62. Filmfestspiele Cannes 2009
Yes We Cannes! |
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Aller Anfang gleicht dem Ende; Festivalaufbau in Cannes | ||
(Foto: privat) |
Es ist schon eine sehr merkwürdige Erfahrung, in einem Kino gemeinsam mit rund 1500 weiteren Leuten zu sitzen, die allesamt eine große dunkle Sonnenbrille aufhaben. So zumindest sieht es aus, das ziemlich dicke Gestell aus rostrotem Plastik, das am Mittwoch-Abend den Kino-Premierengästen im südfranzösischen Nobelbadeort Cannes ausgehändigt wurde, zur Eröffnung der 62. Ausgabe des wichtigsten Filmfestivals der Welt.
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Dunkler erscheint uns da sofort alles, auch das Antlitz der geschätzten Kollegen, und vielleicht ist das ja die geheime Symbolik der Brillenaktion gleich zum Auftakt im Krisenjahr: Mit neuen Augen sollen wir auf die Welt und auf die Filme blicken; die alten Perspektiven, die zählen nicht mehr. Wer weiß, vielleicht kann man die Brille, einmal richtig über den Ohren festgeklemmt, gar nicht mehr absetzen, und muss von nun an die Welt als düstere, in Schwarz getauchte wahrnehmen. Was manche uns Filmkritikern ja sowieso nachsagen. Dabei sind wir in Wahrheit doch große Liebende, die noch ihre geheimsten Leidenschaften sogar öffentlich bekennen. Und sogar wenn ein Film böse verrissen wird, sind das doch, richtig verstanden, nur Briefe enttäuschter Liebender. Den dunklen Blick jedenfalls lassen wir uns nicht anerziehen, und nach dem Eröffnungsfilm schmeißen wir die Brille schnell weg – um sie hoffentlich nie wieder aufzusetzen.
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Vielleicht ist es aber mit den Brillen doch viel banaler. Den schließlich war man Zeuge einer gleich doppelten Premiere: Erstmals in der Geschichte des noblen Festivals eröffnete man mit einem Animationsfilm, und erstmals mit einem Film in jener bislang selten »3-D«-Technik. »3 D« steht für »drei Dimensionen«. Gezeigt wurde der Film Up vom 1968 geborenen Pete Docter (Monsters, Inc.). Doch wichtiger ist in diesem Fall, dass Up aus dem Hause Disney stammt, von den Spezialisten der Pixar-Studios. Diesem Film den besonderen Status der Eröffnung eines so kunstorientierten Festivals wie Cannes zu geben, ist nicht nur eine Anerkennung der Trickfilmkunst, einer der vielen Dimensionen des Kinos. Es ist auch eine Verbeugung des Festivals vor den Marketinginteressen Hollywoods, und ein Zeichen, wie hart der Kampf hinter den glamourösen Festivalkulissen ausgetragen wird: Denn mitten in der Weltwirtschaftskrise, die längst auch die Filmbranche erfasst hat, soll »3D« die neue Wunderwaffe aus Amerika sein, ein »Alleinstellungsmerkmal des Kinos, ein Mittel, um weiterhin den Vorsprung der Lichtspielsäle vor DVD und You-Tube zu behaupten. Cannes soll dafür als Startrampe dienen. Den Titel kann man also auch symbolisch verstehen, als Wegmarke, wo es hingehen soll mit der Filmindustrie.«
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Dabei ist »3D« keineswegs neu. Bereits Alfred Hitchcock drehte 1954 Bei Anruf Mord mit diesem Verfahren, und immer wieder hat man, nicht nur bei Disney, versucht, es zum Erfolg zu führen – aber das Publikum nahm die Technik nicht an. Viele klagten über Kopfweh. Jetzt aber versichern die amerikanischen Marketingleute, sei die Technik ausgereift. Man wird sehen. Zumindest war es in
Cannes nicht übermäßig angenehm, knapp zwei Stunden lang eine Brille im Gesicht zu tragen, die überdies in der warmen Luft immer mal wieder beschlug. Und was macht man eigentlich als Brillenträger?
