14.05.2009
62. Filmfestspiele Cannes 2009

Yes We Cannes!

Cannes
Aller Anfang gleicht dem Ende; Festivalaufbau in Cannes
(Foto: privat)

Der dunkle Blick auf die Welt, das Festival als Startrampe, Cannes und die Krise und die vierte Kino-Dimension

Von Rüdiger Suchsland

Es ist schon eine sehr merk­wür­dige Erfahrung, in einem Kino gemeinsam mit rund 1500 weiteren Leuten zu sitzen, die allesamt eine große dunkle Sonnen­brille aufhaben. So zumindest sieht es aus, das ziemlich dicke Gestell aus rostrotem Plastik, das am Mittwoch-Abend den Kino-Premie­ren­gästen im südfran­zö­si­schen Nobel­ba­deort Cannes ausgehän­digt wurde, zur Eröffnung der 62. Ausgabe des wich­tigsten Film­fes­ti­vals der Welt.

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Dunkler erscheint uns da sofort alles, auch das Antlitz der geschätzten Kollegen, und viel­leicht ist das ja die geheime Symbolik der Bril­len­ak­tion gleich zum Auftakt im Krisen­jahr: Mit neuen Augen sollen wir auf die Welt und auf die Filme blicken; die alten Perspek­tiven, die zählen nicht mehr. Wer weiß, viel­leicht kann man die Brille, einmal richtig über den Ohren fest­ge­klemmt, gar nicht mehr absetzen, und muss von nun an die Welt als düstere, in Schwarz getauchte wahr­nehmen. Was manche uns Film­kri­ti­kern ja sowieso nachsagen. Dabei sind wir in Wahrheit doch große Liebende, die noch ihre geheimsten Leiden­schaften sogar öffent­lich bekennen. Und sogar wenn ein Film böse verrissen wird, sind das doch, richtig verstanden, nur Briefe enttäuschter Liebender. Den dunklen Blick jeden­falls lassen wir uns nicht aner­ziehen, und nach dem Eröff­nungs­film schmeißen wir die Brille schnell weg – um sie hoffent­lich nie wieder aufzu­setzen.

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Viel­leicht ist es aber mit den Brillen doch viel banaler. Den schließ­lich war man Zeuge einer gleich doppelten Premiere: Erstmals in der Geschichte des noblen Festivals eröffnete man mit einem Anima­ti­ons­film, und erstmals mit einem Film in jener bislang selten »3-D«-Technik. »3 D« steht für »drei Dimen­sionen«. Gezeigt wurde der Film Up vom 1968 geborenen Pete Docter (Monsters, Inc.). Doch wichtiger ist in diesem Fall, dass Up aus dem Hause Disney stammt, von den Spezia­listen der Pixar-Studios. Diesem Film den beson­deren Status der Eröffnung eines so kunst­ori­en­tierten Festivals wie Cannes zu geben, ist nicht nur eine Aner­ken­nung der Trick­film­kunst, einer der vielen Dimen­sionen des Kinos. Es ist auch eine Verbeu­gung des Festivals vor den Marke­ting­in­ter­essen Holly­woods, und ein Zeichen, wie hart der Kampf hinter den glamourösen Festi­val­ku­lissen ausge­tragen wird: Denn mitten in der Welt­wirt­schafts­krise, die längst auch die Film­branche erfasst hat, soll »3D« die neue Wunder­waffe aus Amerika sein, ein »Allein­stel­lungs­merkmal des Kinos, ein Mittel, um weiterhin den Vorsprung der Licht­spielsäle vor DVD und You-Tube zu behaupten. Cannes soll dafür als Start­rampe dienen. Den Titel kann man also auch symbo­lisch verstehen, als Wegmarke, wo es hingehen soll mit der Film­in­dus­trie.«

