Deutschland/Österreich 2017 · 96 min. · FSK: ab 16 Regie: Ali Soozandeh Drehbuch: Ali Soozandeh Kamera: Martin Gschlacht Schnitt: Frank Geiger, Andrea Mertens |
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»Stadt der Lügen«: Teheran |
»Wenn man in Teheran leben will, muss man lügen. Das hat nichts mit Moral zu tun; in Teheran lügt man, um zu überleben. Die Notwendigkeit, sich zu verstellen, ist überraschend egalitär verteilt – sie existiert über alle Klassenschranken hinweg, und es gibt keine religiösen Unterschiede, wenn es um Lug und Trug geht. Einige der frömmsten, rechtschaffensten Teheraner sind am begabtesten und raffiniertesten in der Kunst der Täuschung. Wir Teheraner sind meisterhaft darin, die Wahrheit zu manipulieren.« (Ramita Navai, »Stadt der Lügen: Liebe, Sex und Tod in Teheran«, 2016)
Ali Soozandehs Spielfilmdebüt, der Animationsfilm Teheran Tabu, überrascht den Zuschauer gleich zu Beginn mit einer seiner pointiertesten Szenen. Ein Autofahrer lässt sich während der Fahrt von einer Prostituierten oral befriedigen – und regt sich wahnsinnig auf, als er am Straßenrand seine Tochter, »diese Schlampe«, mit einem jungen Mann händchenhaltend den Boulevard entlang schlendern sieht. This is a man’s world! Was erlaubt, was sozial angemessen ist, entscheiden immer noch die Väter, die Männer, die Gesetzeshüter. Doch zu was für Männern erzieht eine solche Welt ihre Söhne? Den Sohn der Prostituierten Pari beispielsweise, der die oben beschriebene Szene kaugummikauend vom Rücksitz des Autos aus beobachtet?
Teheran Tabu erzählt mit frauenfreundlichem Blick Szenen aus dem Leben von vier jungen Teheranern: da sind die alleinerziehende, ehemals drogenabhängige Prostituierte Pari, die verheiratete, in bürgerlichen Verhältnissen lebende Sara, die gerne berufstätig wäre, das um seine Jungfräulichkeit besorgte Party-Girl Donya, das aus der Provinz stammt und sich nach einem neuen Leben sehnt, und der desillusionierte Musiker und Student Babak. Ihre Wege kreuzen und beeinflussen sich auf vielschichtige Weise und die Art, wie dieser Reigen komponiert ist, die Zwangsläufigkeit, mit der Begegnungen, erpressbare Abhängigkeiten und Netzwerke schicksalhafter Loyalitäten gespannt werden, erinnert bisweilen an die von Regie-Ikone Rakhshan Bani Etemad meisterhaft erzählten Geschichten aus Teheran. Die Zusammenstellung des Personals, die drei Frauen, die sich mit Problemen zwischen Schwangerschaft, Prostitution und allgemein prekären Lebensverhältnissen herumschlagen müssen, lässt zudem eine entfernte Verwandtschaft zu Jafar Panahis Der Kreis anklingen. Und das Setting vom Mittelschichts-Apartmenthaus, in dem eine Prostituierte mit ihrem Kind lebt, ähnelt Asghar Farhadis The Salesman.
Auch wenn die Episoden aus dem Leben der drei Frauen im Mittelpunkt stehen und die Sympathie des Filmemachers offensichtlich den Frauen gilt, bleibt die Ausgestaltung ihrer Charaktere oft seltsam schablonenhaft und – trotz ihres markanten Selbstbehauptungswillen – können sie der ihnen zugeschriebenen Opferrolle letztlich nicht entkommen. Als Identifikationsangebot für die Zuschauer dienen vielmehr der junge Student Babak und Paris stummer fünfjähriger Sohn Elias.
In Teheran Tabu zeigt sich die iranische Metropole als sündige Stadt der Lügen und der Doppelmoral. Ali Soozandeh hat für sein Spielfilmdebüt ein Drehbuch geschrieben, das auf eigenen Erfahrungen des Autors, auf zahlreichen Gesprächen mit jungen (Exil-)Iranern sowie weiter führenden Recherchen beruht. Doch erinnert es auch an manche der dokufiktionalen Porträts, die die britisch-iranische Journalistin Ramita Navai in ihrer collageartigen Reportage »Stadt der Lügen« von Teheran gezeichnet hat. Möglicherweise ist diese Ähnlichkeit einem weithin festzustellenden Zeitgeist geschuldet, der nach Jahren klischeehafter Darstellungen des Iran in Form von religiös-fanatischen Frauen im schwarzen Tschador inzwischen lieber auf das – kaum weniger stereotype – Bild der hypersexualisierten jungen Städterin mit operierter Nase und gefärbten Haaren setzt, die, Drogen und Alkohol nicht abgeneigt, ausschweifende Partys feiert oder sonst dem Konsum frönt. Dabei ist diese visuelle Verschiebung nicht zuletzt auch einer Erwartungshaltung geschuldet, die im Fremden eine ins Exotische verschobene Spiegelung sucht, die im Kontrast die eigene (westlich geprägte und definierte) Freiheit umso klarer hervortreten lässt.
