USA 2018 · 85 min. · FSK: ab 12 Regie: Jonah Hill Drehbuch: Jonah Hill Kamera: Christopher Blauvelt Darsteller: Sunny Suljic, Katherine Waterston, Lucas Hedges, Na-kel Smith, Olan Prenatt u.a. |
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Das kalifornische Gefühl |
Viel zu selten kriegt man sie noch zu sehen, die amerikanischen Independent-Filme, nicht von großspurigen Production-Values überfrachtet, sondern geprägt von einer unmittelbaren Herangehensweise, einer persönlichen Handschrift, mit einem Sujet, das mehr Herzensangelegenheit ist als professionell bewältigter Drehbuchstoff.
Jonah Hill, arrivierter Hollywood-Actor, auf dem Weg, als solcher ein ganz Großer zu werden (zu sehen war er in The Wolf of Wall Street von Scorsese oder Hail, Caesar! der Coen-Brüdern), hat nun einen Film als Autor und Regisseur gemacht und viele damit überrascht. Er hat sich inspirieren lassen von den Erinnerungen an seine Jugend in Los Angeles, an die Subkultur der Streetskater-Szene.
Daraus ist keine Schlüsselgeschichte mit Bekenntnissen aus der eigenen Vergangenheit geworden, sondern eine Hommage an eine bestimmte Zeit, an eine Stimmung, an ein Milieu, an die titelgebenden »Mid90s«.
Mit lockerer Hand skizziert Hill die Geschichte eines langen Sommers, in dem der 13-jährige Stevie eine neue Welt für sich entdeckt. Um dem immer wieder recht brutalen Dauerclinch mit seinem älteren Bruder zu entkommen, sucht er den Anschluss bei den coolen Jungs, die im Skater-Laden herumhängen. Obwohl er der kleinste und jüngste ist, gelingt es ihm, dort akzeptiert zu werden. Sunburn nennen sie ihn bald, worauf er sehr stolz ist, denn einen Spitznamen zu haben wie Fourth Grade oder Fuckshit, das ist eine Auszeichnung, die nicht jedem zuteil wird. Ruben etwa, kaum älter als Stevie, hat das nicht geschafft.
Recht viel mehr an Storyline als die fortschreitende Initiation in die Skater-Gang benötigt Mid90s eigentlich nicht, um den Zuschauer in Bann zu schlagen. Es geht natürlich auch um die typischen Problemthemen einer Coming-of-Age-Geschichte im prekären Milieu, um Sex, Drogen und Gewalt, um Konflikte mit dem Bruder und der Mutter, die Stevie den Kontakt zu den Skatern verbieten will. Dabei ergeben sich immer wieder gefühlsgeladene Momente, die einen die Luft anhalten lassen, waghalsige Mutproben, bei denen Stevie schwere Stürze riskiert, schiere Dummheit, wenn die Jungs ins Auto steigen, das der vollkommen zugedröhnte Kumpel steuert. Aber diese Dramatik verdankt sich nicht künstlichen Zuspitzungen, sie entwickelt sich organisch aus der Szenenfolge.
Der Stoff, aus dem dieser Film gemacht ist, das ist die pure Zeit dieses Sommers, sie gerinnt und verdichtet sich in den mal pulsierenden, mal lässig trägen Momentaufnahmen der analogen 16mm-Bilder.
Verantwortlich für die Bildgestaltung war Chris Blauvelt, dessen bisherige Kameraarbeiten eine künstlerische Empfehlung sondergleichen darstellen. Er wirkte als Kameraassistent von Harris Savides bei Gus Van Sants Filmen Elephant, Gerry und Last Days, bei dessen Paranoid Park dann an der Seite des großen Christopher Doyle, ehe er selbst die Bildgestaltung etwa im jüngsten Gus-Van-Sant-Film Don’t Worry, weglaufen geht nicht (in dem Jonah Hill mitspielt) oder bei Kelly Reichardt (Meek’s Cutoff, Certain Women) übernahm.
In den flirrend-konzentrierten Aufnahmen für Mid90s gönnt Blauvelt sich und den Zuschauern immer wieder ein Schwelgen im warmen, spätabendlichen Sonnenlicht über dem Asphalt, auf dem die Boards der Skater scheinbar schwerelos dahingleiten.
Die hypnotische Wirkung der Bilder wird zudem durch einen magischen Score auf der Tonspur unterstützt, der von den Pixies über diversen Skater-affinen Hiphop bis zu Morrissey reicht.
Darüberhinaus besticht Mid90s durch die natürliche Performance der jugendlichen Darsteller, von denen die meisten erstmals in einem Film mitspielen.