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Dabei ist »3D« keines­wegs neu. Bereits Alfred Hitchcock drehte 1954 Bei Anruf Mord mit diesem Verfahren, und immer wieder hat man, nicht nur bei Disney, versucht, es zum Erfolg zu führen – aber das Publikum nahm die Technik nicht an. Viele klagten über Kopfweh. Jetzt aber versi­chern die ameri­ka­ni­schen Marke­ting­leute, sei die Technik ausge­reift. Man wird sehen. Zumindest war es in Cannes nicht übermäßig angenehm, knapp zwei Stunden lang eine Brille im Gesicht zu tragen, die überdies in der warmen Luft immer mal wieder beschlug. Und was macht man eigent­lich als Bril­len­träger?
Nahm man die Brille mal ab, sah das Bild im Großen, Ganzen gleich aus, manchmal nur etwas unschärfer. Nie aber hatte man Angst, in irgend­welche Abgründe zu fallen, nie rückte einem die dritte Dimension des Kino­bildes aus der Leinwand heraus unan­ge­nehm nahe an den Körper. Und wer glaubt schon auch nur für Sekun­den­bruch­teile an die Echtheit spre­chender Disney­hunde mit Schlab­ber­schnauze?
So bleibt der Eindruck einer Technik, die für fünf Minuten ganz inter­es­sant und etwas kurios ist, aber am Ende doch vor allem umständ­lich und – je länger der Film dauert – nerv­tö­tend. Viel­leicht sollte man es einmalmit – aller­dings weniger Disney-kompa­ti­blen Horror- Kata­stro­phen- oder Science-Fiction-Stoffen probieren, anstatt mit einem Kinder­quatsch, der spießige Idyllen zeichnet, und einmal mehr zur Eindrucks­stei­ge­rung – trotz aller 3D-Effekte auf eine furcht­bare Musiksoße nicht verzichten will.

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»I hate 3-D« hatten die Kollegen am Abend zuvor schon gemurrt. In der Rue de Freres Casanova in der Pizzeria Casanova – Kritiker, wie gesagt, sind Liebende – hatten wir uns getroffen, um schon mal vor dem Festival Bilanz zu ziehen.

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Jenseits des tech­ni­schen Gimmicks, der zumindest Erleb­nis­wert hatte und für Gesprächs­stoff sorgte, blieb UP ansonsten nur eine Anhäufung banalster Klischees, die in die Bana­li­sie­rung des Aben­teuers an sich mündet, in die Dekon­struk­tion der Idee des Helden(tums). Einmal mehr begegnet man einem jener typischen Träume der ameri­ka­ni­schen Provinz mit ihrer doppelten, wider­spüch­li­chen Sehnsucht nach Aufbruch und Heimat zugleich, mit all ihrer Senti­men­ta­lität und einer Pfad­finder Moral, die perfekt ins Disney-Weltbild passt. Im Zentrum steht ein alter Mann, der zeit­le­bens vergeb­lich von großen Reisen und Erleb­nissen träumt, aber ein trauriges ödes Leben lebt, bevor er das Abenteuer dann am Ende doch findet (oder es ihn) – aber dazu muss er gerade seine bishe­rigen Träume begraben, sein Jugen­d­idol und sein Bild vom Heldentum verab­schieden.
Spirit of Adventure heißt zwar das alte Luft­schiff, das in diesem Film eine wichtige Rolle spielt. Aber es gehört eben dem Schurken im Spiel, und um den Geist des Aben­teuers geht es nur in Form seiner Austrei­bung.

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Kaum zu glauben: In Cannes sind noch Zimmer frei. Zwar gab es auch in diesem Jahr bei der Eröffnung an der Croisette, der palmen­um­säumten legen­dären Ufer­pro­me­nade des südfran­zö­si­schen Nobel­ba­de­ortes wie gewohnt teuer geklei­dete Filmstars, die in geliehen Houte-Cuture Kleidern im Dutzend über den Roten Teppich schreiten, dicht hinter sich die Body­guards der Juweliere, die nicht etwa den geschmei­digen Starbody, sondern das Collier von Bulgari oder Swarowski bewachen, dann gibt es auch Foto­gra­fen­meuten und Fern­seh­ka­mera-Wälder, deren Bilder in alle Welt über­tragen werden, und auch sonst Glamour pur. Trotzdem mischt sich Skepsis in die erwar­tungs­volle Festi­val­vor­freude, und schon vor Beginn der dies­jäh­rigen Ausgabe ist klar: Auch an der Cote d’Azur muss man in diesem Jahr ökono­misch kleinere Brötchen backen. Insbe­son­dere die Hotel­be­sitzer und Party­ver­an­stalter klagen bereits jetzt über finan­zi­elle Einbußen. Dies trifft dabei nicht so sehr den absoluten Luxus­be­reich – die Nobel­suite im ersten Haus am Platz, dem Hotel Martinez, für die der Gast pro Nacht 36.000 Euro berappen muss, ist schon längst für die gesamte Festi­val­pe­riode ausge­bucht. Und auch eine bekannte Berliner Medi­en­kanzlei residiert – stan­des­gemäß (?) – im Hotel Carlton. Diese Krise trifft in diesem Fall also keine ganz Armen, und auch wenn manche in diesem Jahr viel­leicht auf Kaviar und Cham­pa­gner verzichten – für Lachs und Prosecco dürfte es immer noch reichen. Man gönnt sich ja sonst nichts.

