62. Filmfestspiele Cannes 2009
Lars von Trier, der Hexer oder: Die Perversion |
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Gequälte Frau – Charlotte Gainsbourg in Antichrist | ||
(Foto: MFA+ FilmDistribution GmbH / 24 Bilder Film GmbH) |
Blut und Sex nahe an der Pornographie hatte er schon im Vorfeld angekündigt – ob das nun als Drohung gemeint war, oder als Versprechen, so sicher kann man sich bei diesem Mann eigentlich nie sein. Schon immer war er gut gewesen für Provokationen auf höchstem Niveau. So offen wie nie, ließ der Meister nun verlauten, würde er seine eigene Seele entblößen, so tief wie nie, könne man nun in die Abgründe seines Herzens blicken. Kurz: Lars von Trier hat einen neuen Film gemacht.
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»Das ist ein kranker Mann. Der braucht eine Therapie.« Dieses Urteil einer bekannten internationalen Filmkritikerin war keine Einzelmeinung am Sonntagabend, unmittelbar nach der Premiere des Films Antichrist im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes. Schockiert, mit bleichen Gesichtern, manche grinsend, andere kopfschüttelnd, viele nachdenklich und ungewohnt schweigsam, taumelten die viel gewohnten internationalen Kritiker aus dem Kino. Erschüttert. Zuvor hatte sich lautes »Buh« und Beifallsklatschen in etwa die Waage gehalten, und man hatte einen Film gesehen, wie man ihn auch auf einem Filmfestival nicht oft zu sehen bekommt, einen Film, der unmittelbar zu »dem« Aufreger des diesjährigen Wettbewerbs wurde, und von dem man sich noch in Jahren erzählen wird. Für derartige Provokationen auf höchstem Niveau ist von Trier immer gut, und wer Antichrist gesehen hatte, konnte auch sämtliche Zuschauer-Reaktionen irgendwie nachvollziehen.
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Gequälte Frauen. Irgendwie geht es mal wieder darum, nicht nur in Antichrist. In Park Chan-wooks Thirst wird eine zum Vampir, muss dafür erstmal sterben, dann wiederauferstehen, um dann am Ende noch einmal zu sterben, nun aber den Vampirtod in der Morgensonne. Eine andere erleidet einen Schlaganfall, um dann zwangsgefüttert zu werden. In diesem Fall könnte man noch sagen: Den Männern geht es letztlich nicht besser. In Marina van Dans Neo-Noir-Horror Ne te retourne pas ist es schon anders. Da wird die Haut gemorphed und das Fleisch geknetet, bis einem selbst der Arm wehtut – als ob eine Schlange im Körper der Damen Sophie Marceau und Monica Bellucci ihr Wesen triebe. In Brillante Mendozas Kinatay geht es schon wesentlich härter zur Sache: Hier wird eine Frau geschlagen, vergewaltigt, schließlich geköpft. Den Gipfel von allem erreichte allerdings wieder einmal Lars von Trier.
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Es beginnt alles wunderschön: Prolog. Händels berühmte Arie Lascia ch'io pianga aus der Oper Rinaldo ertönt: »Leave me to weep over my cruel fate And leave me to long for liberty. May sorrow break the bonds of my anguish, if only for pity’s sake...«. Das Bild ist Schwarzweiß, klar und kräftig, tausend Mal besser aussehend, als in Coppola Tetro vor ein paar Tagen. In Zeitlupe sieht man Close-Ups von einem Paar beim Sex unter der
Dusche, ein paar pornographische Nahaufnahmen inbegriffen, dazu eine Waschmaschine, die läuft, Spielzeug, ein Kinderzimmer... Draußen schneit es, Schnee kommt hinein durchs offene Fenster, auf dem Tisch stehen drei Figuren: »Pain«, »Grief«, »Dispair« heißen sie, ein Glas stüzt um, und Wasser läuft aus. Ein Kind verlässt sein Bett. Ganz sachte deutet sich die Katastrophe an. Denn das Kind stürzt durchs Fenster in den Schnee zu Tode und markiert den Sex für alle Zeiten als
Sündenfall.
Ohne Frage: Lars von Trier macht das gut. Zugleich es ist ungemein prätentiös: Der Teddy, der Zeitlupe in den Schnee fällt... Die bezaubernde Kirchenmusik dazu... Die Waschmaschine, die läuft?
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Auf die Vorwäsche folgt sozusagen der Hauptwaschgang: In der strengen Struktur von vier Akten, plus Epilog erzählt der Däne von jenem Paar, das sein Kind durch einen Unfall verloren hat, und das sich in einem Teufelskreis aus Trauer, Schuldvorwürfen und Wahn verstrickt. Das zumindest glaubt der Zuschauer vor der letzten halben Stunde. Denn da wandelt sich das zähe Beziehungsdrama, das die Selbstzerfleischung des Paares (intensiv gespielt von Charlotte Gainsbourg und Willem Dafoe) zeigt, von missglückter Therapie und einer Wanderung in einen symbolüberfrachteten Wald erzählt, in einen Horrorfilm mit Splatterelementen. Schon zuvor hatte man expliziten Sex gesehen, nun sieht man unter anderem einen Penis Blut ejakulieren, einen Bohrer das Bein des Mannes durchbohren, worauf durchs die Wunde ein Stahlstift getrieben und daran ein Mühlstein festgebunden wird. ebenfalls ohne Narkose schneidet sich die Frau mit einer Schere die Klitoris ab – und dies sind nur die Grausamkeitshöhepunkte des Films. Der Hintergrund des Ganzen: Die Frau und Mutter stellt sich als Hexe heraus, der Tod des Kindes als Frucht religiösen Wahns – und wie im klassischen Horrorfilm kämpft der Mann, als er endlich erkannt hat, was Sache ist, ums Überleben...
