22.05.2008
61. Filmfestspiele Cannes 2008

Ein Hauch von Lana Turner

Changeling
Mit viel Schmalz gelungen :
Changeling von Clint Eastwood
(Foto: Universal Pictures International Germany)

Filme aus dem Ellroy- und Egoyan-Country, Nostalgie im Unglück und Elisabeth aus Tromsö

Von Rüdiger Suchsland

»Hello, my name is Elisabeth...« – das ist so eine der Begeg­nungen, wie man sie sich in Cannes öfters wünscht: Eine der bestau­se­henden Frauen, die einem hier bisher über den Weg liefen, tritt an den Tisch, wo wir zu dritt – Hany, Regisseur aus Palästina, Semaine-Boss Jean-Chris­tophe und ich – gerade ein Bier trinken und erklärt, dass »sie« über­morgen eine Party habe. Es stellt sich heraus, dass sich hinter »sie« das Film­fes­tival von Tromsö in Norwegen verbirgt, dass Elisabeth, obwohl sie entgegen dem blonden Klischee dunkel­braune Haare hat, dort Prak­ti­kantin ist. Jetzt verteilt sie Einla­dungen. Von Trömso haben wir schon öfters gehört, es ist einer der Geheim­tipps im Festi­val­be­trieb, weniger wegen der Filme – obwohl das Programm gut sein soll – als weil es im Januar statt­findet, und es dann dort auch tagsüber so dunkel ist wie im Kino und so kalt, dass man es nur mit viel warmem Alkohol aushält. Wenn alle Prak­ti­kan­tinnen dort so aussehen, wie Elisabeth, müssen wir unbedingt man hinfahren, und der Party­be­such über­morgen ist auch gebongt. Auf meine Frage zum Abschied, nach welchen Kriterien sie ihre Gäste castet, antwortet Elisabeth: »I saw you and thought, I want you to be on my party.« Na dann.

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Ocean Flame heißt der dies­jäh­rige Hongkong-Beitrag in Cannes, das passt schon besser zum Croisette-Strand, als der Gedanke an ein nord­nor­we­gi­sches Film­fes­tival mit 20 Grad minus Durch­schnitts­tem­pe­ratur. Der Regisseur heißt Liu Fendou und ist ein routi­nierter Dreh­buch­autor, der mit Green Hat 2004 seinen ersten Regie-Film gemacht hat. Produ­ziert hat der Kompagnon von Johnnie To. Das Resultat auf der Leinwand ist solides Hongkong-Gangs­ter­kino von eher schwachem Durch­schnitt. Der Versuch die hitzig aufge­la­dene melan­cho­li­sche Stimmung aus Kitanos Sonatine auf Hongkong zu über­tragen, zeigt für Hongkong relativ frei­zü­gige Sex-Szenen, bringt aber über schöne Ober­flächen und Darsteller hinaus wenig. Alles bleibt insgesamt zu glatt, zu sehr aus dritter Hand, zu sehr wie ein Werbefilm.

