Deutschland 2015 · 128 min. · FSK: ab 12 Regie: Hans Steinbichler Drehbuch: Fred Breinersdorfer Kamera: Bella Halben Darsteller: Lea van Acken, Martina Gedeck, Ulrich Noethen, Stella Kunkat, André Jung u.a. |
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Anne Frank, pittoresk: das Mädchen mit dem Kätzchen |
»Erlaubt sind alle Kultursprachen. Also dann kein Deutsch.« – Anne Frank, 1942 in einer satirischen »Hausordnung«, zitiert nach dem Film
Ein lächelndes Gesicht. Ein normales junges Mädchen, gesund und fröhlich, das vom Filmplakat aus dem Publikum direkt und offen ins Gesicht blickt. Es ist das Gesicht der Schauspielerin Lea van Acken, die bereits mit ihrer ersten Rolle – als Opfer christlich-religiösen Wahns in Dietrich Brüggemanns Kreuzweg – bekannt wurde. Nichts in diesem Gesicht und seinem Blick hat eine doppelte Botschaft, nichts deutet auf den historischen Abstand zu der Figur, die sie nun verkörpert, nichts auf ihr Martyrium: Denn jetzt spielt Lea van Acken eine der, wenn nicht die symbolische Figur der Shoa: Anne Frank.
Geboren wurde Anne Frank am 12. Juni 1929 in Frankfurt am Main, ermordet im Februar oder März 1945 in Bergen-Belsen, kurz vor der Befreiung des Lagers. Ihr Tagebuch, das die über 700 Tage des Verstecks im Hinterhaus der Amsterdamer Prinsengracht 263 schildert, und dessen Editionsgeschichte ein Thriller für sich ist, ist weltberühmt – als historisches Zeugnis, wie als literarisches Werk, das weit über die »Normalität« eines der vielen Dokumente aus den Jahren der Verfolgung und den Todeslagern und erst recht über Tagebücher einer Pubertierenden hinausgeht.
Das Interesse an dem Werk war schon früh gewaltig. Der Film Das Tagebuch der Anne Frank durch Regisseur Hans Steinbichler ist bereits die siebte, aber die erste deutsche. Es gibt vom Tagebuch auch eine Bühnenfassung, eine Oper, ein Hörspiel. Steinbichler, Jahrgang 1966, wurde vor dreizehn Jahren durch sein Debüt Hierankl schlagartig bekannt, drehte seitdem mehrere Kinospielfilme (Winterreise, Autistic Disco) sowie fürs Fernsehen Folgen von »Polizeiruf« und den Film »Landauer« über den jüdischen Präsidenten des FC Bayern München. Er ist so wenig wie sein Drehbuchautor Fred Breinersdorfer (Sophie Scholl – Die letzten Tage) einer, der im Verdacht stünde, diesen Stoff zu leicht zu nehmen, aus ihm nur Kapital schlagen zu wollen.
Wie verfilmt man so eine Figur und so ein Buch, das in 70 Sprachen übersetzt und mittlerweile sogar ins Weltkulturerbe der Unesco aufgenommen wurde? Kann das überhaupt gelingen – lässt sich die gebrochene, reflektierende Perspektive des Tagebuchs in eine Leinwand-Erfahrung umsetzen, ohne ihr das Wesentliche zu nehmen?
Die gravierendste Veränderung, die der Film vornimmt, ist die der Perspektive: Aus dem subjektivem »Ich« des Tagebuchs wird hier die »objektive« Außensicht, doch Anne spricht nun in Dialogen wie sie schrieb. Die Verfilmung durch Steinbichler ist zumindest ehrenwert. Sie versucht, nichts falsch zu machen. Nur: Genügt das? Wieviel Normalität, wieviel Kindheit und Pubertät kann ein Spielfilm so einer Figur zugestehen? Wo liegt die Balance zwischen Alltag und Abgrund? Denn der Satz, dass ja auch Anne Frank ein ganz normales Mädchen gewesen sei, mit den Problemen, Verhaltensweisen, und Träumen einer Heranwachsenden, ist eine Binsenweisheit. Was heißt schon Normalität unter den Bedingungen eines über zweijährigen Verstecks unter permanenter Drohung des entdeckt- und deportiert-werdens? In der Angst sich selbst und um die Familie? Und dann den letzten Monaten in den Todesmühlen?