Nahm man die Brille mal ab, sah das Bild im Großen, Ganzen gleich aus, manchmal nur etwas unschärfer. Nie aber hatte man Angst, in irgendwelche Abgründe zu fallen, nie rückte einem die dritte Dimension des Kinobildes aus der Leinwand heraus unangenehm nahe an den Körper. Und wer glaubt
schon auch nur für Sekundenbruchteile an die Echtheit sprechender Disneyhunde mit Schlabberschnauze?
So bleibt der Eindruck einer Technik, die für fünf Minuten ganz interessant und etwas kurios ist, aber am Ende doch vor allem umständlich und – je länger der Film dauert – nervtötend. Vielleicht sollte man es einmalmit – allerdings weniger Disney-kompatiblen Horror- Katastrophen- oder Science-Fiction-Stoffen probieren, anstatt mit einem Kinderquatsch, der
spießige Idyllen zeichnet, und einmal mehr zur Eindruckssteigerung – trotz aller 3D-Effekte auf eine furchtbare Musiksoße nicht verzichten will.
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»I hate 3-D« hatten die Kollegen am Abend zuvor schon gemurrt. In der Rue de Freres Casanova in der Pizzeria Casanova – Kritiker, wie gesagt, sind Liebende – hatten wir uns getroffen, um schon mal vor dem Festival Bilanz zu ziehen.
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Jenseits des technischen Gimmicks, der zumindest Erlebniswert hatte und für Gesprächsstoff sorgte, blieb UP ansonsten nur eine Anhäufung banalster Klischees, die in die Banalisierung des Abenteuers an sich mündet, in die Dekonstruktion der Idee des Helden(tums). Einmal mehr begegnet man einem jener typischen Träume der amerikanischen Provinz mit ihrer doppelten, widerspüchlichen Sehnsucht nach Aufbruch und Heimat zugleich, mit all ihrer Sentimentalität und einer
Pfadfinder Moral, die perfekt ins Disney-Weltbild passt. Im Zentrum steht ein alter Mann, der zeitlebens vergeblich von großen Reisen und Erlebnissen träumt, aber ein trauriges ödes Leben lebt, bevor er das Abenteuer dann am Ende doch findet (oder es ihn) – aber dazu muss er gerade seine bisherigen Träume begraben, sein Jugendidol und sein Bild vom Heldentum verabschieden.
Spirit of Adventure heißt zwar das alte Luftschiff, das in diesem Film eine wichtige Rolle
spielt. Aber es gehört eben dem Schurken im Spiel, und um den Geist des Abenteuers geht es nur in Form seiner Austreibung.
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Kaum zu glauben: In Cannes sind noch Zimmer frei. Zwar gab es auch in diesem Jahr bei der Eröffnung an der Croisette, der palmenumsäumten legendären Uferpromenade des südfranzösischen Nobelbadeortes wie gewohnt teuer gekleidete Filmstars, die in geliehen Houte-Cuture Kleidern im Dutzend über den Roten Teppich schreiten, dicht hinter sich die Bodyguards der Juweliere, die nicht etwa den geschmeidigen Starbody, sondern das Collier von Bulgari oder Swarowski bewachen, dann gibt es auch Fotografenmeuten und Fernsehkamera-Wälder, deren Bilder in alle Welt übertragen werden, und auch sonst Glamour pur. Trotzdem mischt sich Skepsis in die erwartungsvolle Festivalvorfreude, und schon vor Beginn der diesjährigen Ausgabe ist klar: Auch an der Cote d’Azur muss man in diesem Jahr ökonomisch kleinere Brötchen backen. Insbesondere die Hotelbesitzer und Partyveranstalter klagen bereits jetzt über finanzielle Einbußen. Dies trifft dabei nicht so sehr den absoluten Luxusbereich – die Nobelsuite im ersten Haus am Platz, dem Hotel Martinez, für die der Gast pro Nacht 36.000 Euro berappen muss, ist schon längst für die gesamte Festivalperiode ausgebucht. Und auch eine bekannte Berliner Medienkanzlei residiert – standesgemäß (?) – im Hotel Carlton. Diese Krise trifft in diesem Fall also keine ganz Armen, und auch wenn manche in diesem Jahr vielleicht auf Kaviar und Champagner verzichten – für Lachs und Prosecco dürfte es immer noch reichen. Man gönnt sich ja sonst nichts.
