Cinema Moralia – Folge 5
Am Morgen kommen Schulklassen |
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Filmkunst aus dem Norden: Reprise | ||
(Foto: MFA+ FilmDistributio) |
»Norwegen! Wo liegt das Land überhaupt? Und wieviel Einwohner haben die? Vor allem: Wieviel mehr hat Deutschland und macht trotzdem nicht so gute Filme?« Immer noch ganz baff ist ein Freund nach dem Besuch von Reprise . Wie wir heute erfahren, läuft dieser erstaunlich gute norwegische Debütfilm recht erfolgreich, und in den nächsten Wochen in allerlei weiteren Städten, u.a. Köln, Bonn, Dresden, Leipzig, Mannheim… Also reingehen! Denn die Zusatzfrage ist berechtigt: Warum macht kein deutscher Filmhochschüler solch' einen Film?
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Kleiner Augenzeugenbericht von der Premiere von Robert Thalheims Am Ende kommen Touristen: »Man kann offenbar bei uns nur noch Filme machen, die auf irgendeinem Ticket fahren.« Vor dem Film habe es lange Reden gegeben, über Schuld und Sühne, wie wichtig der Film sein, und die Erinnerung an Auschwitz…, von unzweifelhaften Moral- aber zweifelhaften Filmexperten, wie
Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. Unser Gewährsmann berichtet, er sei auf seinem Stuhl hin und hergerutscht, und habe sich gefragt »Kann ich mal den Film als Film sehen?« Der sei dann nämlich »gut impressionistisch« gewesen. Aber den Film als Film sehen, kann man offenbar nicht, Film bei uns werden Filme entweder als »reine« Unterhaltung wahrgenommen, oder als moralische Anstalt. Wenn sie ästhetische Herausforderung sein wollen, stehen sie unter dem doppelten Verdacht
der Gesinnungslosigkeit und der intellektuellen Überforderung. Siehe das anschwellende Kritikergemäkel zur sogenannten »Berliner Schule«.
Thalheims Film funktioniert eindeutig über das Label »Moral«. Ein Film für die Gedenkveranstaltungen am Abend, der genau als Beispiel für das funktioniert, was der Film selbst anprangert. Und am Morgen kommen Schulklassen.
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Eine interessante, bemerkenswerte Mail erreicht mich aus Hamburg, von Studenten der dortigen Filmhochschule HFBK. Ein Auszug: »Schade, aber die letzte deutsche Bastion der Filmkunst, wenn man so will, fällt. Hört sich stark überdramatisiert an, aber so ist es tatsächlich … Neue, junge, ehrgeizige Lehrkörper übernehmen das Ruder und das unter der Fahne des 'wie entspreche ich den Regeln des Filmemachens?' Regeln also ganz, ganz wichtig. … die stampfen gerade ein, was charakteristisch und immanent war. Auf zu neuen Ufern, auf zur Effizienz!« Nur eine Meinungsäußerung – vielleicht noch andere an unsere Mailadresse –, kommt einem aber leider sehr bekannt vor.
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Die weitaus wichtigste und fesselndste Frage der Woche kommt aber aus den Niederlanden, von Dana, die Redakteurin bei der hervorragenden Filmzeitschrift »Filmkrant« arbeitet. Sie fragt mich nach meiner Ansicht in der »Bergman-Antonioni-Debatte«. Damit meint sie das merkwürdige Phänomen, dass sich durch den Tod der beiden Regisseure am gleichen Tag offenbar viele berufen fühlen, zu wählen, zu entscheiden welcher der beiden »besser« ist – was natürlich ein hanebüchener Unsinn ist, aber auch ein schöner Quatsch, der Spaß macht. »Blimey, I’m not a big Bergman fan, but somehow it seems so EASY that everyone is all in favour of Antonioni all of a sudden. In fact I hate the whole idea that everyone feels like they have to choose, just because they died on the same day... Is that a topic at all in Germany?« Die letzte Frage muss man wohl verneinen. Schade eigentlich.