Teheran Tabu behandelt die zahlreichen Tabus der Islamischen Republik Iran. In einem gesellschaftlichen System, das derart scharf zwischen öffentlichem Schein und privatem Leben unterscheidet, gedeiht die Doppelmoral. Der anständige und einflussreiche Richter lässt sich durch die Not einer Frau, deren Mann im Gefängnis sitzt und keinen Unterhalt für das Kind zahlt, nicht erweichen. Juristisch bietet er keine Hilfe, aber privat verspricht er finanzielle Unterstützung gegen sexuelle Dienstleistungen. Dass er sich dadurch auch erpressbar macht, kompensiert er gegebenenfalls durch sexuelle Gewalt. Das perfide System aus Verbot und Übertretung, Macht, Machtmissbrauch und Ohnmacht, aus Lüge, Erpressung und Korruption hält sich selbst am Laufen und gebiert dabei immer neue Verwerfungen.
Die Frauen sind in diesem System mehrfachen Benachteiligungen und Einschränkungen unterworfen: an ihnen wird Moral und Ehre festgemacht. Ihre Jungfräulichkeit stellt einen auch monetären Wert dar, der notfalls durch eine medizinische Investition wiederhergestellt werden kann. Ihre Mutterschaft verleiht Status, aber ihre Selbstbestimmung ist in fast allen Lebensbereichen stark eingeschränkt und auf männliche Legitimation angewiesen. Als die verheiratete Sara sich erfolgreich um eine Stelle als Lehrerin bewirbt, scheitert die berufliche Karriere an der verweigerten Einwilligung ihres Ehemanns, der sie lieber auf ihre Rolle als Mutter beschränkt sehen möchte.
Wo Restriktionen und Verbote das Leben behindern, blüht die Schattenwirtschaft: Hinterhofärzte rekonstruieren Jungfernhäutchen, Pass- und Urkundenfälscher stellen notwendige Papiere und Bescheinigungen aus. Alkohol ist jederzeit verfügbar, Drogen an jeder Straßenecke erhältlich. Doch ohne Kontakte und ohne Geld, so muss der Student Babak feststellen, gibt es weder die Erlaubnis, seine Musik auf CD zu veröffentlichen, noch einen Kredit, der ihm aus der Patsche helfen könnte.
Teheran Tabu bricht die Tabus und zerrt sie ans Licht. Als »Tabu« wird eine Art ungeschriebenes Gesetz bezeichnet, eine nicht hinterfragbare Übereinkunft, die es verbietet, bestimmte Dinge zu tun oder über bestimmte Themen wie etwa Sexualität, Sucht, Korruption, Armut, Gewalt oder ähnliches auch nur zu sprechen. Sprachhistorisch betrachtet ist der Begriff »Tabu« ein Mitbringsel des englischen Entdeckers James Cook, der das Wort 1777 bei einer Südseereise in Polynesien aufschnappte und in den europäischen Wortschatz importierte. Dieser Sprachimport kennzeichnet jedoch auch eine Verschiebung und Hierarchisierung, denn für das aufgeklärte Zeitalter benennt der Begriff des Tabu beispielhaft das irrational Andere und das nicht »vernünftig« verstehbare Verhalten »exotischer« Völker. Im heutigen Sprachgebrauch wird es oft als impliziter Vorwurf verstanden, wenn etwas als Tabu beschrieben wird. Verbunden wird damit die ebenso fortschrittlich wie aufgeklärt gemeinte Forderung, es solle »enttabuisiert« oder ein »Tabubruch« begangen werden. Ali Soozandeh äußert sich über das Thema seines Films in Interviews ganz ähnlich, wenn er feststellt, dass es ihm um genau solche Themen und Probleme gehe, die die iranische Regierung gewöhnlich totschweige.
Mit derartigen Selbstpositionierungen beginnt ein altbekanntes Spiel zwischen exil-iranischem Künstler und offiziellem iranischen Diskurs (seien es Stimmen staatlicher Organe, der veröffentlichten Kritik oder Meinungen aus dem Publikum): der eine will enttabuisieren, die anderen sehen den schönen Schein bedroht und beschimpfen den »tabulosen« Künstler als Nestbeschmutzer oder gar Agent westlicher Mächte.
