Frankreich 2021 · 106 min. · FSK: ab 16 Regie: Jacques Audiard Drehbuch: Céline Sciamma, Léa Mysius, Jacques Audiard Kamera: Paul Guilhaume Darsteller: Lucie Zhang, Makita Samba, Noémie Merlant, Jehnny Beth, Geneviève Doang u.a. |
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Vielfalt nicht nur als Schwarz und Weiß, sondern eben vielfältig... | ||
(Foto: NEUE VISIONEN) |
Émilie, eine in China geborene Uni-Absolventin, arbeitet in einem Callcenter. Sie sucht einen Mitbewohner für ihr Appartement. So tritt Camille, ein charmanter Uni-Dozent in ihr Leben. In kürzester Zeit entwickeln Émilie und Camille eine verworrene, undefinierte Beziehung. Nora, ebenfalls Anfang dreißig, versucht derweil, sich als vergleichsweise »alte« Studentin in die Universitätsgemeinschaft einzufügen. Doch sie wird zum Opfer einer Verwechslung mit einem Porno-Star und damit des moralischen Puritanismus der braven Bürgerkinder. Im Verlauf des Films verbinden sich diese drei Schicksale.
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Der französische Regisseur Jacques Audiard (der in diesem Monat auch schon 70 Jahre alt wird) hat nie einen Hehl daraus gemacht, wie sehr sein Kino Diversitäten und gesellschaftliche Minderheiten schätzt. 2015 gewann er in Cannes überraschend die Goldene Palme für sein forciertes Einwanderungsdrama Dheepan. Seine bekanntesten und besseren Filme sind dagegen De battre mon coeur, Un prophète und Der Geschmack von Rost und Knochen.
Mit fast 70 hat Audiard nichts mehr zu beweisen. In seinem neuen Film Les Olympiades führt er uns in ein neues modernes Paris. Dort bringt der Regisseur drei sehr unterschiedliche Figuren zusammen und verwickelt sie in ein komplexes Abenteuer aus Liebe, Sex, Enttäuschung und Lebenswendepunkten.
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Audiards neuer Film ist einerseits das, was man als »typischen Paris-Film« bezeichnen könnte: Sinnlich, ekstatisch, musikalisch, dabei durchaus mit den äußerlichen Reizen dieser einmaligen Metropole spielend.
Doch andererseits ist es ein neues Paris, das Audiard hier zeigt, ein Paris abseits der touristischen Attraktionen: Der Schauplatz ist das 13. Arrondissement, von den Parisern Les Olympiades genannt – wie auch der Originaltitel
des Films lautet, den man aber in andere Sprachen nicht verständlich übersetzen kann. Es ist ein junger, multikultureller Ort, bewohnt einerseits von den aufstrebenden jungen Mittelschichten, andererseits von Studenten der nahen Uni und jüngeren Menschen, die nicht so viel Geld haben, und insbesondere auch mit einem sehr hohen Anteil nicht-weißer, zum Teil migrantischer Bevölkerung.
Der deutsche Titel Wo in Paris die Sonne aufgeht mag Zuschauern einen Wohlfühlfilmabend versprechen, wird aber diesem Film in seiner Modernität nicht gerecht. Denn Audiards Film ist Hommage und zugleich Konkretisierung eines neuen Ortes, die einhergeht mit dessen Eroberung durch neue Bevölkerungsschichten und Kulturen, durch sogenannte Minderheiten, deren Leben hier aber weit weg ist von den üblichen Klischees der Geschichten von Opfern, Verlusten und sozialem Scheitern.
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Das Drehbuch, das von den selbst als Regisseurinnen bekannten Céline Sciamma und Léa Mysius mitverfasst wurde, baut ein Trio von Figuren auf, die glaubwürdig, kohärent und so gut geerdet sind, dass man sie sofort versteht, sie zu kennen glaubt und vor allem mag. Die drei Figuren im Mittelpunkt des Films werden gleichberechtigt eingeführt, jeweils mit eigenen Geschichten, die der Film dann zusammenführt zu einem furiosen Finale.