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»Anwälte – was machen die denn noch hier?« fragte eine Kollegin, als ich ihr die Carlton-Geschichte erzählte. Aber eigentlich ist das klar. Anwälte werden auch in der Krise gebraucht. Wer soll den die ganzen Rettungspakete formulieren. Und beim Insolvenzen-abwickeln muss schließlich auch alles seine Ordnung haben…
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Von der augenblicklichen Weltwirtschaftskrise getroffen werden vielmehr besonders jene, die von den ganz normalen professionellen Festivalbesuchern leben: Einkäufern, Rechtehändlern, Filmproduzenten und Medienvertretern. Immerhin rund 10.000 solcher Fachbesucher kamen im letzten Jahr zum Festival, 2009 sind es nur etwa 8.000, jene noch nicht mitgerechnet, die diesmal weniger lang bleiben – eine heftige Einbuße von über 20 Prozent, die auch im Unterkunftsmarkt
die Preise purzeln lässt. Während hier in den Vorjahren Zimmer im Innenstadtbereich für die gesamten 12 Festival-Tage (für einzelne Tage wird hier gar nicht vermietet) im Durchschnitt nur für 2000 Euro und mehr plus Mehrwertsteuer zu haben waren, wird Vergleichbares diesmal für 1500 -1800 Euro angeboten.
Nicht weniger schwer wiegen die Veränderungen für jene Veranstalter, die mit dem zweiwöchigen Starrausch normalerweise den Umsatz des Jahres machen: Denn auch an den Partys
wird gespart. So lädt German Films, die Dachorganisation der deutschen Kinobranche zur Vermarktung des deutschen Films im Ausland, nicht wie in den letzten Jahren zu einer opulenten Garten-Party in eine Villa mit angeschlossenem Park in den Bergen der Umgebung, sondern »nur« zu einem Empfang im Marktpavillon am Strand – und bereits auf der Einladung wird darauf hingewiesen, dass es diesmal nichts zu essen gebe. Trotzdem kostet allein schon die Miete eines Messestandes
auf dem bedeutenden Film-Markt selbst in der kleinsten Kategorie mehrere tausend Euro – Reise, Unterkunft, Marketingkosten und sonstige Ausgaben noch nicht mitgerechnet. Wer solche Summen bezahlt, verspricht sich auch etwas davon. In Cannes ist man nicht zum Vergnügen, sondern um Geld zu verdienen. Für das normale Publikum sind die Vorführungen in Cannes, anders als die der Konkurrenzfestivals von Berlin und Venedig tabu. Erst später wird ein Teil der Filme in den
regulären Kinos zu sehen sein. Dafür wird hier auch der Löwenanteil des Jahresgeschäfts gemacht. Wie dies diesmal laufen wird, das hängt nun vor allem von der Qualität des Programms ab.
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Die Krise habe aber auch ihre Vorteile, meint Dana, vom niederländischen Magazin Filmkrant. »Gottseidank sind weniger dieser ganzen Promi-Reporter da, die nur Stars 'abgreifen' wollen.« Man bekommt tatsächlich leichter Interviews, weil die Personen, die nur davon leben, Menschen wie Monicas Bellucci nach ihrer Garderobe oder ihrem Liebesleben zu fragen, einfach da sind, wo sie hingehören – weit weg von der Croisette.
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Künstlerisch lässt sich Cannes 2009 zumindest auf dem Papier sowieso überaus gut an: So erwartet man etwa Penelope Cruz, zuletzt fast schon Stammgast in Cannes, mit blonder Perücke im neuen Film des Spaniers Pedro Almodovar. Mit viel Vorschußlorbeer bedacht wird auch Quentin Tarantino. 1994 holte er hier mit Pulp Fiction die Goldene Palme, nun präsentiert er Inglourious Basterds, einen Film, der in den letzten Tagen des Dritten Reichs spielt, und von Amerikanern handelt, die als Nazis verkleidet, versuchen Hitler zu töten. Weitere bekannte Namen: Michael Haneke mit seinem ersten Kostümfilm und Lars von Trier mit Antichrist.
