Frankreich 2008 · 130 min. · FSK: ab 0 Regie: Laurent Cantet Drehbuch: François Bégaudeau, Robin Campillo, Laurent Cantet Kamera: Pierre Milon Darsteller: François Bégaudeau, Laura Baquela, Dalla Doucoure, Arthur Fogel u.a. |
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Lob dem Lehrer! |
Die Klasse (im Original treffender: Entre les murs) erzählt von dem Lehrer François und seiner Klasse. Eine Durchschnittsschule am Rande von Paris, mit durchschnittlichen, das heißt massiven Problemen. Der Film verlässt diese Schule nie und unternimmt so visuell jene Integration durch Angleichung, von der und deren Tücken er handelt; er konzentriert sich dabei vor allem auf den Unterricht selbst: François unterrichtet
Französisch, er liest mit den Schülern Voltaire und das Tagebuch der Anne Frank, es gibt aber auch Grammatik- und Wortlektionen. Die Auswahl des Unterrichtsstoffes ist natürlich auch aufs Kinopublikum bezogen und keinesfalls zufällig. Sprache als Medium der Vermittlung und Kommunikation über Unterschiede hinweg, als Medium aber auch der Selbsterkenntnis, der Identitätsfindung, der (Selbst-)Erziehung zu Mündigkeit. Literatur und Philosophie als Wissen vom
Allgemeinen, Humanen an sich.
Der Stoff bildet im Film die Kulisse und das Material für unsere alltäglichen Kulturkämpfe, der Klassenraum wird zum Mikrokosmos der Gesellschaft, und neben grundsätzlich Universellem spielen auch spezifisch französische Faktoren eine große Rolle: Weil die Klasse kulturell überaus heterogen zusammengesetzt ist, kann man gar nicht anders, als an die brennenden Banlieues der vergangenen Jahre denken.
Die Klasse zeigt die alltägliche Praxis unserer Ideale, führt vor, was es bedeutet, wenn Schule auch als Instrument sozialer und kultureller Integration gedacht wird, und was das bedeuten könnte: Schule der Nation. Cantets Perspektive ist dabei parteiisch und im besten Sinne französisch: Also bedingungslos für Aufklärung, für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, und zentralistisch, institutionell, vom Lehrer her gedacht. Während die Schüler untereinander nie gezeigt werden, zeigt Cantet die Lehrer in ihren Gesprächen, auch Zweifeln, und die Mühlen der Bürokratie, der Formulare und der »informellen« Gespräche mit Vorgesetzten und Elternvertretern – die Politik der Schule. Dem zugrunde liegt eine sehr prinzipielle, idealistische, aber vor allem optimistische Idee von Pädagogik: Der Mensch ist von Kultur aus gut. Und der Lehrer ist das wichtigste Instrument dieser Erziehung, der Soldat an der Front des Zivilisationsprozesses. Und ein Lob des Lehrers.
Man sollte hier daran erinnern, dass Lehrer und Erziehung in Frankreich mit seiner völlig anderen Bildungstradition schon immer etwas anderes waren als in Deutschland. Sie sind besser bezahlt, ihr sozialer Rang und damit verbunden ihre Alltagsautorität war zumindest früher viel höher als bei uns und in vielen anderen Ländern, ist es wohl nach wie vor noch. Die intellektuellen Helden des französischen 20. Jahrhunderts wie Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Simone de Beauvoir und viele sonst haben sämtlich eine Lehrerausbildung und sie haben auch mindestens das eine vorgeschriebene Pflichtjahr in einer Schule gearbeitet – was wiederum umgekehrt die Intellektuellen an die Schule und damit an den Staat bindet – übrigens ohne dass sie dadurch zu Knechten würden. Im Gegenteil! Aber schon im 18. Jahrhundert handelte eines der wichtigsten Bücher von Jean Jacques Rousseau von der Erziehung.
