27.05.2008
61. Filmfestspiele Cannes 2008

Laurent Cantet oder: Die Erziehung

Lehrer in der Klasse
Sozialpädagogik zuerst:
Entre les murs, Gewinner von Cannes

Wird Cannes zur Berlinale? Der Klassenraum als Druckkammer, der neue Arthouse-Mainstream und Mittagessen mit Lorna

Von Rüdiger Suchsland

2008 wird als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem Cannes der Kosslick-Berlinale ähnlicher sah, denn je.

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Ein Pauken­schlag, ganz am Ende des Festivals. Nur halbvoll war das Kino der letzten Pres­se­vor­füh­rung am Sams­tag­morgen. Viele waren schon abgereist, kaum einer hatte ihn auf der Rechnung. Aber einen Tag später hatte der Franzose Laurent Cantet für seinen Film Entre les murs in Cannes die Goldene Palme gewonnen – die erste für Frank­reich seit 21 Jahren. Cantet, Jahrgang 1961, ist kein Unbe­kannter. Er gehört gemeinsam mit Claire Denis, Arnaud Desplechin, Abdel­latif Kechiche zu den wichtigen Stimmen seiner Gene­ra­tion, der 40-50jährigen, die gerade das Erbe des Autoren­kinos zeitgemäß neufor­mu­lieren und erneuern – und damit eine Renais­sance des fran­zö­si­schen Kinos einleiten. Seine Filme Ressources humaines, L’emploi du temps und Vers le sud gewannen wichtige Preise und liefen auch im deutschen Kino.
Man erinnert sich an einen kleinen Film aus Belgien, den keiner richtig auf der Rechnung gehabt hatte. Und dann zeichnete die Jury um David Cronen­berg Rosetta aus, und die Brüder Dardenne waren gemachte Leute. Oder man denkt an Naomi Kawases Film Mogari no moi, der im Vorjahr als letzter Film lief, und zumindest die zweit­wich­tigste Palme, den »Großen Preis der Jury« ebenso verdient, wie über­ra­schend bekam.

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»Keine zweite Oscar­ver­lei­hung« werde es geben, das hatte Jury­prä­si­dent Sean Penn immer wieder betont. Und er hat Wort gehalten. Die Preis­ver­lei­hung für Entre les murs ist ein Triumph für das europäi­sche Kino, vor allem für das aus Frank­reich, das die erste Goldene Palme seit 21 Jahren gewann und mit Arnaud Desplechins Un conte de Noël noch einen zweiten Preis. Auch ein Triumph für das italie­ni­sche Kino, das ebenfalls gleich zwei Preise bekam.

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Entre les murs erzählt von dem Lehrer François und seiner Klasse. Eine Durch­schnitt­schule am Rande von Paris, mit durch­schnitt­li­chen, das heißt massiven Problemen. Der Film verlässt die Schule nie und unter­nimmt so visuell jene Inte­gra­tion durch Anglei­chung, von der er handelt; er konzen­triert sich vor allem auf den Unter­richt selbst: François unter­richtet Fran­zö­sisch, er liest mit den Schülern Voltaire und das „Tagebuch der Anne Frank“, es gibt aber auch Grammatik- und Wort­lek­tionen. Die Auswahl des Unter­richts­stoffes ist natürlich auf uns im Publikum bezogen und keines­falls zufällig. Der Stoff bildet die Kulisse und das Material für unsere alltäg­li­chen Kultur­kämpfe, der Klas­sen­raum wird zum Mikro­kosmos der Gesell­schaft, und neben dem grund­sätz­lich Univer­sellen des Plots spielen auch spezi­fisch fran­zö­si­sche Faktoren eine große Rolle. Man kann gar nicht anders, als an die bren­nenden Banlieues der vergan­genen Jahre denken.

Der Film zeigt die alltäg­liche Praxis unserer Ideale, er führt vor, was es bedeutet, wenn Schule auch als Instru­ment sozialer und kultu­reller Inte­gra­tion gedacht wird, und was das bedeuten könnte: Schule der Nation. Cantets Perspek­tive ist dabei partei­isch und im besten Sinne fran­zö­sisch: Also bedin­gungslos für Aufklärung, für Freiheit, Gleich­heit, Brüder­lich­keit, und zentra­lis­tisch, insti­tu­tio­nell, vom Lehrer her gedacht. Während die Schüler unter­ein­ander nie gezeigt werden, zeigt Cantet die Lehrer in ihren Gesprächen, auch Zweifel, und die Mühlen der Büro­kratie, Formulare und „infor­melle“ Gespräche mit Vorge­setzten und Eltern­ver­tre­tern – die Politik der Schule. Dem zugrunde liegt eine sehr prin­zi­pi­elle, idea­lis­ti­sche, aber vor allem opti­mis­ti­sche Idee von Pädagogik: Der Mensch ist von Kultur aus gut. Und der Lehrer ist das wich­tigste Instru­ment dieser Erziehung, der Soldat an der Front des Zivi­li­sa­ti­ons­pro­zesses. Ein Lob des Lehrers.