Die so vermittelte Credibility ist ganz und gar nicht erborgt, der Film brüstet sich nicht mit einer wie eine Trophäe vorgezeigten Authentizität, sondern befindet sich unprätentiös und ohne Angeberei auf Augenhöhe mit seinen Darstellern, seinen Figuren. Er ist mit Wärme und Anteilnahme ganz bei ihnen, weist nicht die grausamen Gesten von jugendlicher Amoral und Unschuld auf, die Larry Clark in Kids oder Bully herausseziert. Eher nimmt er die Lässigkeit der hispanischen Skater-Gang aus Larry Clarks Whassup Rockers auf, die sich zum Sound der Ramones durch die Straßen von Los Angeles treiben ließ. Aber Jonah Hills Mid90s kann davon unabhängig ganz für sich stehen, er hat ein echtes Independent-Juwel geschaffen, das nicht an anderen Skater-Filmen gemessen werden muss.
Mit seinem Regiedebut entführt Jonah Hill den Zuschauer direkt ins Kalifornien der Mid90s, also in die goldene Ära von Skateboarding, Gangster-Rap und Baggy-Pants. In der Darstellung dieser Epoche liegt auch eine der größten Stärken des Coming-of-Age-Dramas, dessen Plot und Atmosphäre auch Skateboarder später geborener Generationen unmittelbar zurück in ihre unbeschwerte Jugend katapultiert. Dies ist dem unvergleichbaren Skater-Style geschuldet, dem Kleidungsstil und den vielen Postern in den Zimmern, doch auch der Soundtrack namhafter Künstler der Zeit wie dem Wu-Tang Clan und Mobb Deep spielt hier eine große Rolle. Neben dem Abhängen im Skateshop und am Park steht vor allem der Wunsch, zur coolsten Clique L.A.s dazuzugehören, im Mittelpunkt. So wird der 13-jährige Stevie, genannt »Sunburn«, schnell vom Außenseiter, der regelmäßig Schläge von seinem Bruder einstecken muss und sich mit seiner alleinerziehenden Mutter anlegt, zum Ziehsohn seiner neuen Familie um die Skater »Fuckshit«, Ray, »Fourth Grade« und Ruben. Der junge Sunny Suljic geht in dieser Rolle überraschend auf, was wohl seiner Kenntnis der Szene geschuldet ist.
Wie für einen Coming-of-Age-Film üblich, dürfen natürlich erste Erfahrungen mit Drogen, Alkohol und dem anderen Geschlecht sowie Konflikte innerhalb der Clique nicht fehlen. Wobei die Darstellungen anders als im vergleichbaren Genre-Klassiker KIDS weniger drastisch ausfallen und die Figuren in Mid90s nie ihre Menschlichkeit verlieren. Auch wenn hier – wie für die protraitierte Szene üblich – nicht an vulgären Schimpfwörtern und Macho-Gehabe gespart wird, gelingt es Hill, auch recht beiläufig und in undramatischen Szenen die Empathie seiner Figuren eindrucksvoll auf Zelluloid zu bannen. Besonders deutlich wird dies etwa, wenn die Jungs sich beim Skaten vor dem Gerichtsgebäude mit einem Obdachlosen unterhalten. Dies geschieht nicht von oben herab, wie man es eigentlich von ihnen erwartet hätte. Es entsteht eher der Eindruck, der Mann wäre einer von ihnen, der ihnen von seinen Zielen und Träumen erzählt.
Der Zuschauer fühlt sich allerdings nicht nur durch Setting, Soundtrack und die Klamotten der Jungs in die 1990er Jahre zurückversetzt; auch der 16mm-Film, auf den die Story gebannt wurde, trägt seinen Teil zur Stimmung dabei. Mit seinem groben Korn erinnert er nicht nur an die schmutzigen Straßen von Los Angeles, sondern auch an den Charakter der Skatevideo-Klassiker der 1990er, den Jonah Hill und sein Kameramann Christopher Blauvelt hier glaubhaft einfangen. Die Sorgfalt, die hier den Bildern gewidmet wurde, zeigt sich auch im Meta-Video, das auf zeitgerecht auf Videotape durch den introvertierten Hobbyfilmers »Fourth Grade« gebannt wurde. Es dokumentiert seine Freunde beim Skaten, Feiern und Abhängen.
Ähnlich wie seine Vorbilder Larry David und Harmony Korine setzt auch Hill größtenteils auf unbekannte Darsteller wie Olan Prenett und Ryder McLaughlin, oder eben auf große Gesichter der Skateboard-Szene, wie in diesem Fall Na-Kel Smith, der als Ray als eine Art Ersatzbruder für »Sunburn« fungiert, der hinter der coolen Fassade ein ganz normaler Teenager ist. Dabei macht Hill hier nie einen Hehl daraus, wo er sich die Inspirationen für sein Erstlingswerk einholte. Ganz im Gegenteil: Cameos von Profi-Skatern der portraitierten Ära, dem Kids-Drehbuchautor Harmony Korine oder dem Indie-Rapper Del tha Funkee Homosapien zeigen dem aufmerksamen Zuschauer ganz klar, welche Welt hier beleuchtet wird. Jonah Hill gelingt es, dieser spannenden Ära, die uns neben toller Musik auch viele großartige Filme beschert hat, neuen Atem einzuhauchen und uns Zuschauer um zwei Jahrzehnte zurückzuversetzen.