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»Anwälte – was machen die denn noch hier?« fragte eine Kollegin, als ich ihr die Carlton-Geschichte erzählte. Aber eigent­lich ist das klar. Anwälte werden auch in der Krise gebraucht. Wer soll den die ganzen Rettungs­pa­kete formu­lieren. Und beim Insol­venzen-abwickeln muss schließ­lich auch alles seine Ordnung haben…

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Von der augen­blick­li­chen Welt­wirt­schafts­krise getroffen werden vielmehr besonders jene, die von den ganz normalen profes­sio­nellen Festi­val­be­su­chern leben: Einkäu­fern, Rechtehänd­lern, Film­pro­du­zenten und Medi­en­ver­tre­tern. Immerhin rund 10.000 solcher Fach­be­su­cher kamen im letzten Jahr zum Festival, 2009 sind es nur etwa 8.000, jene noch nicht mitge­rechnet, die diesmal weniger lang bleiben – eine heftige Einbuße von über 20 Prozent, die auch im Unter­kunfts­markt die Preise purzeln lässt. Während hier in den Vorjahren Zimmer im Innen­stadt­be­reich für die gesamten 12 Festival-Tage (für einzelne Tage wird hier gar nicht vermietet) im Durch­schnitt nur für 2000 Euro und mehr plus Mehr­wert­steuer zu haben waren, wird Vergleich­bares diesmal für 1500 -1800 Euro angeboten.
Nicht weniger schwer wiegen die Verän­de­rungen für jene Veran­stalter, die mit dem zwei­wöchigen Star­rausch norma­ler­weise den Umsatz des Jahres machen: Denn auch an den Partys wird gespart. So lädt German Films, die Dach­or­ga­ni­sa­tion der deutschen Kino­branche zur Vermark­tung des deutschen Films im Ausland, nicht wie in den letzten Jahren zu einer opulenten Garten-Party in eine Villa mit ange­schlos­senem Park in den Bergen der Umgebung, sondern »nur« zu einem Empfang im Markt­pa­villon am Strand – und bereits auf der Einladung wird darauf hinge­wiesen, dass es diesmal nichts zu essen gebe. Trotzdem kostet allein schon die Miete eines Messe­standes auf dem bedeu­tenden Film-Markt selbst in der kleinsten Kategorie mehrere tausend Euro – Reise, Unter­kunft, Marke­ting­kosten und sonstige Ausgaben noch nicht mitge­rechnet. Wer solche Summen bezahlt, verspricht sich auch etwas davon. In Cannes ist man nicht zum Vergnügen, sondern um Geld zu verdienen. Für das normale Publikum sind die Vorfüh­rungen in Cannes, anders als die der Konkur­renz­fes­ti­vals von Berlin und Venedig tabu. Erst später wird ein Teil der Filme in den regulären Kinos zu sehen sein. Dafür wird hier auch der Löwen­an­teil des Jahres­ge­schäfts gemacht. Wie dies diesmal laufen wird, das hängt nun vor allem von der Qualität des Programms ab.

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Die Krise habe aber auch ihre Vorteile, meint Dana, vom nieder­län­di­schen Magazin Filmkrant. »Gott­sei­dank sind weniger dieser ganzen Promi-Reporter da, die nur Stars 'abgreifen' wollen.« Man bekommt tatsäch­lich leichter Inter­views, weil die Personen, die nur davon leben, Menschen wie Monicas Bellucci nach ihrer Garderobe oder ihrem Liebes­leben zu fragen, einfach da sind, wo sie hingehören – weit weg von der Croisette.

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Künst­le­risch lässt sich Cannes 2009 zumindest auf dem Papier sowieso überaus gut an: So erwartet man etwa Penelope Cruz, zuletzt fast schon Stammgast in Cannes, mit blonder Perücke im neuen Film des Spaniers Pedro Almodovar. Mit viel Vorschuß­lor­beer bedacht wird auch Quentin Tarantino. 1994 holte er hier mit Pulp Fiction die Goldene Palme, nun präsen­tiert er Inglou­rious Basterds, einen Film, der in den letzten Tagen des Dritten Reichs spielt, und von Ameri­ka­nern handelt, die als Nazis verkleidet, versuchen Hitler zu töten. Weitere bekannte Namen: Michael Haneke mit seinem ersten Kostüm­film und Lars von Trier mit Anti­christ.

