23.08.2007
Cinema Moralia – Folge 5

Am Morgen kommen Schulklassen

REPRISE
Filmkunst aus dem Norden: Reprise
(Foto: MFA+ FilmDistributio)

Krautwickel, das A und das B des Kinos und was der Klassenfeind denkt, Folge 5

Von Rüdiger Suchsland

»Norwegen! Wo liegt das Land überhaupt? Und wieviel Einwohner haben die? Vor allem: Wieviel mehr hat Deutsch­land und macht trotzdem nicht so gute Filme?« Immer noch ganz baff ist ein Freund nach dem Besuch von Reprise . Wie wir heute erfahren, läuft dieser erstaun­lich gute norwe­gi­sche Debütfilm recht erfolg­reich, und in den nächsten Wochen in allerlei weiteren Städten, u.a. Köln, Bonn, Dresden, Leipzig, Mannheim… Also reingehen! Denn die Zusatz­frage ist berech­tigt: Warum macht kein deutscher Film­hoch­schüler solch' einen Film?

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Kleiner Augen­zeu­gen­be­richt von der Premiere von Robert Thalheims Am Ende kommen Touristen: »Man kann offenbar bei uns nur noch Filme machen, die auf irgend­einem Ticket fahren.« Vor dem Film habe es lange Reden gegeben, über Schuld und Sühne, wie wichtig der Film sein, und die Erin­ne­rung an Auschwitz…, von unzwei­fel­haften Moral- aber zwei­fel­haften Film­ex­perten, wie Ex-Bundes­tags­prä­si­dent Wolfgang Thierse. Unser Gewährs­mann berichtet, er sei auf seinem Stuhl hin und herge­rutscht, und habe sich gefragt »Kann ich mal den Film als Film sehen?« Der sei dann nämlich »gut impres­sio­nis­tisch« gewesen. Aber den Film als Film sehen, kann man offenbar nicht, Film bei uns werden Filme entweder als »reine« Unter­hal­tung wahr­ge­nommen, oder als mora­li­sche Anstalt. Wenn sie ästhe­ti­sche Heraus­for­de­rung sein wollen, stehen sie unter dem doppelten Verdacht der Gesin­nungs­lo­sig­keit und der intel­lek­tu­ellen Über­for­de­rung. Siehe das anschwel­lende Kriti­ker­ge­mäkel zur soge­nannten »Berliner Schule«.
Thalheims Film funk­tio­niert eindeutig über das Label »Moral«. Ein Film für die Gedenk­ver­an­stal­tungen am Abend, der genau als Beispiel für das funk­tio­niert, was der Film selbst anpran­gert. Und am Morgen kommen Schul­klassen.

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Eine inter­es­sante, bemer­kens­werte Mail erreicht mich aus Hamburg, von Studenten der dortigen Film­hoch­schule HFBK. Ein Auszug: »Schade, aber die letzte deutsche Bastion der Filmkunst, wenn man so will, fällt. Hört sich stark über­dra­ma­ti­siert an, aber so ist es tatsäch­lich … Neue, junge, ehrgei­zige Lehr­körper über­nehmen das Ruder und das unter der Fahne des 'wie entspreche ich den Regeln des Filme­ma­chens?' Regeln also ganz, ganz wichtig. … die stampfen gerade ein, was charak­te­ris­tisch und immanent war. Auf zu neuen Ufern, auf zur Effizienz!« Nur eine Meinungs­äuße­rung – viel­leicht noch andere an unsere Mail­adresse –, kommt einem aber leider sehr bekannt vor.

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Die weitaus wich­tigste und fesselndste Frage der Woche kommt aber aus den Nieder­landen, von Dana, die Redak­teurin bei der hervor­ra­genden Film­zeit­schrift »Filmkrant« arbeitet. Sie fragt mich nach meiner Ansicht in der »Bergman-Antonioni-Debatte«. Damit meint sie das merk­wür­dige Phänomen, dass sich durch den Tod der beiden Regis­seure am gleichen Tag offenbar viele berufen fühlen, zu wählen, zu entscheiden welcher der beiden »besser« ist – was natürlich ein hane­büchener Unsinn ist, aber auch ein schöner Quatsch, der Spaß macht. »Blimey, I’m not a big Bergman fan, but somehow it seems so EASY that everyone is all in favour of Antonioni all of a sudden. In fact I hate the whole idea that everyone feels like they have to choose, just because they died on the same day... Is that a topic at all in Germany?« Die letzte Frage muss man wohl verneinen. Schade eigent­lich.

