62. Filmfestspiele Cannes 2009
Terry Gilliams Imaginäres |
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Heath Ledger in Gilliams Imaginarium | ||
(Foto: Leonine Distribution GmbH) |
Cannes, das ist Taktik, nicht Strategie. Man hat keine Freizeit in Cannes, sondern immer fünf bis zehn Möglichkeiten gleichzeitig, zwischen denen man entscheiden und jonglieren muss. Und in diesem Jahr ist das Festival anstrengend, weil es kaum Filme gibt, auf die man verzichtet. So müssen wir hier jeden Morgen um 8.30 im Kino sitzen, eigentlich schon eine Viertelstunde früher, um einen anständigen Platz zu haben. Und die letzte Vorstellung ist gegen 22 Uhr zu Ende. Dazwischen schreiben, etwas essen. Danach kann man sowieso nicht schlafen, also geht man auf eine Party, oder sitzt mit Kollegen zusammen. Aber man muss immer offen sein für den überraschenden Moment, für eine zusätzliche Einladung, eine spontane Begegnung, ein Film, der einem empfohlen, wird, oder in den man einfach geht, weil, man jemand begleitet. Von diesen persönlichen Begegnungen und den Partys haben wir in diesem Jahr weniger erzählt, als in früheren Jahren – denn die Filme gehen in diesem Jahr jedenfalls vor. Der Rest wird nachgeliefert.
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Es war einer der stärksten Wettbewerbe des letzten Jahrzehnts. Man musste und wollte nahezu alle dieser Filme sehen. Trotzdem war auch wiederum kaum ein Film perfekt. Es gab keine echten Überraschungen, überhaupt keine Entdeckungen, und eigentlich gar nicht diesen Typus Film, der zwar unperfekt ist, das aber ungemein interessant. Es gab nichts wirklich Lustvolles, nichts wofür man sich stundenlang streiten möchte, sieht man einmal von der Aufregung um Antichrist ab. Auch ist am Ende die Favoritenlage seltsam offen: Nicht weniger als acht Filme sind ernsthafte Kandidaten auf die Goldene Palme.
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In diesem Jahr fällt auch auf, dass man hier die Filme konsequent so programmiert, dass sie thematisch zusammenpassen. Das stimmt nicht immer, zumindest haben wir die Ähnlichkeiten zwischen Inglourious Basterds und Das weiße Band noch nicht entdeckt. Aber doch ziemlich oft. Der zweite Freitag des Festivals war ganz eindeutig der »Tag der durchgeknallten Filme«, jener Werke also, für die man ein gewisses Wohlwollen braucht, und die unter der unbedingten Voraussetzung stehen, »einen Trip« oder so etwas abzubilden.
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Der erste am Morgen war der neue Film von Terry Gilliam, dem Don Quixote, Lügenbaron und Märchenerzähler des Kinos (12 Monkeys, Münchhausen). Er heißt The Imaginarium of Doctor Parnassus und könnte auch gleich »The Imaginarium of Doctor Gilliam« heißen. Ein typischer Terry Gilliam-Film, der alle seine Themen vereint und vieles zeigt, was man schon langer von Gilliam kennt. Etwas Neues zeigt er hier nicht wirklich, und er hat auch schon bessere Filme gemacht, aber nach der ersten, ziemlich zähen halben Stunde ist dies ein schöner, sehr unterhaltsamer Film
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Es passt dazu, dass er auch noch einen weiteren »letzten Auftritt« von Heath Ledger bietet, nun wirklich – nach Todd Haynes I’m Not There, und dem Joker in Christopher Nolans Batman-Spektakel The Dark Knight – der allerallerletzte, jedenfalls bevor es üblich wird, Darsteller per Animation wieder zum Leben zu erwecken, und Ledger dann auch mal mit Marilyn Monroe knutschen darf...
