61. Filmfestspiele Cannes 2008
Ein Hauch von Lana Turner |
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Mit viel Schmalz gelungen : Changeling von Clint Eastwood |
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(Foto: Universal Pictures International Germany) |
»Hello, my name is Elisabeth...« – das ist so eine der Begegnungen, wie man sie sich in Cannes öfters wünscht: Eine der bestausehenden Frauen, die einem hier bisher über den Weg liefen, tritt an den Tisch, wo wir zu dritt – Hany, Regisseur aus Palästina, Semaine-Boss Jean-Christophe und ich – gerade ein Bier trinken und erklärt, dass »sie« übermorgen eine Party habe. Es stellt sich heraus, dass sich hinter »sie« das Filmfestival von Tromsö in Norwegen verbirgt, dass Elisabeth, obwohl sie entgegen dem blonden Klischee dunkelbraune Haare hat, dort Praktikantin ist. Jetzt verteilt sie Einladungen. Von Trömso haben wir schon öfters gehört, es ist einer der Geheimtipps im Festivalbetrieb, weniger wegen der Filme – obwohl das Programm gut sein soll – als weil es im Januar stattfindet, und es dann dort auch tagsüber so dunkel ist wie im Kino und so kalt, dass man es nur mit viel warmem Alkohol aushält. Wenn alle Praktikantinnen dort so aussehen, wie Elisabeth, müssen wir unbedingt man hinfahren, und der Partybesuch übermorgen ist auch gebongt. Auf meine Frage zum Abschied, nach welchen Kriterien sie ihre Gäste castet, antwortet Elisabeth: »I saw you and thought, I want you to be on my party.« Na dann.
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Ocean Flame heißt der diesjährige Hongkong-Beitrag in Cannes, das passt schon besser zum Croisette-Strand, als der Gedanke an ein nordnorwegisches Filmfestival mit 20 Grad minus Durchschnittstemperatur. Der Regisseur heißt Liu Fendou und ist ein routinierter Drehbuchautor, der mit Green Hat 2004 seinen ersten Regie-Film gemacht hat. Produziert hat der Kompagnon von Johnnie To. Das Resultat auf der Leinwand ist solides Hongkong-Gangsterkino von eher schwachem Durchschnitt. Der Versuch die hitzig aufgeladene melancholische Stimmung aus Kitanos Sonatine auf Hongkong zu übertragen, zeigt für Hongkong relativ freizügige Sex-Szenen, bringt aber über schöne Oberflächen und Darsteller hinaus wenig. Alles bleibt insgesamt zu glatt, zu sehr aus dritter Hand, zu sehr wie ein Werbefilm.
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Glätte kann man dem Cannes-Stammgast Atom Egoyan eigentlich nicht nachsagen. Oder ist es nur eine andere Form, eine Arthouse-Glätte, die einem das Ansehen von Adoration bei aller Wertschätzung leicht unbehaglich macht? Vielleicht ist es auch nur das Grundgefühl, man kenne dies alles bereits zu gut, nichts hier könne einen mehr überraschen. War Where the Truth Lies, der hier vor ein paar Jahren lief, die gelungene Übertragung von Egoyans Stoffen auf die Hollywood-Ästhetik, aufgeladen mit Sexyness und Pop und damit nahe an Lynchs Mulholland Drive, kehrt er jetzt mit vertrauten Bildern zurück: Schlecht beleuchtete Räume, denen man ihren miesen Geruch
anzusehen glaubt, disharmonische Geigenmusik. Gleich im zweiten Bild wieder einmal ein junger Mann mit einem Parka und einer kleinen Filmkamera in der Hand, Gespräche, Verhöre, die Subjektivierung von Erinnerung. Der Plot ist toll: Es dreht sich um eine Schwangere, die zur Heirat mit ihrem palästinensischen Freund nach Israel fliegt. Beim Einchecken schöpft der israelische Kontrolleur Verdacht: Schwangere, so besagt die statistische Regel, reisen selten unbegleitet.