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Der Film wie gesagt ist in gewissem Sinn eine erschütternde Erfahrung. Eine erschöpfende auch. Denn nach dem schönen Anfang und vor der letzten halben Stunde, wo der Film plötzlich anzieht, ist es erst einmal auch ziemlich zäh und langweilig. Der Film geht einem einfach auf die Nerven. Im Rückblick kann man sagen: Absicht. Von Trier will uns einlullen, und uns vorbereiten auf die Aufgaben, die noch kommen. Man kann aber auch sagen: Der Film hat keine Ökonomie.
In jedem Fall ist er
gepflastert mit Zeichen in gerade barocker Fülle und Plastizität. Ein Fall fürs Dechiffriersyndikat: Man sieht sprechende Füchse, erschlagene Vögel, ein Reh mit der Totgeburt aus dem Bauch heraushängend, eine Hütte im Wald, die Eden heißt, Goya-Bilder anderes über Wahnsinn, Hexen und böse Priester, einen Dialog über den Gegensatz von Natur und Vernunft. Den Kern von alldem verrät dann aber mit sonderbarer Offenheit bereits der Trailer zum Film. Aber auf die Frage, warum er
diesen Film gemacht hat, bleibt von Trier vorerst die Antwort schuldig. So fragt man sich vorerst: Ist Lars von Trier ein Frauenfeind oder doch ein heimlicher Feminist? Ist er ein perverser Zyniker oder ein Genie? Oder einfach nur wahnsinnig?
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Denn irgendwie ist das natürlich auch ein Riesen-Scheiß. Egozentrisch, arrogant, manieriert. Vergleicht man Antichrist mit Kinatay, dann muss man zugeben, dass Mendoza etwas riskiert, während Lars von Trier imme auf der sicheren Seite bleibt. Er kann sich so einen Film erlauben. Er erzählt eine einfache Geschichte,
Einmal mehr entpuppt sich von Trier jedenfalls als Kino-Hexer, der sein Publikum verzaubert und dabei in Rage versetzt. Sein Film will genau das, was alle Kunst am Ende will: Das Ausreizen menschlicher Extreme und die Konfrontation mit ihnen. Und die allerinteressanteste Erfahrung an diesem Tag 1 nach der Antichrist-Premiere ist nun die Unsicherheit der allermeisten darüber, was man vom Antichrist zu halten hat. Viele hassen diesen Film und schätzen zugleich doch seine Qualität. Wenn Kunst das leistet, ist sie noch nicht verloren. Und Lars von Trier braucht keine Therapie; er hat sie längst. Seine Therapie ist das Kino.
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Düstere Blicke, lange Bärte, nicht ein Funken Humor – Tsar von Pavel Lungin ist genau so, wie man sich, in seinen schlimmsten Befürchtungen, einen russischen Kostüm-Film vorstellt. Man sieht eine Welt aus Schnee und Dreck, Menschen mit Pelzmützen und religiösen Visionen, arme Bauern und weise Priester. Und selbst der Mann an der Spitze des Staates friert und hat längst statt Zähnen schwarze Stümpfe im Mund.
Der Zar, um den es hier geht, ist Iwan der Schreckliche (1530-1584). Ein Thema mit Tradition, schließlich verfilmte schon Sergej Eisenstein das Leben dieses Zaren, seinerzeit im Auftrag Stalins, als Nation-Building-Epos um die Sowjetunion propagandistisch in die Kontinuität einer tausendjährigen russischen Nationalgeschichte zu integrieren, und unausgesprochene Parallelen zu ziehen, zwischen dem Generalsekretär des ZK der KPdSU und dem selbsternannten »neuen Caesar«, als Verteidiger des Reiches gegen ausländische Invasoren. Aber ansonsten gibt es nur wenige Bücher über diesen Zaren, als ob dieser Teil der russischen Geschichte bis heute ein Tabu sei.
Lungin erzählt Iwans Leben nun als die Geschichte eines religiösen Wahns und der Kirchenmacht. Über einen Herrscher, der Sendungsbewusstsein mit Angst verbindet, und der Überzeugung, die Apokalypse stehe unmittelbar bevor. Iwan sieht um sich herum nur Hölle – doch dann rettet die Kirche den Zar. »Wenn Du Gutes tust, ist Dein Wille auch der Wille Gottes« sagt ihm der Metropolit der orthodoxen Kirche.
