65. Filmfestspiele von Venedig 2008
Verlorene Seelen |
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Ménage à trois: JERICHOW | ||
(Foto: Piffl Medien) |
Der Bildschirm ist noch schwarz, da hört man Glocken. Eine Beerdigung. Ein Mann namens Thomas steht am Friedhofstor, es ist seine Mutter, die gestorben ist. Ein anderer kommt an, mit Limousine und Fahrer, sie waren Freunde, aber er hat Thomas Geld geliehen, das er jetzt eintreiben will. Wir erfahren, dass Thomas alles gepfändet wurde, und mit sicherem Instinkt entdeckt der Gläubiger das – schlechte – Versteck im Limonadenbaum-Haus im Garten aus der Jugendzeit. Dort liegen die Geldscheine bündelweise. Der Mann nimmt das Geld, Thomas wird niedergeschlagen, und liegt bewusstlos im Gras, als die Limousine wegfährt.
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Genau so, mit dem Ende eines Films, den wir nie kennen werden, fängt ein anderer Film an: Jerichow von Christian Petzold. Ein Reh weckt ihn dann auf, wie im Märchen, und genaugenommen könnte alles, was folgt, auch ein Traum gewesen sein, ähnlich wie in Petzolds letztem Film Yella. Jerichow ist aber unromantischer, als YELLA, eher ein deutscher Film Noir, der Versuch, die Motive und die Emotion des Film Noir auf deutsche Gegenwartsverhältnisse anzuwenden.
Ein reicher Mann engagiert einen armen Mann. Um Arbeit zu machen, die dieser nicht machen kann. Die beiden ergänzen sich gut, könnten sogar Freunde sein. Aber der arme Mann verliebt sich in die schöne Frau des reichen
Mannes. Und das Unglück nimmt seinen Lauf…
Wem dieser Plot irgendwie bekannt vorkommt, der liegt nicht falsch: James M. Cains Novelle »The Postman Always Rings Twice« inspirierte zuerst Luchino Viscontis Ossessione von 1943 – mit Anna Magnani –, dann einen berühmten Film Noir von 1946 und Bob Rafelsons vor allem durch die Sex-Szene zwischen Jack Nicholson und Jessica Lange
bekanntes Remake von 1981. Es geht um Armut und Amour (fou), und um die schlimmen Folgen, wenn beides zusammen trifft. Der Berliner Regisseur Christian Petzold nutzt die Filmgeschichte ja immer gern als Hintergrund, den er dann ganz zeitgemäß übermalt und ausbuchstabiert. Mit seiner Interpretation des Cain-Stoffes, der im Wettbewerb von Venedig Premiere hatte, ist Petzold nun ein Meisterwerk der Konzentration geglückt, geprägt durch jene ganz eigenartige, unverwechselbare
Atmosphäre, die Petzolds Filme seit jeher und immer stärker eigen sind.
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Man muss ja eigentlich nur auf die Besetzungsliste schauen, um vorab schon einiges zu wissen. Das Benno Fürmann und Nina Hoss ein Liebespaar werden müssen, ist vorab klar. Aber wenn Jerichow auch im Vergleich zu anderen Petzold-Filmen nicht viele Überraschungen enthält, bedeutet das auch: Dies ist ein Film, auf den man sich verlassen kann.
Aus drei Perspektiven erzählt Petzold eher
skizzenhaft seine Geschichte: Zunächst aus der von Thomas, der gerade, arm wie eine Kirchenmaus, als Soldat in Afghanistan unehrenhaft entlassen und verfolgt von den Gläubigern – was dahinter steckt wird nie aufgelöst, auch ein anderer Film – ins Dorf seiner Kindheit zurückgekehrt ist. Es heißt Jerichow und liegt irgendwo im wilden Ostens Deutschlands. Dann kommt Ali ins Spiel, der in der Gegend eine Döner-Kette aufzieht, und einen Fahrer braucht. Er mag Thomas und gibt
ihm eine Chance. Das letzte Drittel gehört Laura, der Frau, die sich von Ali hat kaufen lassen, und die Thomas nun auch nicht widerstehen kann.
Benno Fürmann, Hilmi Sözer und Nina Hoss spielen dieses Dreigestirn. Noch nie sah Fürmann so männlich und so wenig bubihaft aus, wie hier, ein Auftritt von hochgradiger proletarisch-körperlicher Präsenz, der an die besten Zeiten von Klaus Löwitsch erinnert. Hoss kombiniert Zerbrechlichkeit und Kälte in einer Weise, die ihren vielen
Auftritten eine weitere faszinierende Facette hinzufügt. Die Entdeckung ist aber Hilmi Sözer, dessen Gesicht man zwar kennt. Aber so tanzen, so weich und dennoch cool sein, wie hier konnte er noch nie. Das Herz eines Films über drei eigentlich schon von Anfang an verlorene Seelen, dem Hans Fromm Kamera einmal mehr französisch sommerlich anmutende Bilder gibt, die mit analytischer Klarheit ihr Sujet bloßlegen.