Schon mehrfach kam in den letzten Jahren einen Film aus Frankreich, der einen Lehrer und seinen Arbeitsalltag ins Zentrum rückt: Être et avoir (2002) von Nicholas Philibert, vor allem aber Bertrand Taverniers Film Ça commence aujourd'hui (1999). Beide Filme ähneln Cantets Werk, sie sind keineswegs schlechter, als dieser – und weit entfernt von schlichten Verklärungen oder pathetischen Psychologisierungen des Schulalltags à la Der Club der toten Dichter; aber auch von apokalyptischen Schreckensszenarien, seien sie auch so brillant erzählt, wie etwa Gus Van Sants Elephant oder der von Michael Haneke inspirierte Afterschool von Antonio Campos.
Wesentlich für die Erfahrung bei Die Klasse ist sein halbdokumentarischer Charakter. Denn zugrunde liegt allem ein Buch von Francois Bégaudeau, in dem dieser seinen Arbeitsalltag als Französischlehrer beschreibt. Bégaudeau spielt in dem Film den Klassenlehrer, aber »nicht sich selbst«, wie Cantet betont, der auf den fiktionalen Anteil des Films Wert legt. Das gilt auch für die Schüler. Allerdings ist Bégaudeau kein gewöhnlicher Lehrer, auch nicht für Frankreich, sondern einer mit Starqualitäten. Einer, der in seiner Freizeit drei Romane veröffentlicht, eine fiktive Biographie von Mick Jagger, und der als Fußballkolummnist für »Le Monde« arbeitet.
Cinematographisch ist Die Klasse ein nüchterner, konzentrierter Film: Spannendes Kino, das aber trotzdem Wünsche offen lässt: Es ist, das sollte trotz der Goldenen Palme von Cannes, die dieser Film im Mai 2008 überraschend gewann, nicht verschwiegen werden, zwar ein guter, auch künstlerisch interessanter und mutiger Film, aber es ist der uninteressanteste von Cantet, der bisher auch filmisch ein Abenteurer war. Cantet, Jahrgang 1961, ist kein
Unbekannter. Er gehört gemeinsam mit Claire Denis, Arnaud Desplechin, Abdellatif Kechiche und Christophe Honoré zu den wichtigen Stimmen seiner Generation, der 40- bis 50-Jährigen, die gerade das Erbe des Autorenkinos zeitgemäß neuformulieren und erneuern – und damit eine Renaissance des französischen Kinos einleiten. Seine Filme Ressources humaines, L´emploi du temps und Vers le sud gewannen wichtige Preise und liefen auch im deutschen Kino.
Visuell fordert sein neuer Film nie wirklich heraus, gönnt sich auch wenig Ruhe, sondern mischt in quasidokumentarischer Manier in den Innenräumen bleibend Halbtotalen mit Nahaufnahmen. Die Bilder sind clean und
könnten auch einem Fernsehfilm entstammen. Der Film gönnt sich keine Ruhe, kein Durchatmen. Das ist Konzept, um die fortwährende Anspannung zu zeigen, der Schule, Lehrer, Schüler ausgesetzt sind – die Klasse als Druckkammer. Fast fortwährend wird geredet, und das Szenario hat viele lose Enden – Die Klasse hinterlässt den Eindruck einer Zwischenaufnahme, vieles wird nur angeteased, bleibt für den Verlauf der Geschichte folgenlos.
Künstlerisch steht Cantets Film in der Mitte zwischen dem Versuch, filmisches Neuland zu betreten und dem neuen Trend zu jenem Arthouse-Mainstream, der sich der Industrie nur scheinbar entgegenstellt, in Wahrheit mit dem Strom schwimmt, und als Bausatz nach wenigen schlichten Rezepten, nach vorgestanzten Formeln funktioniert: Entweder Ethno-Emotion oder politische »Relevanz«, in jedem Fall sentimental und mit einer »Lösung« – von solchen kleinen Fluchten ist auch Die Klasse nicht weit entfernt. Dann aber wieder schmeichelt Cantet unserem an Komplexität desinteressierten Zeitgeist keineswegs. Die Klasse gibt sich spröde und ist wohl auch nicht leicht konsumierbar. Ein Film der einen nicht bestätigt, sondern herausfordert und infrage stellt. Man geht mit Lehrer François durch die Hölle.