Um es klar zu sagen – das Anliegen, einen differenzierten, empathischen Blick auf unterrepräsentierte Aspekte einer Gesellschaft zu werfen und Themen zur Diskussion zu stellen, die sonst ausgeblendet bleiben, ist ebenso wichtig wie anerkennenswert. Doch Filme, die sich mit Iran befassen, werden im westlichen Kontext oft unweigerlich »politisch« eindimensionaler und expliziter gelesen als es im Film angelegt ist. Und so schaukelt sich schnell ein Konflikt hoch, der mit dem Film als künstlerischer Ausdrucksform nur noch wenig gemein hat, aber doch beiderseits der skandalumwitterten Publicity dient.
Daher war es eine kluge Wahl, die künstlerische und poetische Seite des Films hervorzuheben und Teheran Tabu mittels Rotoskopie-Animationstechnik zu realisieren. Bei der Rotoskopie spielen echte Schauspieler vor einer Green Screen die Szenen und im Anschluss wird der Film mittels digitaler Prozesse nachgezeichnet und animiert. Das Verfahren ist sehr aufwändig und setzt viel Abstraktion voraus, da die Hintergründe und selbst viele Requisiten erst später hinzumontiert werden, führt aber zu einem intensiveren emotionalen Ausdruck, vor allem was Mimik oder Gestik angeht, und zu größerer Authentizität. Gleichzeitig erlauben die gezeichneten Figuren den Zuschauern ihre Fantasie stärker einzusetzen als das beim Realfilm der Fall wäre.
Die Rotoskopie wurde bereits von Richard Linklater in den Animationsfilmen Waking Life und A Scanner Darkly genutzt, aber beispielsweise auch im Dokumentarfilm The Green Wave von Regisseur Ali Samadi Ahadi, der nun bei Teheran Tabu als Produzent beteiligt ist. Bei The Green Wave, aber auch bei Camp 14 – Total Control Zone, Marc Wieses Dokumentarfilm über eine Flucht aus einem nordkoreanischen Lager, war Ali Soozandeh für die Animationen verantwortlich. Die anspruchsvolle Kameraarbeit für Teheran Tabu wurde vom Österreicher Martin Gschlacht geleistet, der schon für Shirin Neshats Women Without Men und Looking For Oum Kulthum die Kamera geführt hat.
Bei den politischen Dokumentarfilmen The Green Wave und bei Camp 14 dienten die Animationen dazu, Szenen zu visualisieren, die vor Ort nicht hätten gedreht werden können. Auch Teheran Tabu hätte im Iran nicht realisiert werden können. Selbst wenn überraschend eine Drehgenehmigung erteilt worden wäre, wären sämtliche Sex-Szenen, aber auch alle Szenen, in denen Frauen ohne Kopftuch auftreten, zensiert worden.
Die Entscheidung für die Rotoskopie eröffnete so viel Raum für künstlerische Freiheiten und erlaubte zudem mittels expressiver Farb- und Lichtgestaltung zusätzliche Wirkungsebenen zu erschließen. Spielerisch selbstreferentiell wird die Farbmetaphorik etwa in den Szenen im Fotostudio thematisiert, in dem sich fast alle Charaktere des Films für Pass- oder Bewerbungsfotos irgendwann einfinden und sich in der Regel nur zwischen einem düster-ernsten dunklen oder optimistisch-freundlich hellen Hintergrund entscheiden dürfen.
Auch wenn vieles in Teheran Tabu zunächst überdeutlich schwarz oder weiß wirkt, zeigt sich allmählich, dass sich hinter den Masken stets noch weitere Masken verbergen. Die Menschen in Ali Soozandehs Film sind gewohnt ihre Geheimnisse zu hüten, sich anzupassen oder notfalls zu verstellen. Bei aller vordergründigen Freundlichkeit sind sie nur am eigenen Vorteil interessiert. Nichts ist, wie es zunächst scheint, und jeder hat noch ein zweites, geheim gehaltenes Gesicht. Jedes Opfer kann in Sekunden zum Täter werden und umgekehrt. Der Bankangestellte, der zur Prostituierten geht, wird anschließend von dieser genötigt, auch ohne Sicherheiten einen Kredit zu vergeben. Fehlgeburten stellen sich als Abtreibungen heraus, der streng religiöse Verlobte entpuppt sich als Menschenhändler. Und der unbeholfene Sohn des Hausmeisters, der mit Sexanrufen gefoppt wird, wird durch die Kontakte des Vaters zu den Behörden plötzlich zu einer Bedrohung, die Existenzen vernichten kann. Familiäre Verbindungen und soziale Kontakte spinnen ein enges Netz, in dem sich Hilfsbereitschaft oder Freundlichkeit bei genauerem Hinsehen nicht mehr von Nötigung oder Erpressung unterscheiden lassen.