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Im Gegensatz zu den vergangenen Jahren läuft diesmal ein einziger deutscher Film in Cannes, auch nicht in den Nebenreihen – die neuen Filme von Fatih Akin, Andreas Dresen und Matthias Glasner wurden vom Festival abgelehnt. Für manche in der Branche, die auch hier natürlich lieber ungenannt bleiben, ist das ein klares Indiz der verfehlten Filmförderpolitik des Staatsministers Neumann und der Länderförderungen, die große internationale Produktionen großzügig mit Geld ausstattet, während für kleine Autorenfilme nichts übrig bleibt. Aber vielleicht konnte Cannes nur aus dem Vollen schöpfen: Auch Jim Jarmush’s neuer Film wurde von Cannes abgelehnt, und sogar Francis Ford Coppola musste mit seinem neuen Film in die – allerdings renommierte – Nebenreihe Quinzaine ausweichen. Dafür sind 2009 besonders viele Filme aus Asien an der Croisette vertreten – allen voran (Süd-)Korea mit sechs Filmen.
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Im Casanova war man dann spätestens nach dem dritten Viertel Rose versucht, einfach mal zu wetten – ohne einen einzigen Film gesehen zu haben, einfach nach Papierform der Filme und der Jury. Auf meine gewagte Bemerkung »Mit Isabelle Huppert in Jurys gewinnt vielleicht endlich mal Haneke« konterte Jupp Schnelle: »Quatsch, da gewinnt Alain Resnais.« Aber wird Huppert als nicht mehr ganz junge Frau wirklich mit der Auszeichnung eines uralten Regisseurs (der seine besten Tage
längst hinter sich hat) das Risiko eingehen, selbst als Dame von gestern dazustehen?
Wie werden sich wohl Huppert und Asia Argento verstehen? »There must probably be a real catfight in the Jury« vermutet Dana. Aber Asia Argento ist filmisch überaus gebildet, hat Mut zur Avantgarde und ein faible fürs Extrem. Also gute Chancen für Park Chan-wook (Oldboy), zumal der jetzt einen
Vampirfilm gedreht hat? Vielleicht. Fällig wäre aber auch Brillante Mendoza aus den Philippinen. Unser Tip für einen Regiepreis. An dem hat das Festival schließlich noch etwas vom letzten Jahr gutzumachen. Auch Jeroen vom Filmkrant stimmt dem zu. Dann erinnert er an ein geheimes Festivalgesetz: »Es kann nur einer werden, den wir interviewt haben. Das hat bisher immer hingehauen.« Und fragt: »Soll ich Lars von Trier interviewen?« Immerhin hat Jeroen heute schon Termine mit
Park Chan-wook gemacht und mit Lou Ye.
Dann erörtern wir endlich Interessanteres wie die auffälligen Parallelen zwischen Jürgen Klinsmann und Marco van Basten. Der ehemalige Weltklassestürmer der Holländer war Trainer von Ajax Amsterdam und ist gerade zurückgetreten. Das er nicht entlassen werden musste, ist der wichtigste Unterschied: »Er hat die Fehler bei sich selbst gesucht.« sagt Jeroen. Das werden wir auch tun, aber erst am Ende.
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Auf den biligual driver vom Airport, der uns per mail angeboten wurde – 78 Euro – haben wir dann übrigens doch verzichtet. Dafür kam dann dass überaus willkommene Angebot unserer netten Redakteurin, doch mit in ihrem Taxi zu fahren. Die Redaktion zahlt – einer kleiner Ausgleich in der Krise, von der hier alle reden. Damit musste man rechnen.
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Während also zum Auftakt zum dritten Mal in der Filmgeschichte »3D« als Sesam-öffne-Dich für die Zukunft des Kinos herhalten musste – aber bereits zwei Jahren soll es auch schon »3D-Fernsehen« geben –, geht es ab Donnerstag um dessen vierte Dimension, auf die man sich in Cannes noch immer am meisten verlässt: Die Kunst.
Was für ein Glück: 12 Tage gute Filme. Da sind wir wieder – yes we Cannes!