Die drei sind Millennials, Generation Y. Die jungen Menschen in den Zwanzigern und Dreißigern haben bis vor wenigen Wochen keinen Krieg und keine Weltrevolution in eigener Anschauung erlebt, aber die Gesellschaft hat ohne diese »belastenden« Umstände eine Menge Erwartungen geschaffen, unter denen diese übersensible Generation kaum atmen kann. Die fast obligatorische Teilnahme an der Universität, die Zwickmühle von Haus- und Studiendarlehen, die Übermacht der Informationsgesellschaft, das alltägliche Auf-den-Strich-Gehen in den sozialen Medien – all das dressiert und formatiert diese Generation ihrer vermeintlichen Konsum-Feindlichkeit zum Trotz zum »Konsumieren, um konsumiert zu werden!«
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Dieser Film ist auf eine ganz eigenwillige Weise auch eine Neuinterpretation dessen, was vor 60 Jahren François Truffaut, Jean-Luc Godard, Agnes Varda und andere vorgemacht und vorgedacht haben: Die Verbindung von ganz alltäglichem dokumentarischem Blick und außer-alltäglicher Leidenschaft.
Er ironisiert dabei diese Bewegung nicht, er romantisiert sie und schreibt ihre Chronik fort – darin auch Philippe Garrel vergleichbar. Die Figuren verhalten sich auch
tatsächlich wie in einem Nouvelle Vague-Film: Sie lieben und verlieben sich, debattieren über diese Liebe, lieben sich wieder oder ändern ihre Liebe, sind schockiert über Erlebnisse und verlieren dabei nie die Tatsache aus den Augen, dass das Leben für die meisten Menschen auf der Welt in anderen Bahnen verläuft.
Zugleich ist hier klar: Man bezahlt die Miete nicht mit Liebe; deswegen lässt der Film seine Figuren nicht von den praktischen Alltagsproblemen loskommen, die das moderne Leben durchschnittlichen Menschen in Wohlstandsgesellschaften bietet.
Voller Sympathie für Empfindlichkeiten und Überempfindlichkeiten weist Audiard darauf hin, dass jeder Mensch ein zerbrechliches Wesen ist, das immer aufs Neue in existenziellen Zweifeln steckt und versucht, sie durch Sex, besser
noch Intimität zu ersticken. Wie kurz und flüchtig sie auch sein mag.
Vor allem aber ist dies ein Film, der behauptet, dass die vielkommentierten Millennials sich trotz der ganzen künstlichen Konsumkultur ihres Alltags letztlich nach anderen, vermeintlich echteren Verbindungen sehnen. Dass auch die Echtheit ihre Abgründe hat, ist eine andere Geschichte. Nehmen wir diese Behauptung einmal als Möglichkeit hin. In eindrucksvollem Schwarz-Weiß fotografiert, gießt der Film den Zeitgeist junger Menschen in eine leidenschaftliche Geschichte.
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Der romantische Raum als der klassische Raum des Kinos ist auch ein Feld von Möglichkeiten für das Nicht-Hegemonische. Diese nutzt Audiard allerdings für eine – durchaus ironische – Absage an das modische Diversitätstheater. Denn die Hautfarben und Herkünfte der Figuren werden selten thematisiert und nie problematisiert. Das Schwarz-Weiß-Material hilft dabei, die Farben gewissermaßen auszublenden und Farbdifferenzen farblich zu entsättigen.
Daneben zeigt hier ein Film endlich einmal Vielfalt nicht nur als Schwarz und Weiß, sondern eben vielfältig. Er erzählt von anderen Hautfarben in der bunten Gegenwartsgesellschaft. Und endlich einmal hat ein europäischer Film eine aus Asien stammende Figur als Hauptfigur. Diese Chinesin Émilie ist die interessanteste und komplexeste Figur in diesem Film.
Ein einziges Bild knallt in Farbe hinein in diesen Film im Nouvelle-Vague-Schwarzweiß. Es ist ein Bild aus dem Internet, eine Webcam produziert es. Eine Frau in blonder Perücke öffnet lasziv ihren rotgeschminkten Mund. Ihre Augen, ihre Körperbewegungen sagen: Du machst mich an, ich will dich.