»Die politische Kultur Russlands ist bis heute durch den Zwiespalt zwischen Fanatismus und Gottesfurcht dominiert.« kommentiert der Regisseur. Formal wirkt Lungins Film zwar wie durchschnittliches 70er-Jahre-Fernsehen, inhaltlich ist es eine versteckte Verherrlichung der orthodoxen Kirche – »der Metropolit Philip opferte sein Leben, um andere zu retten. Er ist bis heute mit uns!« – und eine offene Allegorie auf das russische Reich des 21. Jahrhunderts, auf die Autokratenherrschaft des Vladimir Putin: »Macht wird in Russland immer als göttliches Recht aufgefasst«, so Lungin, »Macht, die nicht absolut ist, ist keine. Die Person an der Spitze repräsentiert Gott auf Erden. Jeder, der ihn nicht anbetet, muss bestraft werden.«
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Im nächsten Film ist der nackte Rücken von Sophie Marceau das erste, was man sieht. Sie steht allein vor dem Spiegel, daneben an der Wand hängen Bilder aus früheren Zeiten. Wer die Karriere von Sophie Marceau verfolgt hat, der kennt ein paar davon. Und darum ist dieser Film, auch wenn Sophie Marceau hier Jeanne heißt, auch und nicht zuletzt ein Meditation über diese Schauspielerin, über ihre öffentliche Persona, ihre Wirkung und Schönheit, über ihre Inszenierung. Man sieht ihr zu, wie sie sich fertig macht, wie sie sich abschminkt, wie sie sich betrachtet. Es ist Nacht, gleich wird sie zu Bett gehen. Einmal ganz kurz sieht man sie, wie sie ihre Falten unter den Augen mit einem Foto von früher vergleicht.
Zunächst scheint der Film eine nicht mehr ganz junge Frau in ihrem Alltag zu begleiten. Wir erfahren: Sie ist erfolgreiche Journalistin. Jetzt hat sie einen Roman begonnen, der auf autobiographischem Material beruht. Ihr Vater, der Verleger ist, will ihr den Plan ausreden. Zu detailliert sei das Buch, sie finde keine Form. Wir erfahren: Jeanne hat keine Erinnerung an die Zeit, bevor sie acht Jahre alt war. Nun will sie ihre »Kindheit wiederfinden«. Zuvor sah man sie in einem Zimmer des Verlags Hachette sitzen. Über sich Fotografien einiger der wichtigsten französischen Geistesgrößen: Sartre, Baudelaire, Foucault, Yourcenar, Rinbaud. Alles Autoren die in ihrem Werk die Zersplitterung des modernen Ichs in den Blick nahmen, und versuchten, diese Splitter auf ihre je eigene Weise wieder zusammen zu setzen. Kurz darauf sieht man wie zufällig Filmplakate von Casablanca und Inland Empire, kleine klare Verweise auf die filmische Landschaft des Noir und Neo-Noir, in der dieser Film zuhause ist.
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Das Ich ist eine Andere: Was dann in den folgenden Minuten passiert, ist merkwürdig: Erste Irritationen nehmen schnell zu, Jeanne hat das Gefühl, die Möbel in der Wohnung sind anders gestellt, sie erkennt Unordnung, wo zuvor keine war, Dinge scheinen spiegelverkehrt, und ihr Mann und ihre Kinder scheinen Unbekannten Zeichen zu geben. Erst bleibt es noch in der Schwebe, dann geht der Film mit schnellen Schritten voran: Jeanne wird eine andere. Eine andere Frau kriecht unter ihre Haut. Und die Erfahrung des Zuschauers ist noch irritierender: Denn er sieht, wie aus Sophie Marceau Monica Bellucci wird, wie beide Starschauspielerinnen miteinander verschmelzen – technisch elegant gelöst mit bekannten Morphing-Verfahren, aber als Spiel mit Unverwechselbarkeit und Austauschbarkeit der Star-Image eine so ironische wie aufregende Erfahrung.
Ne te retourne pas heißt der neue Film der Französin Marina van Dan, der jetzt in Cannes in der Sektion »Un certain regard« gezeigt wurde. Der neue Film dieser Beobachterin spezifisch weiblicher Grenzerfahrungen (Dans ma peau) handelt von Ich-Verlust, vom Gefühl plötzlich ein Fremder zu sein, überall nur Veränderung zu sehen. Die Wissenschaft hat dafür Begriffe, das Gefühl ist das des Nervenzusammenbruchs. Das Geheimnis des Geschehens, das erwartbar in der Kindheit von Jeanne liegt, in den natürlich nicht grundlos vergessenen, sondern verdrängten ersten acht Jahren, wird am Ende enthüllt. Aber im Gedächtnis bleibt Ne te retourne pas weniger als solider und stilsicherer Neo-Noir in altmodischen 70er-Jahre-Atmosphären, den man eines Tages zumindest auf DVD wird in Deutschland sehen können. Sondern als ein Horrorfilm, bei dem wie zum Trost die Kamera immer wieder minutenlang auf dem schönen Gesicht von Sophie Marceau ruht.