61. Filmfestspiele Cannes 2008
Laurent Cantet oder: Die Erziehung |
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Sozialpädagogik zuerst: Entre les murs, Gewinner von Cannes |
2008 wird als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem Cannes der Kosslick-Berlinale ähnlicher sah, denn je.
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Ein Paukenschlag, ganz am Ende des Festivals. Nur halbvoll war das Kino der letzten Pressevorführung am Samstagmorgen. Viele waren schon abgereist, kaum einer hatte ihn auf der Rechnung. Aber einen Tag später hatte der Franzose Laurent Cantet für seinen Film Entre les murs in Cannes die Goldene Palme gewonnen – die erste für Frankreich seit 21 Jahren. Cantet, Jahrgang 1961, ist kein
Unbekannter. Er gehört gemeinsam mit Claire Denis, Arnaud Desplechin, Abdellatif Kechiche zu den wichtigen Stimmen seiner Generation, der 40-50jährigen, die gerade das Erbe des Autorenkinos zeitgemäß neuformulieren und erneuern – und damit eine Renaissance des französischen Kinos einleiten. Seine Filme Ressources humaines, L’emploi du temps und Vers le sud gewannen wichtige Preise und liefen auch im deutschen Kino.
Man erinnert sich an einen kleinen Film aus Belgien, den keiner richtig auf der Rechnung gehabt hatte. Und dann zeichnete die Jury um David Cronenberg Rosetta aus, und die Brüder Dardenne waren gemachte Leute. Oder man denkt an Naomi Kawases Film Mogari no moi, der im Vorjahr als letzter Film lief, und zumindest die zweitwichtigste Palme, den »Großen Preis der Jury« ebenso verdient, wie überraschend bekam.
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»Keine zweite Oscarverleihung« werde es geben, das hatte Jurypräsident Sean Penn immer wieder betont. Und er hat Wort gehalten. Die Preisverleihung für Entre les murs ist ein Triumph für das europäische Kino, vor allem für das aus Frankreich, das die erste Goldene Palme seit 21 Jahren gewann und mit Arnaud Desplechins Un conte de Noël noch einen zweiten Preis. Auch ein Triumph für das italienische Kino, das ebenfalls gleich zwei Preise bekam.
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Entre les murs erzählt von dem Lehrer François und seiner Klasse. Eine Durchschnittschule am Rande von Paris, mit durchschnittlichen, das heißt massiven Problemen. Der Film verlässt die Schule nie und unternimmt so visuell jene Integration durch Angleichung, von der er handelt; er konzentriert sich vor allem auf den Unterricht selbst: François unterrichtet Französisch, er liest mit den Schülern Voltaire und das „Tagebuch der Anne Frank“, es gibt aber auch Grammatik- und Wortlektionen. Die Auswahl des Unterrichtsstoffes ist natürlich auf uns im Publikum bezogen und keinesfalls zufällig. Der Stoff bildet die Kulisse und das Material für unsere alltäglichen Kulturkämpfe, der Klassenraum wird zum Mikrokosmos der Gesellschaft, und neben dem grundsätzlich Universellen des Plots spielen auch spezifisch französische Faktoren eine große Rolle. Man kann gar nicht anders, als an die brennenden Banlieues der vergangenen Jahre denken.
Der Film zeigt die alltägliche Praxis unserer Ideale, er führt vor, was es bedeutet, wenn Schule auch als Instrument sozialer und kultureller Integration gedacht wird, und was das bedeuten könnte: Schule der Nation. Cantets Perspektive ist dabei parteiisch und im besten Sinne französisch: Also bedingungslos für Aufklärung, für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, und zentralistisch, institutionell, vom Lehrer her gedacht. Während die Schüler untereinander nie gezeigt werden, zeigt Cantet die Lehrer in ihren Gesprächen, auch Zweifel, und die Mühlen der Bürokratie, Formulare und „informelle“ Gespräche mit Vorgesetzten und Elternvertretern – die Politik der Schule. Dem zugrunde liegt eine sehr prinzipielle, idealistische, aber vor allem optimistische Idee von Pädagogik: Der Mensch ist von Kultur aus gut. Und der Lehrer ist das wichtigste Instrument dieser Erziehung, der Soldat an der Front des Zivilisationsprozesses. Ein Lob des Lehrers.