Tatsächlich findet sich eine Bombe – der Freund hat den absoluten Verrat begangen, wollte Mutter und ungeborenes Kind mit ein paar hundert Passagieren zusammen in die Luft sprengen – die Wahrheit ist grausam. Oder hat sich das alles nur der Sohn ausgedacht, um seinen Vater zu diffamieren? Das bleibt bis zum Ende offen. Jedenfalls waren die Eltern später wieder zusammen, kamen nach acht Jahren allerdings bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Der Sohn ist der Junge mit der
Kamera, der das Schicksal seiner Eltern konstruiert. Seine Lehrerin in Französisch und Drama (!!) ist Libanesin, und stellt sich als Ex-Frau seines Vaters heraus. Die Spurensuche erweitert sich aufs Internet, immer wieder gibt es Szenen die einen Computerbildsschirm mit 9 bis 30 gleichzeitig chattenden Personen zeigen. Darunter eine alte Frau, die ihre auf dem Arm tätowierte KZ-Nummer zeigt, ein Neonazi, der den Holocaust leugnet. Es fallen gute Fragen wie »Warum will jeder heute ein
Opfer sein?« und Banalitäten wie »Identität ist wichtig.« Auch eine Weihnachtsgeschichte übrigens, wie bei Desplechin versammelt sich die dysfunktionale Familie – hier über die Jahre regelmäßig unterm Tannenbaum. Am Ende ein Krippenspiel, in dem Vater, Mutter, Kind auftreten, der Sohn mit großer Geste Krippenfiguren verbrennt, und die Handkamera mit der Stimme des verstorbenen Großvaters dazu – eine Kapitulation vor der unmöglichen Aufgabe, historische
Wahrheit herzustellen?
Egoyans Filmsprache, die sich am Melo der 50er und den Film Noir der 40er orientiert, ist unverwechselbar, aber in diesem Fall auch etwas langatmig und arg symbolistisch.
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Ein Hauch von Lana Turner ist es, der das diesjährige Plakat durchweht: Eine Frau mit platinblondem Haar und blutroten Lippen. Vor den Augen hat sie einen schwarzen Balken, anonymisiert, aber auch erblindet, blind gemacht vom Fotografen. Der ist kein anderer als David Lynch, darauf kann man schon kommen, bevor man im Katalog die Gewißheit erhält.
Blindheit, die Schwierigkeiten des Sehens und des Erkennens erst recht, ist eines der Leitmotive, das sich durch viele Filme in diesem
Jahr zieht – in diesem Fall schon seit dem plakativen Eröffnungsfilm.
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Um eine spezielle, gleich mehrfache Form von Blindheit geht es auch bei Clint Eastwood, noch so einen aus der Cannes-Familie. Es ist das Ellroy-Country, das Eastwood in seinem neuen Film Changeling betritt, eine Geschichte aus der Zeit, als Männer noch Hüte trugen, das »Los Angeles Police Departement« (LAPD) unter dem Kommando ihres berüchtigten »Chief Davis« stand, und sich von den
Verbrecherbanden nur durch die schlechtere Bezahlung unterschied. Der Kriminalschriftsteller James Ellroy hat davon in seinen zum Teil verfilmten (L.A. Confidential, The Black Dahlia) Romanen, wie in Sachbüchern (»Die Rote«) und Reportagen ausführlich erzählt.
Changeling der bis zu seiner heutigen Premiere im Wettbewerb von Cannes noch irreführend als »Mystery«-Thriller angekündigt wurde, geht auf tatsächliche Ereignisse und auf den bizarren Fall des zehnjährigen Walter Collins und seiner Mutter Christine zurück – und damit auf einen der spektakulärsten Kriminalfälle der 20er Jahre: Im März 1928 verschwand Walter spurlos von Zuhause. Seine
alleinerziehende Mutter erstattete Vermisstenanzeige. Im August 1928 fand man einen Jungen, der behauptete, Walter zu sein. Unglaublich, aber wahr: Obwohl die Mutter insistierte, es handle sich nicht um ihren Sohn, und dabei von Zeugenaussagen wie Indizien unterstützt wurde, erklärte das seinerzeit durch und durch korrupte LAPD den Fall für geschlossen – um negative Publicity zu vermeiden. Die Mutter wurde widerrechtlich in die Psychiatrie eingewiesen – nach zehn
Tagen kam sie auf öffentlichen Druck wieder frei. Der Fall wurde zum landesweiten Skandal, und löste eine umfangreiche Untersuchung der LAPD-Aktivitäten aus, der unter anderem mit der Absetzung von »Chief Davis« endete. Kurz darauf stellte sich heraus, dass Walter Collins eines der Opfer des »Wineville Chicken Mörders« wurde.