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Während manche (etwa Ulrich Mannes bei Siggi Goetz Entertainment) ja offenkundig glauben, dass Bergman zu gut wegkommt in den deutschen Feuilletions, scheint mir eine unterschiedliche Grundwahrnehmung des A’s und des B’s des Kinos beobachtbar: Obwohl Bergman der Jüngere war, war er zu Lebzeiten zuletzt weitaus toter, als Antonioni. Für die heute unter 45-jährigen ist Bergman nur noch eine vage Idee aus ihrer Kindheit. Es gab in den 70ern dieses Images eines »typischen
Bergman-Films«: todernst, moralisierend, skandalös, (nur) ein Intellektuellenliebling, einer der einem vor allem ein schlechtes Gewissen macht. Der einzige Film, an den ich mich aus meiner Kindheit erinnere, ist Szenen einer Ehe (Nicht, dass ich den damals sehen durfte, klar, aber ich kannte Bilder, Zeitungsartikel darüber, zumindest Titel. Und ich wußte: »Skandalfilm«, und »Bergman«; es
war in dieser ICESTORM-Kindheit ein richtiger Zeitgeist-Film. Dann erinnere ich mich an den Titel Von Angesicht zu Angesicht, toller Titel. So redet man nicht, außer in Bergman-Filmen, aber so eine tolle Mischung aus Ernst und Poesie, dass man sofort Schuldgefühle bekommt.
Dann im Fernsehen Fanny und
Alexander, den ich sehr mochte und weiterhin mag. Ähnlich Wilde Erdbeeren, der einzige wirklich brillante Film (als Film), den ich von Bergman kenne.
Aber nie hat es »klick!« gemacht. Ich sah ab und zu etwas von ihm, eher als Pflichtübung, wie Das Schweigen, und voll unklarer diffuser Sehnsucht nach
einer verlorenen Zeit Die Zeit mit Monika. Ich sah nie eine Retrospektive, nie das komplette Werk. Das muss wohl auch bedeuten, dass es mich nicht wirklich interessiert hat.
Der Bergman-Effekt erscheint mir jedenfalls ein Generations-Ding zu sein. Und es ist dies mehr ein Effekt der Themen und Geschichten, als das Resultat eines brillanten oder innovativen oder wenigstens originellen
Filmemachens.)
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Immerhin ist das Gute an der Überkreuzung dieser Tode, dass sie sich gegenseitig inden Schatten stellten. Also weniger Nachrufhudelei, plötzlich Unübersichtlichkeit vor lauter Filmgeschichtsgedenken. Und aus meiner Sicht tötete Antonioni ein wenig die Konzentration auf die übrigen Toten. Er könnte darüber lächeln, falls er kann…
Die eigentliche »Debatte« die wurde dann am 4 August ausgelöst durch einen despektierlichen Text, der deutlich am Denkmal Bergman
rüttelt: Jonathan Rosenbaum in der New York Times [»Scenes From An Overrated Career«, 4. August 2007]. Interessant, dass Ulrich Mannes bei Siggi Goetz unter dem hübschen Titel »Bergmantonioni« am gleichen Tag zum gleichen Ergebnis kommt – in weitaus weniger Worten. Dann eine unwesentliche Antwort von Roger Ebert, und eine wesentliche von David Bordwell. Und dann wieder
Rosenbaum. Und Tavernier.
Wer Zeit hat: Es lohnt sich, zu lesen.
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Nachtrag zu Francois Ozons Angel: Wenn einem Kritiker bei »Melodram« gar nichts einfällt, dann fällt ihm bestimmt Douglas Sirk ein. Und es war abzusehen, dass Sirk jetzt wieder bemüht werden würde, wo es darum ging, diesen blöden Kitsch trotz allem zu rechtfertigen, weil man eben den Regisseur mag.
Bemühen wir dagegen einmal Friedrich Nietzsche. Der hatte ja einst in Bezug auf die alten
Griechen die schöne Formulierung von der Oberflächlichkeit aus Tiefe geprägt. In Nietzsches Kategorien ist Ozon allerdings weder Grieche, noch Wagner, sondern nur überspannt, etwas zu stark parfümierter Pariser Salon.
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In Locarno berichtetet ein spanischer Kollege, Chris Kraus' Vier Minuten werde dort vermarktet als »the new hit from Germany« nach Das Leben der Anderen. Na dann…
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Und eine deutsche Produzentin sagt an gleicher Stelle zur Begründung, auf meine entsetzte Frage, warum sie immer noch für teures Geld »Blickpunkt Film« abonniert hat: »Man muss immer wissen, was der Klassenfeind denkt.« Tatsächlich endlich mal ein guter, einleuchtender Grund.