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Während manche (etwa Ulrich Mannes bei Siggi Goetz Enter­tain­ment) ja offen­kundig glauben, dass Bergman zu gut wegkommt in den deutschen Feuil­le­tions, scheint mir eine unter­schied­liche Grund­wahr­neh­mung des A’s und des B’s des Kinos beob­achtbar: Obwohl Bergman der Jüngere war, war er zu Lebzeiten zuletzt weitaus toter, als Antonioni. Für die heute unter 45-jährigen ist Bergman nur noch eine vage Idee aus ihrer Kindheit. Es gab in den 70ern dieses Images eines »typischen Bergman-Films«: todernst, mora­li­sie­rend, skandalös, (nur) ein Intel­lek­tu­el­len­lieb­ling, einer der einem vor allem ein schlechtes Gewissen macht. Der einzige Film, an den ich mich aus meiner Kindheit erinnere, ist Szenen einer Ehe (Nicht, dass ich den damals sehen durfte, klar, aber ich kannte Bilder, Zeitungs­ar­tikel darüber, zumindest Titel. Und ich wußte: »Skan­dal­film«, und »Bergman«; es war in dieser ICESTORM-Kindheit ein richtiger Zeitgeist-Film. Dann erinnere ich mich an den Titel Von Angesicht zu Angesicht, toller Titel. So redet man nicht, außer in Bergman-Filmen, aber so eine tolle Mischung aus Ernst und Poesie, dass man sofort Schuld­ge­fühle bekommt.
Dann im Fernsehen Fanny und Alexander, den ich sehr mochte und weiterhin mag. Ähnlich Wilde Erdbeeren, der einzige wirklich brillante Film (als Film), den ich von Bergman kenne.
Aber nie hat es »klick!« gemacht. Ich sah ab und zu etwas von ihm, eher als Pflich­tü­bung, wie Das Schweigen, und voll unklarer diffuser Sehnsucht nach einer verlo­renen Zeit Die Zeit mit Monika. Ich sah nie eine Retro­spek­tive, nie das komplette Werk. Das muss wohl auch bedeuten, dass es mich nicht wirklich inter­es­siert hat.
Der Bergman-Effekt erscheint mir jeden­falls ein Gene­ra­tions-Ding zu sein. Und es ist dies mehr ein Effekt der Themen und Geschichten, als das Resultat eines bril­lanten oder inno­va­tiven oder wenigs­tens origi­nellen Filme­ma­chens.)

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Immerhin ist das Gute an der Über­kreu­zung dieser Tode, dass sie sich gegen­seitig inden Schatten stellten. Also weniger Nach­ruf­hu­delei, plötzlich Unüber­sicht­lich­keit vor lauter Film­ge­schichts­ge­denken. Und aus meiner Sicht tötete Antonioni ein wenig die Konzen­tra­tion auf die übrigen Toten. Er könnte darüber lächeln, falls er kann…
Die eigent­liche »Debatte« die wurde dann am 4 August ausgelöst durch einen despek­tier­li­chen Text, der deutlich am Denkmal Bergman rüttelt: Jonathan Rosenbaum in der New York Times [»Scenes From An Overrated Career«, 4. August 2007]. Inter­es­sant, dass Ulrich Mannes bei Siggi Goetz unter dem hübschen Titel »Berg­man­to­nioni« am gleichen Tag zum gleichen Ergebnis kommt – in weitaus weniger Worten. Dann eine unwe­sent­liche Antwort von Roger Ebert, und eine wesent­liche von David Bordwell. Und dann wieder Rosenbaum. Und Tavernier.
Wer Zeit hat: Es lohnt sich, zu lesen.

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Nachtrag zu Francois Ozons Angel: Wenn einem Kritiker bei »Melodram« gar nichts einfällt, dann fällt ihm bestimmt Douglas Sirk ein. Und es war abzusehen, dass Sirk jetzt wieder bemüht werden würde, wo es darum ging, diesen blöden Kitsch trotz allem zu recht­fer­tigen, weil man eben den Regisseur mag.
Bemühen wir dagegen einmal Friedrich Nietzsche. Der hatte ja einst in Bezug auf die alten Griechen die schöne Formu­lie­rung von der Ober­fläch­lich­keit aus Tiefe geprägt. In Nietz­sches Kate­go­rien ist Ozon aller­dings weder Grieche, noch Wagner, sondern nur über­spannt, etwas zu stark parfü­mierter Pariser Salon.

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In Locarno berich­tetet ein spani­scher Kollege, Chris Kraus' Vier Minuten werde dort vermarktet als »the new hit from Germany« nach Das Leben der Anderen. Na dann…

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Und eine deutsche Produ­zentin sagt an gleicher Stelle zur Begrün­dung, auf meine entsetzte Frage, warum sie immer noch für teures Geld »Blick­punkt Film« abonniert hat: »Man muss immer wissen, was der Klas­sen­feind denkt.« Tatsäch­lich endlich mal ein guter, einleuch­tender Grund.

