Ukraine/Niederlande 2014 · 132 min. · FSK: ab 16 Regie: Myroslav Slaboshpytskiy Drehbuch: Myroslav Slaboshpytskiy Kamera: Valentyn Vasyanovych Darsteller: Grigoriy Fesenko, Yana Novikova, Rosa Babiy, Alexander Dsiadevich, Yaroslav Biletskiy u.a. |
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Paradox poetisch & gnadenlos grausam |
Es ist kaum zu glauben, dass die klassische Western-Narration des Fremden, der in die Stadt kommt, dort von einer Bande terrorisiert wird, sich verliebt und irgendwann eine schwerwiegende Entscheidung treffen muss, dass dieses nur allzu bekannte Thema auch völlig anders erzählt werden kann und einen dann auch noch sprichwörtlich »sprachlos« zurücklässt.
Myroslav Slaboshpytskiy, dessen inzwischen von in Cannes bis in Tiflis preisgekrönter und in 40 Länder verkaufter Debütfilm The Tribe genau diese Unglaublichkeit gelingt, riskierte allerdings auch viel dafür. Er verknüpfte Erinnerungen an seine Schulzeit in Kiew, die dadurch geprägt war, dass sich seine Schule gegenüber einer Schule für Gehörlose befand, mit Erfahrungen aus der ukrainischen Prä-Maidan-Zeit: einem rechtslosen, mafiaartigen Staatsgebilde, in dem repräsentative soziale Institutionen wie die Polizei zu ihrem Gegenteil pervertierten. Slaboshpytskiy recherchierte in seiner damaligen Tätigkeit als Kriminalreporter auch über die in der Ukraine operierende Taubstummenmafia und verschmolz diese Recherchen mit seinen Jugendzeiterinnerungen und einer fixen Idee, eine ganz neue Art von Stummfilm zu realisieren, der den gegenwärtigen Film zu seinen Ursprüngen als visuelles Medium zurückführen sollte. Slaboshpytskiy kam zugute, dass er nach etlichen Kurzfilmprojekten und Drehbüchern für Soap-Operas zu einem Zeitpunkt für sein Projekt in die Ukraine zurückkehrte, als sich nach einer langen Durststrecke der ukrainische Film erstmals wieder zu stabilisieren begann und die Filmförderung wieder an Bedeutung gewann.
Slaboshpytskiy suchte sich eine Gruppe von taubstummen Laiendarstellern zusammen und realisierte tatsächlich seine Idee, die Geschichte eines taubstummen Jugendlichen zu erzählen, der in ein Gehörloseninternat eintritt und sich dort mafiösen Strukturen ausgesetzt sieht. In langen Einstellungen, Kamerafahrten und besonderen, immer wiederkehrenden, aber neu variierten Erzählkomplexen, fixiert Slaboshpytskiy eine Welt der stillen, tristen Gewalt, in der Prostitution, Diebstahl, Raub und gnadenlose Hierarchien den Alltag prägen. Aber Slaboshpytskiy gibt auch Raum für fast schon paradox poetische und politische Momente, die darauf hinweisen, was The Tribe auch ist: eine Camera obscura des modernen ukrainischen Staates und einer zerrissenen Gesellschaft, die in ihrer brennenden Sehnsucht nach einem besseren Leben in einem westeuropäischen Land bereit ist, auch intimste Beziehungen zu kappen.
Die sogartige, dunkle und grausame Intensität von Slaboshpytskiys The Tribe entsteht aber nicht nur durch den großartig, an Originalschauplätzen gefilmten, zwingenden »Western«-Plot – der in seinen pastelligen Farbspektren und der fotografierter Architektur immer wieder an Tarkovkijs Stalker erinnert – und die aus dem geschlossenen System heraus evozierte Systemkritik.