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Es gibt aber auch gute Nachrichten vom deutschen Kino: Kurz vor Jahresende kommt endlich beim X-Verleih die wunderbar gelungene zweite Regiearbeit von Nicolette Krebitz ins Kino: Das Herz ist ein dunkler Wald, in dem einmal mehr Nina Hoss die Hauptrolle spielt. Deutscher Autorenfilm trifft Seventies-Horrorkino trifft Medea, mehr verraten wir jetzt nicht. Hier ein Vorgeschmack.
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In Frankfurt konnte man sich im Deutschen Filmmuseum am letzten Wochenende die neue Remastered-Fassung von Fassbinders Berlin Alexanderplatz reinziehen, auf die wir vor ein paar Wochen an dieser Stelle schon hingewiesen hatten. Das Zugeständnis an den Zeitgeist war folgender Zusatz der Pressemitteilung: »Auch kulinarisch bietet das Fassbinder-Wochenende eine Besonderheit: Das Café Filmmuseum serviert Krautwickel, das Leibgericht des Regisseurs, nach einem Originalrezept mit Berliner Weiße und weiteren Spezialitäten.«
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Dass die Leute nicht richtig hingucken, und wohl auch glauben, sie müssten das nicht, bewiesen die ersten Texte über DIE HARD 4.0. Zum Beispiel in der FR hieß es, es »fliegt auch das Weiße Haus auseinander«. Auch woanders: »Sogar das Weiße Haus stürzt ein.« Ist aber nicht das Weiße Haus. Ist der US-Kongreß. Das wird im Film auch gesagt. Der Unterschied ist der zwischen Kanzleramt und Bundestag. Zwischen Exekutive und Legislative. Aber der schert ja auch sonst in Deutschland keinen. Immerhin hat die FR gemerkt, dass alles nur ein Fake war.
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Das Werkstattkino zeigt in einer hübschen Sommerreihe »Liebesfilme«. Den Auftakt macht morgen (Donnerstag) ein Film mit dem treffenden Titel Lies – Lust und Lügen, vom Koreaner Jang Sun-Woo. Und wir können es kaum noch erwarten, so wie das WK den Film anpreist: »Der Film lotet die destruktive Macht der Liebe schonungslos aus, und durfte in Korea nicht gezeigt werden.« Sonst läuft
dann so allerlei zum Thema, Oshimas Im Reich der Sinne darf da natürlich ebenso wenig fehlen, wie der seltene Je t'aime … moi non plus von Serge Gainsbourg, Mein Stern von Valeska Grisebach (»Alles nicht so einfach« schreibts WK) neben Seidls Tierische Liebe. Und am Ende Berlin Chamissoplatz von Thomé, der wahrscheinlich schönste Liebesfilm des Neuen Deutschen Kinos. Dazu Norbert Jochum: »Man verliebt sich; das ist keine Entscheidung, sondern ein Ereignis. Ein Blick. Eine Geste. Eine Bewegung. Wie sie die Haare zurückwirft. Wie er sich die Zigarette
anzündet. Wie sie bestimmte Wörter ausspricht. Man verliebt sich, da überlegt man nicht. Später beginnt dann eine andere Wirklichkeit. Der Mann ist 43, die Frau 24. Der Mann ist Architekt, die Frau studiert Soziologie. Der Mann arbeitet an einem Sanierungsprojekt, die Frau engagiert sich dagegen. Der Mann verliebt sich in die Frau, die Frau verliebt sich in den Mann, das kann man sehen, bevor beide es wissen.«
Wir können das leider nicht mehr sehen, sondern sind nächste Woche in
Venedig, da gibt’s dann wieder ein Tagebuch.
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Frage zum Abschluß: Das Filmfest München sagt von sich, es sei das »zweitgrößte«. Aber nach welchen Kriterien? Man habe 65.000 Zuschauer gehabt, meldet das Filmfest. Bei 240 Filmen und je zwei Vorstellungen pro Film sind das 135,4 also meinetwegen 136 Zuschauer pro Film. Und das in einer Stadt mit 1,6 Millionen Einwohnern, das Umland nicht eingerechnet. Ist das jetzt gut, oder schlecht? Andere Festivals haben jedenfalls einen Schnitt von über 300.
Rüdiger Suchsland