61. Filmfestspiele Cannes 2008
Weder Barbaren noch Vollidioten |
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Echte Schüler, echte Sprache |
Zum ersten Mal seit 21 Jahren gewann vor vier Wochen mit Entre les murs ein französischer Film die Goldene Palme bei den Filmfestspielen von Cannes. Am Freitagabend eröffnet der Film über einen engagierten Lehrer und seine Schulklasse das Münchner Filmfest. Regie führte der 47 Jahre alte Franzose Laurent Cantet. Cantet ist berühmt für ins Mark gehende Sozialdramen, die am Beispiel Einzelner zugleich immer gesellschaftliche Vorgänge deutlich machen: Ressources humaines zeigte 1999 ein persönliches Drama innerhalb moderner Arbeitswelten, L’emploi du temps, für den Cantet 2001 in Venedig den »Goldene Nachwuchslöwen« gewann, handelte von einem Manager, der überraschend entlassen wird, und dies seiner Familie nicht gestehen kann, Vers le sud 2005 von weiblichem Sextourismus. Cantets Filme kamen bisher sämtlich, wenn auch nur in kleiner Kopienzahl auch ins deutsche Kino.
Mit dem Regisseur sprach Rüdiger Suchsland.
artechock: Woher kam die Idee für Ihren neuen Film?
Laurent Cantet: Ich wollte schon längere Zeit einen Film über die Schule drehen. Dieser Ort ist besonders geeignet, um wie unter einem Brennglas die Chancen und Probleme gesellschaftlicher Ungleichheit und sozialer Integration, um kulturelle und gesellschaftliche Ausschlußmechanismen, um Arbeit und Macht zu betrachten. Ich hatte also schon ein Drehbuch, bevor ich meinen letzten Film drehte, aber es war noch unausgereift. Dann las ich das Buch von Francois Begaudeau, der das, was ich nur von Außen kannte, von Innen betrachtete.
artechock: Was hat Ihnen an dem Buch so gefallen?
Cantet: Endlich einmal schrieb ein Lehrer über seine Schüler nicht von oben herab. Er beschrieb sie weder als wilde Barbaren, noch als Vollidioten.
artechock: Die Zusammensetzung der Klasse wirkt wie ein Mikrokosmos der Gesellschaft...
Cantet: Ja, ich wollte in gewisser Weise den Zustand der heutigen Welt darstellen: Da ist ein Lehrer. Er weiß zwar viel, und hat vielleicht auch recht, und in jedem Fall hat er die Macht, aber er ist allein, in der Minderheit. Seine Schüler reagieren vor allem auf die Macht, die er zeigt, sie wehren sich. Die Kernfrage ist: Wie reagieren Menschen aufeinander, die nichts miteinander gemein haben, wenn sie gezwungen sind, zusammenzuarbeiten?
artechock: Sprache ist dabei in ihrem Film überaus wichtig...
Cantet: Exakt! Es gibt eigentlich überhaupt nur zwei Sprachen: Die offizielle, die wir in der Schule lernen, und die Sprache, die wir miteinander reden. Der Konflikt des Films ist die unauflösliche Spannung zwischen beiden. Keine der Figuren im Film hat da völlig recht, und die richtige Antwort. Der Film soll die Zuschauer dazu bringen, über solche Fragen nachzudenken. Etwa: Wie kann ein Junge überhaupt korrektes Französisch sprechen, wenn er zuhause kein Wort Französisch hört?
artechock: Formal betrachtet ist Entre les murs eine Buchverfilmung. Wie streng halten Sie sich an die Vorlage?
Cantet: Nicht sehr. Diese Art von Strenge interessiert mich nicht. Ich wollte keine Adaption, sondern eine Erweiterung. Der Film ist ein Werk aus eigenem Recht. Die Charaktere im Film weichen zum Teil stark von der Vorlage ab.
artechock: Wieviel war improvisiert?
Cantet: Am Ende doch ziemlich viel. Das hat sich während der Arbeit ergeben. Der Dreh war wie eine normale Schulklasse; Francois, der Buchautor spielte ja selbst die Rolle des Lehrers. Er hat den Unterricht begonnen, und wir haben gefilmt. Zuvor hatten wir immer vereinbart, was wir erreichen wollten. Die Schüler hatten nie ein Script in der Hand. Die Sprache des Films ist ihre, und genau darum ist er sprachlich so präzis: Es gibt Sternstunden des Ausdrucks, und im nächsten Moment stottern sie wieder: »Ich weiß was ich meine, aber ich kann es nicht sagen.«
artechock: Wie beurteilen Sie die Rolle des Lehrers?
Cantet: Der Lehrer im Film – und ich glaube, Francois ist in der Wirklichkeit sehr ähnlich – ist zunächst: Er ist mutig. Er riskiert sich selbst, seine Position. Das machen wenige Lehrer, die meisten achten zunächst einmal darauf, selber gut auszusehen. Aber Francois riskiert nicht weniger, als seine Schüler. Er ist ein bisschen wie Sokrates, und versucht, seine Schüler durch geschickte Fragen zum Ziel zu führen. Darin hat er etwas sehr Kaltblütiges, Intellektuelles – etwas typisch Französisches, für das mache Frankreich hassen, und andere es gerade beneiden.
artechock: Er behandelt sie auch wie Erwachsene, das heißt, er fordert sehr viel von Ihnen. In Deutschland würden bestimmt viele aufjammern: 'er überfordert sie'.
Cantet: Ich sehe das anders: Er nimmt sie ernst. Es wäre beleidigend, würde er sie mit Samthandschuhen anfassen, sich bemühen, »kindgerecht« zu sein. Aber er hat nicht immer recht. Er ist kein Superhero. Ich habe versucht zu vermeiden, dass mein Film eine Art neue Version von Der Club der toten Dichter werden würde, mit einem Lehrer, der alles besser weiß, und immer recht bekommt – das wäre mir zu idealistisch gewesen.