Teheran Tabu hat seit seiner Weltpremiere auf dem diesjährigen Cannes-Filmfestival bereits eine beachtliche Zahl an Festivalwettbewerben absolviert und dabei diverse Auszeichnungen gewonnen. So war Teheran Tabu beim größten Festival für Animationsfilme in Annecy ebenso vertreten wie bei der Viennale oder dem Filmfest Hamburg. Beim Jerusalem Filmfestival erhielt Teheran Tabu den Fipresci-Preis für den besten Debütfilm. Obwohl der Film auf Persisch gedreht wurde, ist eine Vorführung im Iran unvorstellbar. Zu provozierend wirkt der Titel, zu politisch ist der Inhalt. Doch diese Einschränkung ebenso wie mögliche Auswirkungen was zukünftige Reisen in den Iran angeht, waren den am Film beteiligten Exil-Iranern bewusst. Neben dem Hamburger Schauspieler Arash Marandi, der mit dem ebenfalls auf Persisch gedrehten US-amerikanischen Vampir-Western A Girl Walks Home Alone At Night bekannt wurde und auch im britischen Horrorfilm Under The Shadow mitwirkte, sticht im Ensemble besonders die in Frankreich lebende Zahra Amir Ebrahimi hervor, die die Rolle der Sara übernommen hat. Dabei wäre die Biographie Ebrahimis selbst eines Filmes wert und wirft ein zusätzliches Licht auf die in Teheran Tabu verhandelten Themen.
Zahra Amir Ebrahimi war im Iran eine gefeierte Fernsehschauspielerin, die für ihr Mitwirken in religiösen Filmprogrammen bekannt war und eine Hauptrolle in der erfolgreichen Seifenoper Nargess spielte. Doch wurde sie 2006 in einen Sexvideo-Skandal verwickelt. Das private Sex-Tape soll 2004 aufgenommen worden sein und Ebrahimi mit ihrem damaligen Verlobten zeigen. Doch Ebrahimi sagte aus, dass die Frau im Video eine andere sei und dass das Video ein Racheakt ihres Ex-Verlobten darstelle. Der Vorfall entwickelte sich zu einem Skandal, der berüchtigte Generalstaatsanwalt Saeed Mortazavi schaltete sich ein, Ebrahimi musste vor Gericht erscheinen und ihr drohte bei Verurteilung die Todesstrafe. Gesellschaftlich und beruflich war sie da jedoch schon tot. Sie musste das Land verlassen und lebt seit 2008 im Exil in Frankreich.
Teheran Tabu ist ein ästhetisch anspruchsvoller Film, der ein wichtiges Anliegen verfolgt und eine gesellschaftliche Debatte anstoßen möchte. Obwohl die vier Hauptcharaktere vielschichtig und durchaus komplex angelegt sind, wirken sie in vielen Szenen holzschnittartig konstruiert. Die Fokussierung auf sexuelle Tabus lässt andere Einschränkungen wie etwa die rechtliche Diskriminierung von Frauen aus dem Blick geraten. So würde Pari wohl bei erfolgreicher Scheidung das Sorgerecht für ihren Sohn verlieren. Während Babak und sein Freund Amir Pläne für eine mögliche Emigration schmieden, bräuchten die Frauen für die Ausreise die Einwilligung des Vaters oder Ehemanns. Die Handlungsstränge werden im Brecht'schen Sinne geradezu episch erzählt und die didaktisch-aufklärerische Motivation ist allgegenwärtig. Teheran Tabu ist daher trotz einiger humorvoller Szenen oder auch poetischer Momente überwiegend ein düsterer Film. Als Handlungsoptionen bleiben nur Flucht, Selbstmord oder Resignation.
Ähnlich wie Ramita Navai in »Stadt der Lügen« aus vielen Einzelschicksalen und –interviews ihre jeweiligen Porträt-Collagen montiert, scheint bei Teheran Tabu zu viel in die einzelnen Geschichten und Figuren gepackt zu werden, als ob jedes einzelne Tabu in all seinen Facetten seziert und mit sämtlichen zur Verfügung stehenden filmischen Mitteln vorgeführt werden müsste.
Die deutsch-österreichische Produktion Teheran Tabu
ist ein exil-iranischer Film mit all der Hass-Liebe, Sehnsucht und Ausweglosigkeit, die ein Exil emotional einfärben. Aus der Distanz wird der Beobachtungssinn geschärft, aber die Mittel der Interaktion und direkten Kommunikation bleiben eingeschränkt. Wie dem kleinen, stummen Elias bleiben da wenig Alternativen zwischen stoischem Erdulden und dem kindlichen Spaß daran, ab und zu ein rotes Kondom zu einer Wasserbombe umzufunktionieren, damit die Leute vom Balkon aus zu
bewerfen und sich über das empörte Schimpfen von unten zu freuen.