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Man darf hier daran erinnern, dass Lehrer in Frank­reich mit seiner völlig anderen Bildungs­tra­di­tion schon immer etwas anderes waren, als in Frank­reich. Sie sind besser bezahlt, ihr sozialer Rang und damit verbunden ihre Alltags­au­to­rität war zumindest früher viel höher, als in Deutsch­land, ist es wohl nach wie vor noch. Die intel­lek­tu­ellen Helden des fran­zö­si­schen 20. Jahr­hun­derts wie Jean Paul Sartre, Albert Camus und Simone de Beauvoir und viele sonst haben sämtlich eine Lehrer­aus­bil­dung und sie haben auch mindes­tens das eine vorge­schrie­bene Pflicht­jahr in einer Schule gear­beitet – was wiederum umgekehrt die Intel­lek­tu­ellen an die Schule und damit an den Staat bindet; übrigens ohne dass sie dadurch zu Knechten würden. Aber schon im 18. Jahr­hun­dert handelte eines der wich­tigsten Bücher von Jean-Jacques Rousseau von der Erziehung.

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Wesent­lich für den Film ist auch sein halb­do­ku­men­ta­ri­scher Charakter. Denn zugrunde liegt allem ein Buch von Francois Bégaudeau, in dem dieser seinen Arbeits­alltag als Fran­zö­sisch­lehrer über ein Schuljahr lang beschreibt. Bégaudeau spielt in diesem Film den Klas­sen­lehrer, aber »nicht sich selbst«, wie Cantet betont, der auf den fiktio­nalen Anteil des Films Wert legt. Das gilt auch für die Schüler. Aller­dings ist Bégaudeau kein gewöhn­li­cher Lehrer, auch nicht für Frank­reich, sondern einer mit Star­qua­li­täten. Einer, der in seiner Freizeit drei Romane veröf­fent­licht, eine fiktive Biogra­phie von Mick Jagger, und der als Fußball­kolumm­nist für Le Monde arbeitet.

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Cine­ma­to­gra­phisch ist Entre les murs ein nüch­terner, konzen­trierter Film: Span­nendes Kino, das aber trotzdem Wünsche offen lässt. Er ist zwar ein guter, auch künst­le­risch inter­es­santer und mutiger Film, aber dennoch der unin­ter­es­san­teste von Cantet, der bisher auch visuell ein Aben­teurer war. Dieser Film fordert visuell nie wirklich heraus, sondern mischt in quasi­do­ku­men­ta­ri­scher Manier in den Innen­räumen bleibend Halb­to­talen mit Nahauf­nahmen. Die Bilder sind clean, zu clean und könnten auch einem Fern­seh­film entstammen. Der Film gönnt sich keine Ruhe, kein Durch­atmen. Das ist Konzept, schon klar, um die fort­wäh­rende Anspan­nung zu zeigen, der Schule, Lehrer, Schüler ausge­setzt sind – die Klasse als Druck­kammer. Fast fort­wäh­rend wird geredet, ein Quas­sel­film muss man leider auch sagen. Das Szenario hat viele lose Enden – Entre les murs hinter­lässt den Eindruck einer Zwischen­auf­nahme, vieles wird nur ange­teased, bleibt für den Verlauf der Geschichte folgenlos. Und schließ­lich kommt einem auch in den Sinn, dass dies weißgott nicht der ersten Lehrer­film der letzten Jahre aus Frank­reich ist: Haben (oder nicht) gab es, vor allem aber Bertrand Taver­niers Film Ça commence aujourd'hui. Der war besser.

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In die jüngere Cannes-Tradition fügt sich der Preis indes perfekt: Frank­reichs Lehrer im Multi­kulti-Kampf, ein rumä­ni­sches Abtrei­bungs­drama, der irische Unan­hän­gig­keits­krieg, Obdachs­lose und Kinder­handel, Bush und der Irakkrieg – blickt man auf die Filme zurück, die einschließ­lich 2008 in den letzten Jahren die Goldene Palme gewannen, ist die Tendenz nur allzu klar: Sozi­al­pä­d­agogik und poli­ti­sche Agitation gewinnt. Vorbei jene Zeiten, als man durch die Kunst heraus­ge­for­dert und infrage gestellt werden wollte – heute möchte man Bestä­ti­gung.
Heute dominiert auch ein Kunst­fes­tival der Arthouse-Main­stream, der sich dem großen Main­stream der Industrie nur scheinbar entge­gen­stellt, in Wahrheit mit dem Strom schwimmt: Kino als Bausatz nach wenigen schlichten Rezepten, nach vorge­stanzten Formeln: Entweder Ethno-Emotion oder poli­ti­sche »Relevanz«, in jedem Fall senti­mental und mit einer »Lösung« – das sind nicht weniger künst­liche Paradiese, als die Reise­ziele von Indiana Jones oder die Explo­si­ons­es­ka­pismen der monat­li­chen Super­helden- und Kata­stro­phen­block­buster. Heute zählt das Konsens­fähige, Plakative, ja nicht zu kompli­zierte, das einem infan­tilen, an Komple­xität nicht inter­es­sierten Zeitgeist schmei­chelt.

