Helden der Wahrscheinlichkeit

Retfærdighedens ryttere

Dänemark 2020 · 116 min. · FSK: ab 16
Regie: Anders Thomas Jensen
Drehbuch:
Kamera: Kasper Tuxen
Darsteller: Mads Mikkelsen, Nikolaj Lie Kaas, Andrea Heick Gadeberg, Lars Brygmann, Nicolas Bro u.a.
Filmszene »Helden der Wahrscheinlichkeit«
Wie wir uns gegenseitig retten können
(Foto: Splendid/Neue Visionen)

Rache als Gruppentherapie

Anders Thomas Jensens außergewöhnliche Tragikomödie ist nicht nur eine furiose Gratwanderung zwischen Humor und Erkenntnisgewinn, sondern auch eine mitreißende Ensembleleistung

»I sometimes think people with problems band together. Just like fat people, so they look less fat when they’re all together.« – Markus in Helden der Wahr­schein­lich­keit

Erst vor ein paar Monaten zeigte Ilya Nais­huller mit seinem Nobody, wie frisch und unver­braucht das Genre des Rache­films, und im Beson­deren das soge­nannte Vigilant Genre, die filmische Selbst­justiz, noch daher­kommen kann. Mit einem über­ra­genden Bob Odenkirk knüpfte Nais­huller an die schon so oft erzählten Geschichten über einfache Menschen an, die nach einem Angriff auf sich, Freunde, die Familie oder Gesell­schaft das Recht in ihre Hand nehmen und sich an den Tätern oder gleich der ganzen Gesell­schaft rächen, damit wir sch(l)ussend­lich wieder in einer besseren Welt aufwachen können. Sei es Michael Winners »Klassiker« Death Wish (Ein Mann sieht rot, 1974) mit Charles Bronson, Martin Scorseses Taxi Driver (1976) mit Robert de Niro, Arthur Penns Target (1985) mit Gene Hackman und Matt Dillon, Michael Douglas in Joel Schu­ma­chers Falling Down (1993), Taran­tinos Kill Bill – Volume 1 und Kill Bill – Volume 2 (2003-2004) oder in den letzten Jahren dann neue oder reak­ti­vierte Franchise-Formate wie Keanu Reeves in John Wick (ab 2014), The Equalizer 2 (2018) mit Denzel Washington oder Rambo: Last Blood (2019) mit Sylvester Stallone – sie alle sind moralisch frag­wür­dige Angriffe auf unsere Zivil­ge­sell­schaft und Demo­kratie, befreien uns aber gleich­zeitig von unserer Angst, dem Bösen nicht wider­stehen zu können und zu schwach zu sein. Es sind Stell­ver­treter unserer selbst, die dann am stärksten werden, wenn unsere Gesell­schaft am schwächsten und unsere Ängste am größten sind.

Nicht viel anders ist das auch mit einer jetzt in die Kinos kommenden, sehr unge­wöhn­li­chen, dänischen Variante des ameri­ka­ni­schen Selbst­justiz-Thrillers. Dänisch heißt hier aber nicht nur einem nach seinem Auftritt in Der Rausch kaum wieder­zu­er­ken­nenden, markanten Vollbart-Mads Mikkelsen in der Haupt­rolle dabei zuzusehen, wie er das Gesetz in die Hand nimmt und Rache dafür übt, dass seine Frau bei einem Attentat auf einen U-Bahn-Waggon umge­kommen und er sich fortan mit seiner puber­tie­renden Tochter ausein­an­der­setzen muss, sondern es bedeutet auch, sich auf groteske Selbst- und Grup­pen­the­ra­pien und über­ra­schende Wahr­schein­lich­keits­theo­rien einzu­lassen, die grund­sätz­liche Fragen nach Schuld und Sühne stellen.

Das heißt aller­dings nicht, dass der Zuschauer langen Theoremen folgen muss, sondern viel eher furiosen, mit schwarzem Humor vom Feinsten gespickten Dialogen, die in ihrer Grat­wan­de­rung zwischen Humor und Erkennt­nis­ge­winn sehr schnell erklären, warum Anders Thomas Jensens Film das Rennen um das erfolg­reichste Eröff­nungs­wo­chen­ende 2020 in den dänischen Kinos für sich entschied und Thomas Vinter­bergs Rausch auf den zweiten Platz verwies.

Doch sind es natürlich nicht nur die zwischen tödlichem Ernst, kauris­mä­ki­scher Verdruckstheit und beckett­scher Absur­dität lavie­renden Dialoge, die Jensens Film so besonders machen, sondern es ist wie schon in Jensens hervor­ra­gendem Adams Äpfel (2005) oder seiner letzten Regie- und Dreh­buch­ar­beit Men & Chicken (2015) die starke Ensem­ble­leis­tung, die eine mit schnellen, über­ra­schenden Schnitten einge­bet­tete kluge Handlung immer wieder zum Pulsieren und dann und wann Explo­dieren bringt.

Zwar ist auch hier Mads Mikkelsen wie schon in jedem Film seit Jensens Langfilm-Regie­debüt Blinkende Lichter (2000) in einer zentralen Rolle zu sehen, und zeigt auch in seiner Rolle als knarziger Afgha­ni­stan-Veteran seine erstaun­liche schau­spie­le­ri­sche Band­breite, doch gleich­zeitig gelingt es Jensen, Mikkelsen in sein grup­pen­the­ra­peu­ti­sches Rache-Komp(l)ott derartig gleich­be­rech­tigt zu inte­grieren, dass neben all den absurden, komödien-affinen Momenten, den tragi­schen Selbst­er­kennt­nissen, über­ra­schenden Grup­pen­dy­na­miken und gesell­schaft­li­chen Zerr­spie­geln am Ende ein Film in Erin­ne­rung bleibt, der vor allem – und das in größt­mö­g­li­cher Inten­sität – davon erzählt, wie wir nicht nur uns in einer immer komple­xeren Welt retten können, sondern vor allem: wie wir uns gegen­seitig retten können, egal wie weit wir uns auch schon vom Zentrum der Gesell­schaft und »normalen« Bezie­hungs­stan­dards entfernt haben. Und mehr noch: der ein Plädoyer dafür ist, Fehler zu machen. Denn aus Fehlern, lernen wir in Helden der Wahr­schein­lich­keit, können nicht nur Nieder­lagen, sondern auch die erstaun­lichsten Siege erwachsen.

Wer das nicht glauben sollte, sehe sich Jensens Film an, einen der schönsten, über­ra­schendsten, klügsten und witzigsten Filme der letzten Monate.