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Hinzu kommen diese Momente, die man nur bei Petzold findet: Die Gurkenflieger-Maschine, eine kleine Momentaufnahme aus der Arbeitswelt in Deutschland. Die Arbeit einer Döner-Kette. Endlose Autofahrten durch ostdeutsches Niemandsland. Hilmi Sözer am Strand, betrunken tanzend. Dann direkt danach der Tanz zwischen Thomas und Laura. Schon vorher hatte er gleich begehrliche Blicke auf Alis Frau geworfen, wie auf sein Geld. Dabei war er aber immer verhalten geblieben, später allerdings
immer im richtigen Moment zur Stelle, etwa mit Kampftechnik, um seinen Chef zu schützen. Fürman strahlt dann so etwas aus, das man am ehesten als in-sich-ruhende Schüchternheit beschreibt. Ein starkes Tier, das aber schwer verwundet wurde, und sich seiner Kräfte noch nicht wieder sicher ist.
Schließlich, kurz nach der Tanzszene, ein Sturz an den Ostseeklippen. Wunderbar unvermittelt und beiläufig inszeniert, wie zuvor ein Auto, das fast ins Wasser fährt, worauf die beiden sich
kennenlernen.
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Ein Film über Sehnsucht. Die Lebenssehnsucht von Thomas und die Todessehnsucht von Ali. Auch hierin zwei völlig ungleiche Männer.
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Auch ein Film über Eifersucht, Misstrauen und Vertrauen. Es ist von Anfang an ganz unklar, was Ali für ein Spiel spielt, aber man traut ihm immer alles zu, man vermutet immer, dass er mehr weiß, als er zeigt. Und es ist klar, dass er nicht in die Türkei fliegt, wie er vorgibt. Er ist nicht blöd. Insofern ist es kaum zu glauben, dass er Laura und Thomas allein lässt, nichts merkt. Eher ist früh zu vermuten, dass er die beiden zusammenführen will. Aber warum? Irgendwann während des Films
denke ich: Der stirbt. Und er sucht einen neuen Mann für seine Frau. »Er ist reich und er ist nicht blind.« sagt Laura einmal über Ali.
Er ist nicht einfach sympathisch, ist auch ein Ausbeuter. Einen Satz sagt er, den ich überflüssig deutlich finde: »Du hast ein gutes Herz. Das hab ich auch, das ist ja die Scheiße.« Auch kein ganz guter Satz ist der von Thomas, nachdem beide die erste Nacht zusammen verbracht haben: »Wir fahren doch jetzt nicht arbeiten. Wir holen Deine Sachen. Er schlägt
Dich.« Jetzt wird der Mann moralisch. Das passt nicht. Der dritte schlechte Satz, weil zu erklärend, ist die Selbstbeschreibung Alis: »...leben in einem Land, das mich nicht will. Mit einer Frau, die ich gekauft hab.«
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Moral: »Man kann sich nicht lieben, wenn man kein Geld hat. Ich weiß das.«
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Bei Werner Schroeter würde es wohl eher heißen: »Man kann sich nicht lieben, wenn man keine Moral hat.« Wie aus einer anderen Zeit tauchte der Fassbinder-Weggefährten Schroeter auf dem Lido auf. 1990 hatte er mit Malina zuletzt fürs Kino gearbeitet. Jetzt hat er, der seitdem in Oper und Theater emigrierte, eine Novelle des Uruguayers Juan Carlos Onetti verfilmt: Aber Nuit Et Chien ist ein unverwechselbarer Schroeter geworden: Stilisiert, melodramatisch, sonambul und hochgradig artifiziell. Die Handlung dreht sich um ein faschistisches Regime in irgendeinem Land, vermutlich Lateinamerika – aber man spricht französisch –, und lässt sich am ehesten als Paranoia-Thriller mit Anspielungen auf Grimms Märchen begreifen. Es geht um politischen Opportunismus, Kollaborationsmentalität und ihren Preis. Großartige Bilder und Momente, aber ein rätselhafter Gesamteindruck fügen sich zu einem völlig unzeitgemäßen Film. Faszinierend, wie Schroeter jede Konzession an den Zeitgeist vermeidet.
Rüdiger Suchsland