Was Slaboshpytskiys Film letztendlich jedoch so faszinierend macht, ist seine Radikalität im Umgang mit Sprache und Ton. Im ganzen Film wird tatsächlich nur in Gebärdensprache »gesprochen«. Slaboshpytskiy verzichtet explizit auf jegliche Untertitelung; nur der leicht gedimmte Ton der Außenwelt ist der einzige »Soundtrack« des Films. Dadurch gewinnt nicht nur die verbale Gewalt eine fast schon tänzerische Ästhetik, sondern vielmehr noch die körperliche Gewalt, die auf ihre Eigentlichkeit reduziert, einen beängstigenden, furchteinflößenden Leerraum im (hörfähigen) Betrachter entstehen lässt, weil er nicht mehr weiß, wie er die Gewalt einschätzen soll. Wie mit der Gewalt, so steht es auch mit der Sexualität, die zwar einer bildlich bekannten, wenn auch brilliant fotografierten Ästhetik folgt, aber auch hier durch ihre »Sprachlosigkeit« einen Raum der Verunsicherung schafft. Gepaart mit der indirekten Forderung des Films, die Gebärdendialoge in gesprochene Dialoge der eigenen Sprache zu »übersetzen«, schafft Slaboshpytskiy damit ein gewaltiges, überragendes Bildnis für fast jede Parallelwelt unserer gegenwärtigen Gesellschaften: wir wissen, dass sie da sind, uns beeinflussen und glauben sie zu verstehen, können uns ihrer aber nie ganz sicher sein.
The Tribe teilt sich allerdings mit seinen innovativen und sozialrealistischen Ansätzen ein Schicksal, dass in den letzten Jahren vor allem dem neuen rumänischen Film eines Cristian Mungius (4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage) oder Călin Peter Netzer (Mutter & Sohn) widerfahren ist, die mit ihren gnadenlosen Beobachtungen gesellschaftlicher Verwerfungen, international zwar erfolgreich waren, in der Filmrezeption im eigenen Land jedoch kaum eine Rolle spielen. Auch The Tribe wird bei Filmenthusiasten in der Ukraine geschätzt, aus den ukrainischen Kinos verschwand er jedoch sehr schnell wieder. Auch die Filmförderung hat angesichts der durch den Krieg mit Russland schleifenden Wirtschaft wieder an Fahrt verloren. In den verwaisten Filmstudios von Odessa etwa spürt man von der Euphorie der Maidan-Zeit kaum mehr etwas – das einzige, was momentan noch geht, sind preiswerte, fürs Fernsehen produzierte Soap-Operas.
Es beginnt mit einer Idylle. Ein Kinderheim. Man kümmert sich hier um taubstumme Kinder und Jugendliche. Diese Heiminsassen, wie die Lehrer und Erzieher kommunizieren miteinander durch Gebärdensprache. Insofern bietet dieser Film von Anfang an eine außerordentlich ungewöhnliche, zugleich faszinierende Erfahrung: Es wird viel passieren, aber bis zum Ende wird kein einziges Wort gesprochen werden.
Das ist kein Grund vor diesem Film zurückzuschrecken. Sehr schnell findet man sich zurecht. Man hört Geräusche, Atmosphärisches, und schnell wird man sensibel für die kleinsten Nuancen. Man wird um so aufmerksamer für andere Sinneswahrnehmungen, für das, was doch zu hören ist, und vor allem für das, was man sieht. Gewissermaßen lernt der Zuschauer hier Hören und Sehen neu.
Die Welt dieses Kinderheims ist ein in sich geschlossenes Universum, ein Kosmos mit vollkommen eigenen Gesetzen, Ritualen, und natürlich auch mit Geheimnissen.
Wir lernen sie – wie fast immer im Genre des Institutionenfilms, des Internats- oder Schulfilms, wie auch noch bei »Harry Potter« – durch einen Neuankömmling kennen.
Es ist Sergej, der sein neues Schuljahr beginnt. Ziemlich schnell wird klar, dass er etwas Besonderes ist, anders als die anderen. Denn er wird von seinen Mitschülern gezwungen sich komplett auszuziehen. Sie beschnuppern ihn regelrecht, befühlen ihn, suchen seinen hellhäutigen Körper nach Tätowierungen ab – dem Identitätscode des postsowjetischen Lagersystems.
Sehr schnell ist klar: Dieses Kinderheim ist kein Ort des friedlichen Rückzugs vor der Welt, des Zusammenhalts. Es ist vielmehr ein Spiegel der Welt da Draussen und somit ein Platz der Gewalt. Sergej ist in einer Hölle gelandet und für ihn beginnt ein Kampf ums nackte Überleben.