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Glätte kann man dem Cannes-Stammgast Atom Egoyan eigent­lich nicht nachsagen. Oder ist es nur eine andere Form, eine Arthouse-Glätte, die einem das Ansehen von Adoration bei aller Wert­schät­zung leicht unbe­hag­lich macht? Viel­leicht ist es auch nur das Grund­ge­fühl, man kenne dies alles bereits zu gut, nichts hier könne einen mehr über­ra­schen. War Where the Truth Lies, der hier vor ein paar Jahren lief, die gelungene Über­tra­gung von Egoyans Stoffen auf die Hollywood-Ästhetik, aufge­laden mit Sexyness und Pop und damit nahe an Lynchs Mulhol­land Drive, kehrt er jetzt mit vertrauten Bildern zurück: Schlecht beleuch­tete Räume, denen man ihren miesen Geruch anzusehen glaubt, dishar­mo­ni­sche Geigen­musik. Gleich im zweiten Bild wieder einmal ein junger Mann mit einem Parka und einer kleinen Film­ka­mera in der Hand, Gespräche, Verhöre, die Subjek­ti­vie­rung von Erin­ne­rung. Der Plot ist toll: Es dreht sich um eine Schwan­gere, die zur Heirat mit ihrem paläs­ti­nen­si­schen Freund nach Israel fliegt. Beim Einche­cken schöpft der israe­li­sche Kontrol­leur Verdacht: Schwan­gere, so besagt die statis­ti­sche Regel, reisen selten unbe­gleitet. Tatsäch­lich findet sich eine Bombe – der Freund hat den absoluten Verrat begangen, wollte Mutter und unge­bo­renes Kind mit ein paar hundert Passa­gieren zusammen in die Luft sprengen – die Wahrheit ist grausam. Oder hat sich das alles nur der Sohn ausge­dacht, um seinen Vater zu diffa­mieren? Das bleibt bis zum Ende offen. Jeden­falls waren die Eltern später wieder zusammen, kamen nach acht Jahren aller­dings bei einem Verkehrs­un­fall ums Leben. Der Sohn ist der Junge mit der Kamera, der das Schicksal seiner Eltern konstru­iert. Seine Lehrerin in Fran­zö­sisch und Drama (!!) ist Libanesin, und stellt sich als Ex-Frau seines Vaters heraus. Die Spuren­suche erweitert sich aufs Internet, immer wieder gibt es Szenen die einen Compu­ter­bild­s­schirm mit 9 bis 30 gleich­zeitig chat­tenden Personen zeigen. Darunter eine alte Frau, die ihre auf dem Arm täto­wierte KZ-Nummer zeigt, ein Neonazi, der den Holocaust leugnet. Es fallen gute Fragen wie »Warum will jeder heute ein Opfer sein?« und Bana­li­täten wie »Identität ist wichtig.« Auch eine Weih­nachts­ge­schichte übrigens, wie bei Desplechin versam­melt sich die dysfunk­tio­nale Familie – hier über die Jahre regel­mäßig unterm Tannen­baum. Am Ende ein Krip­pen­spiel, in dem Vater, Mutter, Kind auftreten, der Sohn mit großer Geste Krip­pen­fi­guren verbrennt, und die Hand­ka­mera mit der Stimme des verstor­benen Groß­va­ters dazu – eine Kapi­tu­la­tion vor der unmög­li­chen Aufgabe, histo­ri­sche Wahrheit herzu­stellen?
Egoyans Film­sprache, die sich am Melo der 50er und den Film Noir der 40er orien­tiert, ist unver­wech­selbar, aber in diesem Fall auch etwas langatmig und arg symbo­lis­tisch.

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Ein Hauch von Lana Turner ist es, der das dies­jäh­rige Plakat durchweht: Eine Frau mit platin­blondem Haar und blutroten Lippen. Vor den Augen hat sie einen schwarzen Balken, anony­mi­siert, aber auch erblindet, blind gemacht vom Foto­grafen. Der ist kein anderer als David Lynch, darauf kann man schon kommen, bevor man im Katalog die Gewißheit erhält.
Blindheit, die Schwie­rig­keiten des Sehens und des Erkennens erst recht, ist eines der Leit­mo­tive, das sich durch viele Filme in diesem Jahr zieht – in diesem Fall schon seit dem plaka­tiven Eröff­nungs­film.

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Um eine spezielle, gleich mehrfache Form von Blindheit geht es auch bei Clint Eastwood, noch so einen aus der Cannes-Familie. Es ist das Ellroy-Country, das Eastwood in seinem neuen Film Chan­ge­ling betritt, eine Geschichte aus der Zeit, als Männer noch Hüte trugen, das »Los Angeles Police Depar­te­ment« (LAPD) unter dem Kommando ihres berüch­tigten »Chief Davis« stand, und sich von den Verbre­cher­banden nur durch die schlech­tere Bezahlung unter­schied. Der Krimi­nal­schrift­steller James Ellroy hat davon in seinen zum Teil verfilmten (L.A. Confi­den­tial, The Black Dahlia) Romanen, wie in Sach­büchern (»Die Rote«) und Repor­tagen ausführ­lich erzählt.
Chan­ge­ling der bis zu seiner heutigen Premiere im Wett­be­werb von Cannes noch irre­füh­rend als »Mystery«-Thriller angekün­digt wurde, geht auf tatsäch­liche Ereig­nisse und auf den bizarren Fall des zehn­jäh­rigen Walter Collins und seiner Mutter Christine zurück – und damit auf einen der spek­ta­kulärsten Krimi­nal­fälle der 20er Jahre: Im März 1928 verschwand Walter spurlos von Zuhause. Seine allein­er­zie­hende Mutter erstat­tete Vermiss­ten­an­zeige. Im August 1928 fand man einen Jungen, der behaup­tete, Walter zu sein. Unglaub­lich, aber wahr: Obwohl die Mutter insis­tierte, es handle sich nicht um ihren Sohn, und dabei von Zeugen­aus­sagen wie Indizien unter­s­tützt wurde, erklärte das seiner­zeit durch und durch korrupte LAPD den Fall für geschlossen – um negative Publicity zu vermeiden. Die Mutter wurde wider­recht­lich in die Psych­ia­trie einge­wiesen – nach zehn Tagen kam sie auf öffent­li­chen Druck wieder frei. Der Fall wurde zum landes­weiten Skandal, und löste eine umfang­reiche Unter­su­chung der LAPD-Akti­vi­täten aus, der unter anderem mit der Absetzung von »Chief Davis« endete. Kurz darauf stellte sich heraus, dass Walter Collins eines der Opfer des »Wineville Chicken Mörders« wurde.