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Angelina Jolie spielt Christine Collins, John Malkovitch einen sozial engagierten Pastor, der gegen Polizeikorruption kämpft. Jolie ist hier besser als ihr Ruf, aber richtig überzeugend ist sie nicht. Das mag auch an Eastwoods ansonsten handwerklich souveräner Regie liegen, der Jolie zu ätherisch, zu sehr strahlend und nicht von dieser Welt inszeniert. Wenn sie die Leinwand betritt, schimmert der Schmalz durch die Bilder, jeder Auftritt ist eine Ankündigung. Auch etwas glatt ist die Regie, als ob Eastwood um die Goldene Palme betteln würde.
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Changeling ist ein gelungener Thriller, vor allem besticht das Ganze aber durch den Wahrheitsgehalt der auf den ersten Blick atemberaubend irrealen Geschichte. Neben dieser ist Eastwood spürbar an Parallelen zur Gegenwart interessiert: Einer empörend handelnden und abgrundtief korrupten Obrigkeit steht in Changeling eine funktionierende Zivilgesellschaft gegenüber, der mit Hilfe sozial engagierter Populisten, unentgeltlich arbeitenden Staranwälten, einer an Aufklärung und Systemkritik interessierten Medien-Öffentlichkeit und eines völlig unabhängigen Justizapparats den Fall aufklärt, die Schuldigen bestraft und den Opfern Genugtuung gibt – das durch und durch idealisierte Wunschbild eines »guten Amerika«, das schon historisch nicht den Tatsachen entspricht, aber als Gegenentwurf zum Bush-Country taugt.
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Mit Blindheit geschlagen sind zwar nicht nur die Kritiker, die aber auch: das sieht man alljährlich an den Kritikerspiegeln, die vor allem beweisen, dass es wenig einheitliche Meinungen gibt, und dass dort, wo es sie gibt, ganz besonderer Verdacht angesagt ist: Die Kritiker von »Screen« etwa, die Serbis von Brillante Mendoza auf den letzten Platz setzen, und mit 0.7 eine der miserabelsten Wertungen geben, die je ein Film in Cannes bekam. Man kann nun über diesen Film gewiss verschiedenster Meinung sein, aber immerhin will er etwas, was man nicht von jedem Werk hier behaupten kann. Aber wenn wir die Namen nachlesen, wird schnell klar, dass man »Screen« in diesem Fall nicht ernst nehmen kann: Keine einzige Frau, mindestens drei der 10 Mitglieder sind über 80, und zum deutschen Vertreter, dem auch über 50jährigen Benjamin der Runde Jan Schulz-Ojala vom »Tagesspiegel« hüllen wir selbst uns lieber in Schweigen und zitieren einfach nur die verblüffte Reaktion einer Redakteurin einer besseren Tageszeitung: »Wieso ist der denn eigentlich dabei?«
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Wenn Kritikerspiegel überhaupt einen Sinn machen, dann ja sowieso nur, indem Subjektivität, Mut zum Urteil deutlich wird, gerade der Einheitsbrei durchkreuzt wird. Das funktioniert besser bei »Le film français«: Da führt Un conte de Noël von Desplechin vor Le silence de Lorna von den Dardennes-Brüdern. Vor allem aber gibt es kontroverse Meinungen, haben die führenden Filme auch schlechte Wertungen.
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Im Unglück der Christine Collins findet Eastwood Grund zur Nostalgie. Was er allerdings verschweigt: Nur vier Jahre nach seiner Absetzung, wurde »Chief Davis« 1933 wieder eingesetzt.
Rüdiger Suchsland