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Man darf hier daran erinnern, dass Lehrer in Frankreich mit seiner völlig anderen Bildungstradition schon immer etwas anderes waren, als in Frankreich. Sie sind besser bezahlt, ihr sozialer Rang und damit verbunden ihre Alltagsautorität war zumindest früher viel höher, als in Deutschland, ist es wohl nach wie vor noch. Die intellektuellen Helden des französischen 20. Jahrhunderts wie Jean Paul Sartre, Albert Camus und Simone de Beauvoir und viele sonst haben sämtlich eine Lehrerausbildung und sie haben auch mindestens das eine vorgeschriebene Pflichtjahr in einer Schule gearbeitet – was wiederum umgekehrt die Intellektuellen an die Schule und damit an den Staat bindet; übrigens ohne dass sie dadurch zu Knechten würden. Aber schon im 18. Jahrhundert handelte eines der wichtigsten Bücher von Jean-Jacques Rousseau von der Erziehung.
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Wesentlich für den Film ist auch sein halbdokumentarischer Charakter. Denn zugrunde liegt allem ein Buch von Francois Bégaudeau, in dem dieser seinen Arbeitsalltag als Französischlehrer über ein Schuljahr lang beschreibt. Bégaudeau spielt in diesem Film den Klassenlehrer, aber »nicht sich selbst«, wie Cantet betont, der auf den fiktionalen Anteil des Films Wert legt. Das gilt auch für die Schüler. Allerdings ist Bégaudeau kein gewöhnlicher Lehrer, auch nicht für Frankreich, sondern einer mit Starqualitäten. Einer, der in seiner Freizeit drei Romane veröffentlicht, eine fiktive Biographie von Mick Jagger, und der als Fußballkolummnist für Le Monde arbeitet.
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Cinematographisch ist Entre les murs ein nüchterner, konzentrierter Film: Spannendes Kino, das aber trotzdem Wünsche offen lässt. Er ist zwar ein guter, auch künstlerisch interessanter und mutiger Film, aber dennoch der uninteressanteste von Cantet, der bisher auch visuell ein Abenteurer war. Dieser Film fordert visuell nie wirklich heraus, sondern mischt in quasidokumentarischer Manier in den Innenräumen bleibend Halbtotalen mit Nahaufnahmen. Die Bilder sind clean, zu clean und könnten auch einem Fernsehfilm entstammen. Der Film gönnt sich keine Ruhe, kein Durchatmen. Das ist Konzept, schon klar, um die fortwährende Anspannung zu zeigen, der Schule, Lehrer, Schüler ausgesetzt sind – die Klasse als Druckkammer. Fast fortwährend wird geredet, ein Quasselfilm muss man leider auch sagen. Das Szenario hat viele lose Enden – Entre les murs hinterlässt den Eindruck einer Zwischenaufnahme, vieles wird nur angeteased, bleibt für den Verlauf der Geschichte folgenlos. Und schließlich kommt einem auch in den Sinn, dass dies weißgott nicht der ersten Lehrerfilm der letzten Jahre aus Frankreich ist: Haben (oder nicht) gab es, vor allem aber Bertrand Taverniers Film Ça commence aujourd'hui. Der war besser.
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In die jüngere Cannes-Tradition fügt sich der Preis indes perfekt: Frankreichs Lehrer im Multikulti-Kampf, ein rumänisches Abtreibungsdrama, der irische Unanhängigkeitskrieg, Obdachslose und Kinderhandel, Bush und der Irakkrieg – blickt man auf die Filme zurück, die einschließlich 2008 in den letzten Jahren die Goldene Palme gewannen, ist die Tendenz nur allzu klar: Sozialpädagogik und politische Agitation gewinnt. Vorbei jene Zeiten, als man durch die Kunst
herausgefordert und infrage gestellt werden wollte – heute möchte man Bestätigung.
Heute dominiert auch ein Kunstfestival der Arthouse-Mainstream, der sich dem großen Mainstream der Industrie nur scheinbar entgegenstellt, in Wahrheit mit dem Strom schwimmt: Kino als Bausatz nach wenigen schlichten Rezepten, nach vorgestanzten Formeln: Entweder Ethno-Emotion oder politische »Relevanz«, in jedem Fall sentimental und mit einer »Lösung« – das sind nicht weniger
künstliche Paradiese, als die Reiseziele von Indiana Jones oder die Explosionseskapismen der monatlichen Superhelden- und Katastrophenblockbuster. Heute zählt das Konsensfähige, Plakative, ja nicht zu komplizierte, das einem infantilen, an Komplexität nicht interessierten Zeitgeist schmeichelt.