Wir lernen hier Amber Sweet kennen, die als käufliche Web-Hostesse einem Studenten zum Geburtstag geschenkt wird – eines dieser machohaften Geschenke, das auch ein aus der Torte springendes Bunny sein könnte. Die französische Performerin und Sängerin Jehnny Beth spielt diese neue Schaumgeborene. Über eine Verwechslung (Perücke) wird sie in die Handlung hineingezogen, gelangt aber erst spät auf die erste Ebene des Films, wenn sie am Ende aus ihrem Webspace heraustritt. Und fast schon märchenhaft aus ihrer Existenz hinter der Glasscheibe küssend befreit wird.
Eine andere – Gender- – Verwechslung bringt die Handlung überhaupt erst in Gang. Die junge Emilie sucht eine Mitbewohnerin. Die Wohnung ihrer Oma ist ihr zu groß, außerdem braucht sie Geld, um ihren verhassten Callcenter-Job aufzubessern. Ein attraktiver Mann klingelt bei ihr, sein Name ist Camille, was gemeinhin ein weiblicher Vorname ist. Emilie will ihn zuerst nicht reinlassen, sie wollte schließlich eine weibliche Mitbewohnerin. Ein paar Filmminuten später aber sind sie nicht nur das, Mitbewohner, sondern sogar Sexpartner, die das alles locker und unverbindlich halten wollen. Locker zu nehmende Sexbeziehungen führen meist unweigerlich zu Komplikationen, zumal wenn man zusammenwohnt und der eine die andere irgendwann aus dem Bett schmeißt. Und, ach ja: Camille Germain ist ein schwarzer Charmeur, der alle Frauen herumkriegt, Makita Samba spielt ihn, und Emilie kommt aus einer chinesischen Einwandererfamilie. Lucie Zhang verkörpert sie mit der großstädtischen Unverfrorenheit arbeitsloser Uni-Absolvent*innen, ihre chinesische Herkunft gibt Anlass für eine schöne Dolmetscherszene und für einen neuen Job im China-Restaurant. Sonst aber wird die Herkunft oder Hautfarbe nicht thematisiert oder gar problematisiert.
Les Olympiades, Paris 13e heißt dieser neue, problembefreite Film von Jacques Audiard, auf deutsch: Wo in Paris die Sonne aufgeht. Der französische Titel spielt an auf die gleichnamige Siebzigerjahre-Siedlung im 13. Pariser Arrondissement mit urbanen Strukturen, Einkaufszentren, Callcentern, Hochhäusern, wo viele, viele Menschen wohnen. Immer wieder fliegt die Kamera drohnenhaft auf die Gebäude zu, zeigt die Menschen in ihren Wohn-Waben. »Les Olympiades« ist das asiatische Viertel von Paris, hier wohnen mehrheitlich chinesische Einwohner.
Wenn auch die Rassenfrage in der ersten handlungsstarken Szene keine Rolle spielt, so werden doch mit dem Misreading des Namens, der keinen Rückschluss auf das Geschlecht zulässt (she, he, their?), die Geschlechterverhältnisse in Unordnung gebracht. Wenn auch dieses Verwirrspiel im weiteren eher als klassischer Liebeskampf ausgetragen wird denn als Genderfrage.
Auffällig ist, wie ungewohnt und jung der neue Film des bald siebzigjährigen Audiard wirkt, der bekannt ist für Filme, die, wenn sie nicht im Gangstermilieu spielen, dieses doch touchieren. Ein Prophet (2009), mit dem Audiard auch in Deutschland einem breiten Publikum bekannt wurde, ist ein knallharter Syndikats-Gefängnisfilm, der auch vor brutaler Gewalt nicht zurückschreckt. Am meisten erinnert Les Olympiades, zumindest wegen seines Schauplatzes, noch an Dheepan, einen Gangsterfilm im Migrantenmilieu. Mit ihm gewann Audiard 2015 die Goldene Palme in Cannes, nicht alle sind mit dem sozialrealistischen Anstrich des Films glücklich. So einen Film wie Les Olympiades, in dem es nicht einmal unter den chinesischen Einwanderern Mafia-Strukturen gibt, nur einmal einen kräftigen Fausthieb auf offener Straße zwischen zwei Frauen, und sich noch nicht einmal im Webcam-Sex-Business Prostitutions- oder gar Zuhälterstrukturen finden lassen – so einen Film hätte man von Audiard nicht erwartet.