Nicht deswegen interessieren wir uns aber für Anne Frank, weil sie wie alle anderen war und ein normales Leben geführt hat. Das verbindet diesen Film – eine grauenvolle, aber notwendige Zusammenstellung – mit einem Film wie Der Untergang und die Figur der Anne Frank mit der ihres Mörders Adolf Hitler. Sie sind in dem Sinn eben keine »normalen« Menschen, weil sie Symbol-Charaktere sind. Nur nachts sind alle Katzen grau.
Und müssen oder wollen wir uns Anne Frank vorstellen, wie sie ihre Notdurft verrichtet? Wie sie verliebt ist? Wie sie sich selbst befriedigt? Muss die Akne der Schwester immer wieder demonstrativ ins Bild gerückt werden? Warum?
Breinersdorfers Drehbuch orientiert sich sehr eng am Original-Tagebuch, verbindet es allerdings mit anderen persönlichen Aufzeichnungen – von Anne Frank selbst, wie von ihrer Familie sowie Zeitzeugen.
Der Film versucht, eine Anne Frank für das 21. Jahrhundert zu zeichnen – was immer das heißen mag: er versucht, sie als ein Mädchen zu zeigen, das moderne Ansichten hatte, Zukunftspläne und -träume, Sehnsüchte und Hoffnungen, das verliebt ist, und sich mit den Eltern und ihrer Schwester Margot streitet, das sich als Frau benachteiligt fühlt, ein bisschen feministisch denkt und sich erstmals verliebt. Das alles ist durch die Vorlage historisch abgesichert. Ebenso, wie Annes Hoffnung darauf, dass ihr Tagebuch publiziert werden könnte, ihre Gedanken an spätere Leser, für die sie manche Notizen bearbeitete, umschrieb, sogar strich.
Ein dramaturgisches Problem ist, dass der Ausgang bekannt ist: Wenn die Bomber über Amsterdam Angriffe fliegen, fürchtet man nie um die Figuren, sieht ihr Bangen kühl, denn man weiß: Sie werden überleben, um deportiert und in den deutschen Lagern getötet zu werden.
Schon zuvor fragt man sich, warum es so sein muss: Eine allererste Szene zeigt Familie Frank Mitte der 30er Jahre im Urlaub in der Schweiz. Glück der Vergangenheit. Wozu? Braucht man einmal Sonnenscheinbilder mit Vogelgezwitscher, vielleicht für den Trailer, damit das Publikum keine Angst vor den vielen Innenaufnahmen bekommt? Oder traut man den blöden Zuschauern nicht zu, ansonsten das frühere Glück ermessen zu können, die Fallhöhe zum Absturz in die Vernichtung? Oder möchten
die Macher gar sagen: Wärt ihr halt mal bloß gleich in der Schweiz geblieben, ihr blöden Juden, aber ihr habt’s halt nicht begriffen...
So oder so ist der Einstieg bereits ein geschmacklicher Fehlgriff.
Als weiteres Problem erweisen sich die bekannten Schauspielstars: Ohne Frage sind Ulrich Noethen (als Vater Otto Frank), Martina Gedeck (als Mutter Edith) und Margarita Broich (Petronella van Daan) hervorragende Darsteller. Nur sind sie auch so bekannt, dass hier immer wieder die Rolle hinter den Stars zurücktritt. Zudem spielen bei einem Starschauspieler immer all seine früheren Rollen in eine neue mit hinein. Das genau unterscheidet den Star vom bloßen Darsteller: Sein Image und Charisma. So sieht man in Ulrich Noethen eben auch immer den Bruno Taschenbier aus den Sams-Filmen, den pessimistischen Hans Jonas aus Hannah Arendt, und eben auch den Himmler aus Der Untergang.
Formal ist diese Verfilmung notgedrungen bieder und beflissen. Besonders nervtötend fällt das penetrante Dauer-Gejaule und -Geklimper der allzu kitschigen Musik ins Gewicht. Sie allein macht den Film um zwei Klassen schlechter: Jeder Moment wird verstärkt und untermauert, sodass keinerlei eigenes Gefühl, keine Differenziertheit und schon gar kein Innehalten aufkommen kann. Fatal bei diesem Stoff!