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Angelina Jolie spielt Christine Collins, John Malko­vitch einen sozial enga­gierten Pastor, der gegen Poli­zei­kor­rup­tion kämpft. Jolie ist hier besser als ihr Ruf, aber richtig über­zeu­gend ist sie nicht. Das mag auch an Eastwoods ansonsten hand­werk­lich souver­äner Regie liegen, der Jolie zu ätherisch, zu sehr strahlend und nicht von dieser Welt insze­niert. Wenn sie die Leinwand betritt, schimmert der Schmalz durch die Bilder, jeder Auftritt ist eine Ankün­di­gung. Auch etwas glatt ist die Regie, als ob Eastwood um die Goldene Palme betteln würde.

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Chan­ge­ling ist ein gelun­gener Thriller, vor allem besticht das Ganze aber durch den Wahr­heits­ge­halt der auf den ersten Blick atem­be­rau­bend irrealen Geschichte. Neben dieser ist Eastwood spürbar an Paral­lelen zur Gegenwart inter­es­siert: Einer empörend handelnden und abgrund­tief korrupten Obrigkeit steht in Chan­ge­ling eine funk­tio­nie­rende Zivil­ge­sell­schaft gegenüber, der mit Hilfe sozial enga­gierter Popu­listen, unent­gelt­lich arbei­tenden Star­an­wälten, einer an Aufklärung und System­kritik inter­es­sierten Medien-Öffent­lich­keit und eines völlig unab­hän­gigen Justiz­ap­pa­rats den Fall aufklärt, die Schul­digen bestraft und den Opfern Genug­tuung gibt – das durch und durch idea­li­sierte Wunsch­bild eines »guten Amerika«, das schon histo­risch nicht den Tatsachen entspricht, aber als Gegen­ent­wurf zum Bush-Country taugt.

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Mit Blindheit geschlagen sind zwar nicht nur die Kritiker, die aber auch: das sieht man alljähr­lich an den Kriti­ker­spie­geln, die vor allem beweisen, dass es wenig einheit­liche Meinungen gibt, und dass dort, wo es sie gibt, ganz beson­derer Verdacht angesagt ist: Die Kritiker von »Screen« etwa, die Serbis von Brillante Mendoza auf den letzten Platz setzen, und mit 0.7 eine der mise­ra­belsten Wertungen geben, die je ein Film in Cannes bekam. Man kann nun über diesen Film gewiss verschie­denster Meinung sein, aber immerhin will er etwas, was man nicht von jedem Werk hier behaupten kann. Aber wenn wir die Namen nachlesen, wird schnell klar, dass man »Screen« in diesem Fall nicht ernst nehmen kann: Keine einzige Frau, mindes­tens drei der 10 Mitglieder sind über 80, und zum deutschen Vertreter, dem auch über 50jährigen Benjamin der Runde Jan Schulz-Ojala vom »Tages­spiegel« hüllen wir selbst uns lieber in Schweigen und zitieren einfach nur die verblüffte Reaktion einer Redak­teurin einer besseren Tages­zei­tung: »Wieso ist der denn eigent­lich dabei?«

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Wenn Kriti­ker­spiegel überhaupt einen Sinn machen, dann ja sowieso nur, indem Subjek­ti­vität, Mut zum Urteil deutlich wird, gerade der Einheits­brei durch­kreuzt wird. Das funk­tio­niert besser bei »Le film français«: Da führt Un conte de Noël von Desplechin vor Le silence de Lorna von den Dardennes-Brüdern. Vor allem aber gibt es kontro­verse Meinungen, haben die führenden Filme auch schlechte Wertungen.

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Im Unglück der Christine Collins findet Eastwood Grund zur Nostalgie. Was er aller­dings verschweigt: Nur vier Jahre nach seiner Absetzung, wurde »Chief Davis« 1933 wieder einge­setzt.

Rüdiger Suchsland