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Cantets Film steht hier in der Mitte. Er gibt sich spröde und ist wohl auch nicht leicht konsu­mierbar, schon weil das schnelle Gerede über die zwei Stunden doch sehr anstrengt. Man geht mit Lehrer François durch die Hölle. Aber mehr als einmal zwinkert Entre les murs dem Arthouse-Main­stream auch heftig zu.

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Filme, die intim und kraftvoll den amour fou zweier geschun­dener Seelen ins Zentrum stellen, ohne sich um den Rest der Welt zu kümmern (Two Lovers), die das gar nicht harmo­ni­sche, aber durchaus liebe­volle Innen­leben einer Familie entfalten, ohne am Ende Harmonie vorzu­gau­keln (Un conte de Noël), oder eine Familie einfach durch den harten Alltag der phil­ip­pi­ni­schen Haupt­stadt Manila begleiten (Serbis) oder die exis­ten­ti­elle Irri­ta­tion einer Frau (La mujer sin cabeza) gehen da ganz leer aus, oder werden mit Trost­preisen abge­speist.
Die letzte Goldene Palme, die auch künst­le­risch Zeichen setzte, war 2003 Gus Van Sants Elephant; der war aller­dings zugleich auch ein Film über den Amoklauf von Columbine, und erfüllte somit auch den Anspruch des inhalt­lich „Bedeu­tungs­vollen“.

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Auch Cannes wird damit von jenem Virus befallen, der die großen Film­fes­ti­vals von Berlin und Venedig schon länger infiziert hat, und bereits in erkenn­bare Krisen stürzt: Die Festivals, für die die ange­schlos­senen Märkte und der künstlich fabri­zierte Star­auf­lauf auf dem Roten Teppich – zumeist mit Filmen „außer Konkur­renz“, aber mit vielen Stars – immer wichtiger werden, geben ihre ursprüng­liche Funktion preis, ein Gegen­ge­wicht zum Beste­henden darzu­stellen, ein Ort für Expe­ri­mente und Alter­na­tiven zu sein. Diese Funktion ist aber essen­tiell, denn nur sie hält das Kino lebendig als stil­bil­dendes Medium der Gegenwart jenseits der ewigen Imita­tionen bekannter Erfolgs­re­zepte.

Derzeit ist sichtbar, wie Video­kunst, Fernsehen, vor allem Internet, aber zunehmend auch Compu­ter­spiele die Funktion des Kinos über­nehmen, als Bild­me­dium Nummer 1 die visuelle Erziehung jüngerer Gene­ra­tionen leisten.

Jene Zeiten, in denen in Cannes ein „Dogma-Manifest“ veröf­fent­licht wurde und das Weltkino erneuerte, in den Filme wie Lynchs Wild at Heart, Thomas Vinter­bergs Das Fest, Rosetta der Dardenne-Brüder oder Nanni Morettis Das Zimmer meines Sohnes gewannen, gehören einst­weilen der Vergan­gen­heit an. Die Moral­welle wird auch nicht bleiben. Aber zur Zeit prägt sie überall die Jury­ent­schei­dungen. Aber auch wo Kino Indus­trie­pro­dukt und Massen­me­dium ist, braucht es die sperrigen, persön­li­chen Werke der echten Kino­künstler.

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Arnaud Desplechin, genauso genommen der große Verlierer vom Sonntag, sollte sich nicht allzu lange ärgern. Er ist in überaus guter Gesell­schaft: Auch Lars von Trier, Michael Haneke oder Wong Kar-wai konnten hier trotz sämtlich viel­fa­cher Wett­be­werbs­teil­nahmen noch nie gewinnen. Wahre Kunst ist nicht mehr­heits­fähig. Auf lange Sicht setzt sie sich trotzdem durch.

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Am Montag danach noch ein Mittag­essen bei Chez Astoux dem schönsten der Fisch­lo­kale am Hafen neben dem Palais. Plötzlich bemerken wir: Bei den acht Leuten hinter uns am Neben­tisch handelt es sich um die Dardenne-Brüder mit ihrem Team, die gestern für Le silence de Lorna die Palme fürs beste Drehbuch bekommen hatten. Haupt­dar­st­rel­lerin Arta Dobroshi, für viele die heimliche Gewin­nerin des Darstel­ler­preises, hat ein auffal­lend schönes rotes Kleid an.
Wer jetzt lästern möchte, dass Geld und Luxus zu diesem Film nicht passen, den muss man wohl noch mal erinnern: Kommu­nismus heißt nicht Askese – das ist Protes­tan­tismus – sondern dass jeder Kaviar essen, Cham­pa­gner trinken, Pelz­mäntel tragen und meinet­wegen Maserati fahren soll.
Draußen an der frischen Luft ist dann klar: Cannes hat sich wieder in ein Fischer­dorf zurück­ver­wan­delt, der Mistral zieht an, und fegt die letzten Film­pla­kate weg – Cannes 2008, verweht...

Rüdiger Suchsland