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Cantets Film steht hier in der Mitte. Er gibt sich spröde und ist wohl auch nicht leicht konsumierbar, schon weil das schnelle Gerede über die zwei Stunden doch sehr anstrengt. Man geht mit Lehrer François durch die Hölle. Aber mehr als einmal zwinkert Entre les murs dem Arthouse-Mainstream auch heftig zu.
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Filme, die intim und kraftvoll den amour fou zweier geschundener Seelen ins Zentrum stellen, ohne sich um den Rest der Welt zu kümmern (Two Lovers), die das gar nicht harmonische, aber durchaus liebevolle Innenleben einer Familie entfalten, ohne am Ende Harmonie vorzugaukeln (Un conte de Noël), oder eine Familie einfach durch den harten Alltag der
philippinischen Hauptstadt Manila begleiten (Serbis) oder die existentielle Irritation einer Frau (La mujer sin cabeza) gehen da ganz leer aus, oder werden mit Trostpreisen abgespeist.
Die letzte Goldene Palme, die auch künstlerisch Zeichen setzte, war 2003 Gus Van Sants Elephant; der war allerdings zugleich auch ein Film über den Amoklauf von Columbine, und erfüllte somit auch den Anspruch des inhaltlich „Bedeutungsvollen“.
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Auch Cannes wird damit von jenem Virus befallen, der die großen Filmfestivals von Berlin und Venedig schon länger infiziert hat, und bereits in erkennbare Krisen stürzt: Die Festivals, für die die angeschlossenen Märkte und der künstlich fabrizierte Starauflauf auf dem Roten Teppich – zumeist mit Filmen „außer Konkurrenz“, aber mit vielen Stars – immer wichtiger werden, geben ihre ursprüngliche Funktion preis, ein Gegengewicht zum Bestehenden darzustellen, ein Ort für Experimente und Alternativen zu sein. Diese Funktion ist aber essentiell, denn nur sie hält das Kino lebendig als stilbildendes Medium der Gegenwart jenseits der ewigen Imitationen bekannter Erfolgsrezepte.
Derzeit ist sichtbar, wie Videokunst, Fernsehen, vor allem Internet, aber zunehmend auch Computerspiele die Funktion des Kinos übernehmen, als Bildmedium Nummer 1 die visuelle Erziehung jüngerer Generationen leisten.
Jene Zeiten, in denen in Cannes ein „Dogma-Manifest“ veröffentlicht wurde und das Weltkino erneuerte, in den Filme wie Lynchs Wild at Heart, Thomas Vinterbergs Das Fest, Rosetta der Dardenne-Brüder oder Nanni Morettis Das Zimmer meines Sohnes gewannen, gehören einstweilen der Vergangenheit an. Die Moralwelle wird auch nicht bleiben. Aber zur Zeit prägt sie überall die Juryentscheidungen. Aber auch wo Kino Industrieprodukt und Massenmedium ist, braucht es die sperrigen, persönlichen Werke der echten Kinokünstler.
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Arnaud Desplechin, genauso genommen der große Verlierer vom Sonntag, sollte sich nicht allzu lange ärgern. Er ist in überaus guter Gesellschaft: Auch Lars von Trier, Michael Haneke oder Wong Kar-wai konnten hier trotz sämtlich vielfacher Wettbewerbsteilnahmen noch nie gewinnen. Wahre Kunst ist nicht mehrheitsfähig. Auf lange Sicht setzt sie sich trotzdem durch.
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Am Montag danach noch ein Mittagessen bei Chez Astoux dem schönsten der Fischlokale am Hafen neben dem Palais. Plötzlich bemerken wir: Bei den acht Leuten hinter uns am Nebentisch handelt es sich um die Dardenne-Brüder mit ihrem Team, die gestern für Le silence de Lorna die Palme fürs beste Drehbuch bekommen hatten. Hauptdarstrellerin Arta Dobroshi, für viele die
heimliche Gewinnerin des Darstellerpreises, hat ein auffallend schönes rotes Kleid an.
Wer jetzt lästern möchte, dass Geld und Luxus zu diesem Film nicht passen, den muss man wohl noch mal erinnern: Kommunismus heißt nicht Askese – das ist Protestantismus – sondern dass jeder Kaviar essen, Champagner trinken, Pelzmäntel tragen und meinetwegen Maserati fahren soll.
Draußen an der frischen Luft ist dann klar: Cannes hat sich wieder in ein Fischerdorf
zurückverwandelt, der Mistral zieht an, und fegt die letzten Filmplakate weg – Cannes 2008, verweht...