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Es gibt aber auch gute Nach­richten vom deutschen Kino: Kurz vor Jahres­ende kommt endlich beim X-Verleih die wunderbar gelungene zweite Regie­ar­beit von Nicolette Krebitz ins Kino: Das Herz ist ein dunkler Wald, in dem einmal mehr Nina Hoss die Haupt­rolle spielt. Deutscher Autoren­film trifft Seventies-Horror­kino trifft Medea, mehr verraten wir jetzt nicht. Hier ein Vorge­schmack.

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In Frankfurt konnte man sich im Deutschen Film­mu­seum am letzten Wochen­ende die neue Remas­tered-Fassung von Fass­bin­ders Berlin Alex­an­der­platz rein­ziehen, auf die wir vor ein paar Wochen an dieser Stelle schon hinge­wiesen hatten. Das Zuge­ständnis an den Zeitgeist war folgender Zusatz der Pres­se­mit­tei­lung: »Auch kuli­na­risch bietet das Fass­binder-Wochen­ende eine Beson­der­heit: Das Café Film­mu­seum serviert Kraut­wi­ckel, das Leib­ge­richt des Regis­seurs, nach einem Origi­nal­re­zept mit Berliner Weiße und weiteren Spezia­li­täten.«

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Dass die Leute nicht richtig hingucken, und wohl auch glauben, sie müssten das nicht, bewiesen die ersten Texte über DIE HARD 4.0. Zum Beispiel in der FR hieß es, es »fliegt auch das Weiße Haus ausein­ander«. Auch woanders: »Sogar das Weiße Haus stürzt ein.« Ist aber nicht das Weiße Haus. Ist der US-Kongreß. Das wird im Film auch gesagt. Der Unter­schied ist der zwischen Kanz­leramt und Bundestag. Zwischen Exekutive und Legis­la­tive. Aber der schert ja auch sonst in Deutsch­land keinen. Immerhin hat die FR gemerkt, dass alles nur ein Fake war.

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Das Werk­statt­kino zeigt in einer hübschen Sommer­reihe »Liebes­filme«. Den Auftakt macht morgen (Donnerstag) ein Film mit dem tref­fenden Titel Lies – Lust und Lügen, vom Koreaner Jang Sun-Woo. Und wir können es kaum noch erwarten, so wie das WK den Film anpreist: »Der Film lotet die destruk­tive Macht der Liebe scho­nungslos aus, und durfte in Korea nicht gezeigt werden.« Sonst läuft dann so allerlei zum Thema, Oshimas Im Reich der Sinne darf da natürlich ebenso wenig fehlen, wie der seltene Je t'aime … moi non plus von Serge Gains­bourg, Mein Stern von Valeska Grisebach (»Alles nicht so einfach« schreibts WK) neben Seidls Tierische Liebe. Und am Ende Berlin Chamis­so­platz von Thomé, der wahr­schein­lich schönste Liebes­film des Neuen Deutschen Kinos. Dazu Norbert Jochum: »Man verliebt sich; das ist keine Entschei­dung, sondern ein Ereignis. Ein Blick. Eine Geste. Eine Bewegung. Wie sie die Haare zurück­wirft. Wie er sich die Zigarette anzündet. Wie sie bestimmte Wörter ausspricht. Man verliebt sich, da überlegt man nicht. Später beginnt dann eine andere Wirk­lich­keit. Der Mann ist 43, die Frau 24. Der Mann ist Architekt, die Frau studiert Sozio­logie. Der Mann arbeitet an einem Sanie­rungs­pro­jekt, die Frau engagiert sich dagegen. Der Mann verliebt sich in die Frau, die Frau verliebt sich in den Mann, das kann man sehen, bevor beide es wissen.«
Wir können das leider nicht mehr sehen, sondern sind nächste Woche in Venedig, da gibt’s dann wieder ein Tagebuch.

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Frage zum Abschluß: Das Filmfest München sagt von sich, es sei das »zweit­größte«. Aber nach welchen Kriterien? Man habe 65.000 Zuschauer gehabt, meldet das Filmfest. Bei 240 Filmen und je zwei Vorstel­lungen pro Film sind das 135,4 also meinet­wegen 136 Zuschauer pro Film. Und das in einer Stadt mit 1,6 Millionen Einwoh­nern, das Umland nicht einge­rechnet. Ist das jetzt gut, oder schlecht? Andere Festivals haben jeden­falls einen Schnitt von über 300.

Rüdiger Suchsland