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Die Anfangscredits sind in Spiegelschrift geschrieben, und es geht los mit »London, England«, und dem Blick auf Obdachlose und eine altmodische Kutsche. Nun könnte gut eine Geschichte von Dickens beginnen, doch dann hört man shitty Techno-Klänge, sieht moderne Autos und begreift: Die Handlung spielt in der Gegenwart. Die Kutsche transportiert eine fahrende Bühne und von diesen ersten Minuten an ist der Film auch eine Feier des Kinos als Jahrmarktsvergnügen, seiner Ursprünge in billigen Sensationen, starken Reizen, dreisten Tricks, in der Bezauberung und Überwältigung des Publikums. Einmal fällt im Film der Satz: »There is no such thing as black magic. Only cheap tricks.« Terry Gilliam erzählt dabei in seinem ersten eigenen Storyboard seit Munchausen natürlich auch unbedingt viel über sich selbst, einen alten Geschichtenerzähler, dessen besondere Begabung darin liegt, jedem genau das zu bieten, was er sucht und bekommen will.
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Dieser Doctor Parnassus, so stellt sich heraus, ist unsterblich, er erzählt nicht irgendeine Geschichte, sondern »the eternal story«. Und sein ständiger Gegenspieler ist, mal wieder muss man sagen bei diesem Filmfestival, der Teufel. Gespielt von einem wunderbaren Tom Waits als zigarrenkauendem, melonetragendem Chicago-Boy will er den Erzählfluss stoppen und das »Ende der Geschichte« bewirken – wer das nicht auch als Metapher auf den Neoliberalismus und Gilliams
private Geschichtsphilosophie begreift, unterschätzt Terry Gilliams Interessen, wie seine Intelligenz. So ist dies auch eine politisierte Fantasyversion des Faust, nur dass der Kampf zwischen Parnassus und Teufel, zwischen poetischem Geschichtenerzähler – »You can’t stop stories beeing told.« – und prosaischem Bilanzenverkünder ewig ist.
Auch des Parnassus' geheimnisvolles »Imaginarium« ist nicht ganz von dieser Welt, inmitten des
kunterbunten, schrillen Jahrmarktsklimbim verbirgt sich vielmehr ein Spiegel, der das Eingangstor in ein Zauberreich bildet.
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Nun: Auftritt Heath Ledger. Ausgerechnet als Gehenkter, an einem Seil unter einer Themse-Brücke baumelnd. Er wird wiederbelebt, oder besser: gerettet, und belebt nun auch die abgetakelte Theatertruppe des Parnassus, zu der dessen jungfräuliche Tochter, ein Zwerg, und der Jüngling Anton gehören. Was es genau aber mit diesem Tony auf sich hat, weiß keiner, man weiß nur, dass er von der Russenmafia verfolgt wird. Während Parnassus und seine Tochter ihn ins Herz schließen, gilt er den anderen nur als »Rattlesnake«.
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Stilistisch ist der Film von Anfang bis Ende überbordend. Eine verkitschte LSD-Phantasie, ein wild-chaotisches Spiel mit Zitaten und Versatzstücken, überraschend nahe an der seventies-Ästhetik der Monty Pythons. Ledgers Tod inmitten des Drehs (durch Selbstmord oder Drogenrausch) hat dazu auch das Seine getan, und dem Film zusätzlich genutzt. Denn die »physischen Transformationen« der Tony-Figur, die in bestimmten Passagen des Films durch Johnny Depp, Jude Law und Colin Farrell gespielt werden, geben allem ein zusätzliches phantastisches Element – und Depp ist hier, nebenbei gesagt, ganz eindeutig viel viel besser, als Ledger.
Zugleich ist es makaber, wie sehr dieses Rolle mit Todes- und Vergänglichkeitsmotiven spielt: ein Überspannter, Todesnaher, der noch zwei weitere Male in diesem Film gehenkt wird, und wieder aufersteht – bevor er endgültig sterben muss.
