lich darzu­stellen.

Gus van Sant orien­tiert sich mit seinem eindrück­li­chen Film, der eher ein Dokument der Eindrücke als eine Doku­men­ta­tion der Vorgänge sein will, an einem Kurzfilm über terro­ris­ti­sche Anschläge in Nord­ir­land. Die gleich­na­mige 39minütige TV-Doku­men­ta­tion von Alan Clarke (GB 1989) bezieht ihren Titel auf ein engli­sches Sprich­wort, das peinliche Problem eines Elefanten im Wohn­zimmer, das keiner anspre­chen will – genau so sei es mit der allge­gen­wär­tigen Gewalt. Van Sant hat den Titel über­nommen, auch wenn er dabei an ein anderes Gleichnis denkt: das von den blinden Männern, die jeweils ein Körper­teil (Ohr, Bein, Schwanz) eines Elefanten berühren und aus ihrer begrenzten Wahr­neh­mung auf die Ähnlich­keit des Tieres mit einen Fächer, einen Baum oder einem Seil schließen – das Bild wird nie komplett, die Wahrheit entzieht sich unserer frag­men­tierten Wahr­neh­mung: »Nobody actually has the big picture. You can’t really get to the answer, because there isn’t one.«