Eine Fehlentscheidung und Geschmacksverirrung, die um so mehr irritiert als dass es hier keinen beteiligten Fernsehsender gibt, dessen Einfluss in solchen Fällen gern für alles Negative verantwortlich gemacht wird. Solche Ausreden sind nicht möglich.
Steinbichlers Stammkamerafrau Bella Halben bemüht sich immerhin, den abgedroschenen Konventionen des Historienmelodramas – denn dies ist das Genre, aus dessen Gehäuse der Film nicht herauskommt – wenigstens ein paar neue, oder bessere Bilder abzugewinnen, der Kitschfalle zu entgehen. Aber es klappt kaum. Zu sehr dominieren trotz CinemaScope die Konventionen der bekannten, normalerweise dem Fernsehen zugeschriebenen Erzählweise. Brav wird eine Großaufnahme an die nächste montiert.
Steinbichler und Halben schaffen ab und an ein Gefühl für die verwinkelten Verhältnisse und das enge Leben der acht Menschen in der Prinsengracht. Unter dem wuchtigen Sujet werden atmosphärische Feinheiten aber meist erdrückt.
Inhaltlich ist ist alles höchst konventionell. Einerseits entgeht Steinbichler nicht der Versuchung des einfachen, vorhersehbaren Wegs, Anne als Heldin und Heilige zu zeigen, die einen Passionsweg mit sicherem, schlechtem Ausgang vollenden muss. Andererseits rutscht der Film dann doch auf die schiefe Ebene eines Coming-of-Age-Movies.
Der Kino-Anne-Frank wird hier viel aufgehalst: Sie soll modern sein und historisch, sie soll normales Mädchen sein und Shoa-Symbol. So bleibt dieser Film im besten Fall illustrativ. Und beflissen. Raphael Gross, der in der Schweiz lehrende Historiker deutsch-jüdischer Geschichte diente als Fachberater, gefördert haben gleich vier Länderförderer – Filmstiftung NRW, das Medienboard, der FFF Bayern, die baden-württembergische MfG – und die FFA. Kein Fernsehsender ist dabei, ob keiner wollte, oder keiner gefragt wurde – nach dem ZDF-Desaster mit Oliver Berbens geplanter, vom Anne-Frank-Fonds abgelehnter Verfilmung wäre beides verständlich – war so leicht nicht herauszufinden.
Was für den Film sprechen mag, ist, dass er das Tagebuch einer neuen, womöglich weniger lesehungrigen Generation nahebringt – wenn es denn gelingt. Allerdings hat Anne Frank glücklicherweise eine solche Filmkrücke gar nicht nötig.
Was gegen ihn spricht, ist die Trivialisierung dieses Menschen – das Gegenteil von Authentizität. So nahe wie in ihren eigenen Worten kommt man Anne Frank in keiner Adaption.
Deswegen bleibt die Frage: Wozu? Weil man alles bebildern muss? Weil jeder Bestseller – und Anne Franks Tagebuch ist auch das – nach Verfilmung schreit, und sichere Gewinne verspricht? Also doch ein Exploitation-Film. Es konnte nicht anders sein.
Am Ende sieht man Lea van Ackeren, wie sie als Anne Frank ins Lager kommt und ihr das lange, volle Haar geschoren wird. Sie lächelt nicht mehr. Nur noch draußen auf dem Plakat.
Nachbemerkung:
»...die Firma ›AVE. Gesellschaft für Fernsehproduktion‹ setzte sich durch. Sie erwarb die Rechte vom Anne-Frank-Fonds, und es war sicher nicht hinderlich, dass die Firma eine Tochter des Holtzbrinck-Konzerns ist, zu dem auch der Fischer-Verlag gehört, der in Deutschland ›Das Tagebuch der Anne Frank‹ verlegt.« – Peter Körte, FAS vom 28.2.16
Wir sind daher besonders gespannt auf die unabhängige Berichterstattung der Kollegen im »Tagesspiegel« und in der »Zeit«.