Vermutlich muss man den Film viel stärker als Gemeinschaftsarbeit zwischen drei Persönlichkeiten des französischen Filmschaffens sehen, zu dem es auch eine Vorlage gibt: drei Graphic Novels des New Yorker Adrian Tomine. Das Drehbuch, das seine Geschichten zu zusammenhängenden Episoden verwebt, stammt aus der Feder von Céline Sciamma, die mit Bande de filles 2014 bereits einen von Frauen getragenen Banlieue-Film geschrieben und realisiert hat, und von Léa Mysius, die in ihrem Debütfilm Ava (2017) ebenfalls eine (jugendliche) weibliche Figur ins Zentrum stellt. Sciamma und Mysius haben beide auch Akteur*innen in den Film involviert, mit denen sie selbst zusammenarbeiten: Der Kameramann Paul Guilhaume kommt von Mysius, Sciamma hat eine Hauptdarstellerin aus Porträt einer jungen Frau in Flammen mitgebracht: Noémie Merlant. Sie spielt die Vierte im Bund dieses Liebesreigens, der sich in Les Olympiades auftut, und sie ist auch diejenige, die eine Kommilitonin auf offener Straße niederschlägt. Jacques Audiard hat als Regisseur seine Stammeditorin Juliette Welfing mitgebracht und sich damit den Director’s Cut gesichert, nachdem die anderen ihre Arbeit schon getan haben. Dass sich Audiard also als Regisseur an die Spitze dieses Autor*innen-Films setzt, scheint mehr einer Produktionskonvention als den wahren kreativen Verhältnissen zu entsprechen.
Audiard/Sciamma/Mysius zeigen die Figuren in Les Olympiades als völlig in ihrem natürlichen Kontext aufgegangen, auch das ist bemerkenswert. Wie in Barry Jenkins' frühen Filmen, die einfach »nur« im Milieu spielen, wird in Les Olympiades die Herkunftsfrage oder Hautfarbe nicht thematisiert, auch die beiden weißen Figuren, Amber Sweet und Nora, werden nicht als Weiße oder gar »Bio-Französinnen« herausgestellt. Alle sind einfach da und bevölkern zusammen »Les Olympiades«. Über alle Rassen- und Sozialfragen hinweg wird jedoch das Geschlechterverhältnis ausgespielt. Dies in der komödiantischen Tonlage gekonnt-schlagfertiger Dialoge, die sich vor allem Lucie Zhang (Emilie) und Makita Samba (Camille) als scharf angeschnittenen Screwball zuspielen.
Wenn Camille Emilie ziemlich bald nach dem Beginn ihrer Sexbeziehung aus seinem Bett entfernt und sie wiederum später seine Geliebte aus der WG befördert, Emilie dann zuerst Camille nachtrauert, er ihr dann hinterherrennt, dann aber eine andere Liebschaft hat, mit Nora, die ihn aber abserviert, weil sie sich wiederum im Webspace verliert – dann wähnt man sich in einer doppelten Liebeskomödie vom Schlage Marivaux', und die zugespitzten Zungen der Figuren erscheinen einem als meisterlicher Marivaudage – der Film ist ein »Spiel von Liebe und Zufall«, wie auch eine der Komödien von Molières Nachfolger Pierre Chamblain de Marivaux lautet.
Denn ohne Verwechslungen und zufälliges Aufeinandertreffen gäbe es hier auch keinen Liebesreigen. Am Ende wird Camille, der Macho mit dem weiblichen Vornamen, besiegt sein, wenn er sich wie bei Marivaux zu seinem Verliebtsein bekennt und seinen »aveu«, das klassische Liebesgeständnis, in die Gegensprechanlage brüllt. Nora und Amber Sweet werden erkannt haben, dass ihnen zu ihrem Glück kein Mann mehr fehlt. So triumphiert dann am Ende das weibliche Prinzip – und womöglich die weibllichen Drehbuchschreiberinnen über die alte Schule Audiards.