Die Ukraine ist weitgehend ein weißer Fleck auf der Landkarte des Kinos. Kultur, vor allem das populäre Medium Kino, ist in einem solchen Land, das seine nationale und territoriale Identität noch nicht gefunden hat, das wichtigste Mittel der Selbsterkenntnis und -bestimmung. Bisher war das ukrainische Kino vor allem durch einen Mann charakterisiert: Sergei Paradshanov (1924-1990), dessen 1964 entstandenes Werk Feuerpferde genauso wie Die Farbe des Granatapfels (1968) zu den herausragenden Werken des sowjetischen Kinos der Ära Breschnew gehört. Seit dem Sturz des ukrainischen Diktators Viktor Janukowytsch im Februar 2014 betritt eine neue Generation ukrainischer Filmemacher das internationale Rampenlicht. Zu ihr gehört der Filmemacher Oleg Sentsov, der sich seit über einem Jahr in Moskau in Haft befindet, weil er angeblich einen Terroranschlag geplant habe. Vor allem aber Myroslav Slaboshpytskiy. Der 1974 in Kiew geborene Regisseur machte in den letzten Jahren bereits durch einige preisgekrönte Kurzfilme auf sich aufmerksam. Sein erster Spielfilm The Tribe (auf deutsch »Der Stamm«) war der erste ukrainische Spielfilm, der jemals bei den Filmfestspielen von Cannes gezeigt wurde – im Mai 2014 kurz nach Janukowytsch' Abgang. Mit diesem Werk, ausgerechnet einem Film, in dem kein einziges Wort gesprochen wird, ist er jetzt zur Stimme seines jungen Landes geworden.
Slaboshpytskiy präsentiert uns in The Tribe ein Dante'sches Inferno, den Rückfall einer Menschengruppe, die mit ihrer Sprache auch vieler zivilisatorischer Minima beraubt scheint, in archaische Zustände.
Denn das Kinderheim ist vollkommen kriminell, Menschenhandel und Missbrauch verschiedenster Ausprägung sind an der Tagesordnung.
Brutalität und Anarchie sind hier allgegenwärtig. Umgekehrt gibt es kaum einmal Liebe oder Zärtlichkeit
zwischen den Figuren – die übrigens durchweg von Laien gespielt werden, die tatsächlich taubstumm sind.
Auch Film-Held Sergej bleibt auf Distanz. Wie der »reine Tor« mittelalterlicher Mythologien durchläuft Sergej eine Heldenreise durch verschiedene Stadien.
Es ist ein Passionsweg, in dessen Verlauf er zahlreiche Prüfungen und Kämpfe zu bestehen hat, durch die er reift und sich bewährt. Doch Erleichterung bleibt aus. Hinter jeder überwundenen Herausforderung lauert nur noch eine neue, noch härtere Prüfung.
Verstärkt wird dieser Eindruck eines Stationendramas noch dadurch, dass der Film in überaus minimalistischer Ästhetik, und in nur etwas mehr als zwei Dutzend Kamera-Einstellungen erzählt wird.
Man kann The Tribe mit guten Argumenten einiges vorwerfen. Man kann anmerken, dass er die Behinderung seiner Figuren ausstellt. Man kann es prätentiös finden, wie hier auf jedes Wort verzichtet wird, dass auch die sprechenden Personen keinen Laut von sich geben, und dass die Gebärdensprache von den Filmemachern nicht untertitelt wird, wie dies bei jeder anderen Fremdsprache der Fall wäre. Und man kann keinem, der den Film als Exploitation sieht, widersprechen.
Doch zugleich ist The Tribe auch im guten Sinne eine Herausforderung: Beängstigend und grausam, dabei elegisch erzählt ist dies ein überaus ungewöhnliches, jederzeit fastinierendes Stück Kino – das uns im Übrigen daran erinnert, dass es sich originär um ein visuelles Medium handelt. Ein Bild sagt hier tatsächlich mehr als tausend Worte, Sprache ist Schall und Rauch...