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Im Gegensatz zu den vergan­genen Jahren läuft diesmal ein einziger deutscher Film in Cannes, auch nicht in den Neben­reihen – die neuen Filme von Fatih Akin, Andreas Dresen und Matthias Glasner wurden vom Festival abgelehnt. Für manche in der Branche, die auch hier natürlich lieber ungenannt bleiben, ist das ein klares Indiz der verfehlten Film­för­der­po­litik des Staats­mi­nis­ters Neumann und der Länder­för­de­rungen, die große inter­na­tio­nale Produk­tionen großzügig mit Geld ausstattet, während für kleine Autoren­filme nichts übrig bleibt. Aber viel­leicht konnte Cannes nur aus dem Vollen schöpfen: Auch Jim Jarmush’s neuer Film wurde von Cannes abgelehnt, und sogar Francis Ford Coppola musste mit seinem neuen Film in die – aller­dings renom­mierte – Neben­reihe Quinzaine auswei­chen. Dafür sind 2009 besonders viele Filme aus Asien an der Croisette vertreten – allen voran (Süd-)Korea mit sechs Filmen.

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Im Casanova war man dann spätes­tens nach dem dritten Viertel Rose versucht, einfach mal zu wetten – ohne einen einzigen Film gesehen zu haben, einfach nach Papier­form der Filme und der Jury. Auf meine gewagte Bemerkung »Mit Isabelle Huppert in Jurys gewinnt viel­leicht endlich mal Haneke« konterte Jupp Schnelle: »Quatsch, da gewinnt Alain Resnais.« Aber wird Huppert als nicht mehr ganz junge Frau wirklich mit der Auszeich­nung eines uralten Regis­seurs (der seine besten Tage längst hinter sich hat) das Risiko eingehen, selbst als Dame von gestern dazu­stehen?
Wie werden sich wohl Huppert und Asia Argento verstehen? »There must probably be a real catfight in the Jury« vermutet Dana. Aber Asia Argento ist filmisch überaus gebildet, hat Mut zur Avant­garde und ein faible fürs Extrem. Also gute Chancen für Park Chan-wook (Oldboy), zumal der jetzt einen Vampir­film gedreht hat? Viel­leicht. Fällig wäre aber auch Brillante Mendoza aus den Phil­ip­pinen. Unser Tip für einen Regie­preis. An dem hat das Festival schließ­lich noch etwas vom letzten Jahr gutzu­ma­chen. Auch Jeroen vom Filmkrant stimmt dem zu. Dann erinnert er an ein geheimes Festi­val­ge­setz: »Es kann nur einer werden, den wir inter­viewt haben. Das hat bisher immer hinge­hauen.« Und fragt: »Soll ich Lars von Trier inter­viewen?« Immerhin hat Jeroen heute schon Termine mit Park Chan-wook gemacht und mit Lou Ye.
Dann erörtern wir endlich Inter­es­san­teres wie die auffäl­ligen Paral­lelen zwischen Jürgen Klinsmann und Marco van Basten. Der ehemalige Welt­klas­ses­türmer der Holländer war Trainer von Ajax Amsterdam und ist gerade zurück­ge­treten. Das er nicht entlassen werden musste, ist der wich­tigste Unter­schied: »Er hat die Fehler bei sich selbst gesucht.« sagt Jeroen. Das werden wir auch tun, aber erst am Ende.

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Auf den biligual driver vom Airport, der uns per mail angeboten wurde – 78 Euro – haben wir dann übrigens doch verzichtet. Dafür kam dann dass überaus will­kom­mene Angebot unserer netten Redak­teurin, doch mit in ihrem Taxi zu fahren. Die Redaktion zahlt – einer kleiner Ausgleich in der Krise, von der hier alle reden. Damit musste man rechnen.

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Während also zum Auftakt zum dritten Mal in der Film­ge­schichte »3D« als Sesam-öffne-Dich für die Zukunft des Kinos herhalten musste – aber bereits zwei Jahren soll es auch schon »3D-Fernsehen« geben –, geht es ab Donnerstag um dessen vierte Dimension, auf die man sich in Cannes noch immer am meisten verlässt: Die Kunst.
Was für ein Glück: 12 Tage gute Filme. Da sind wir wieder – yes we Cannes!