Zugleich ist The Imaginarium of Doctor Parnassus noch etwas ganz anderes: Eine Satire aufs Cool Britannia-London der New Labour-Ära Tony Blairs: Es geht um Materialismus, der Film macht sich über saufende Yuppies genauso lustig wie über Desperate Housewives in den Shopping-Malls. Vor allem aber über Blair selbst. Denn Tony wird im letzten Drittel entlarvt als »Tony the Liar«, als Millionär, der die Medien verzaubert, der sich gern mit dem Dalai Lama photographieren lässt, und über eine Kinderhilfsstiftung ein Charity-Business betreibt, das ihm vor allem viel Geld in die eigene Tasche spielt. Ein sehr guter Film also. Hätte er nicht ein konformistisches Ende voller Spießerglücks-Phantasien und wäre die Kamera ähnlich phantasievoll wie der Rest, wäre er richtig groß.
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Ein kleiner zusätzlicher Lesetip: Überaus lesenswert, da voller Fachverständnis, Filmliebe und Anekdoten auch jahrzehntelanger Cannes-Erfahrung und überdies gut geschrieben, ist der Cannes-Blog des US-Kritikerpapstes Roger Ebert.
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Der zweite Film des Tages war dann Visage von Tsai Ming-liang. Ich muss hier zur ersten Person Singular wechseln und zugeben, dass ich noch nie verstanden habe, was manche an diesem Regisseur so toll finden, der gerade unter Filmkritikern (und offenbar Festivalchefs) eine große Fangemeinde hat. Ich erinnere mich noch an jene Szene aus Goodbye, Dragon Inn (2003), in der man zwei Männern auf der Herrentoilette beim Pinkeln zuguckt – und die Dauer des Wasserstrahls läßt auf einen angeschlossenen Zehn-Liter-Tank schließen. Oder an jene Szene aus dem gleichen Film, in dem eine gehbehinderte Frau minutenlang einen langen Gang entlang humpelt, von rechts oben in der Leinwand nach links unten. als sie dann angekommen ist – dreht sie sich um, und humpelt zurück. Aber wie gesagt: Tsai hat Fans. In Visage allerdings vergällt er auch Hartgesottene unter ihnen. Es war interessant, zu beobachten, wie am Anfang im vollbepackten Salle Bazin, wo die Luft schon vor Beginn der Vorführung unglaublich schlecht ist, man vorher gegessen haben sollte – aber nicht zu viel – und in jedem Festivaljahr irgendwann ein Zuschauer ohnmächtig herausgetragen wird, wie hier also eine Andachtsstimmung herrschte, als begänne gleich ein Gottesdienst. Für zusätzliche Aufmerksamkeit der Franzosen sorgte, dass der Meister diesmal in Paris gedreht hatte – mit Laetitia Casta, Fanny Ardant und Jean-Pierre Leaud, der hier wieder mal als Nouvelle-Vague-Fetisch eingesetzt wurde. Aber all dies machte es eher noch schlimmer. Denn wenn Taiwanesen in Taiwan drehen, dann gibt es immerhin noch etwas zu sehen, was man nicht kennt. Aber schon Hou Hsiao-hsien hatte im letzten Jahr mit Journey In the Red Balloon nur einen pittoresken Paris-Werbeprospekt vorgelegt. Und auch Tsais Bilder entpuppten sich größtenteils als lackierte Werbeposter, mit denen man Pelzmäntel oder Luxusparfüm verkaufen könnte. In Paris bleibt immer Paris der Star.
Wobei mir immerhin die dritte Szene des Films gut gefiel. Sie spielt noch in Taiwan: Da sah man die Hauptfigur einen Kaffee kochen und stellte sich auf Tsai typische Längen ein – doch plötzlich, als der Wasserhahn aufgedreht wurde, explodierte der und ein immer größerer Wasserstrahl spritzte aus der Leitung. Vergebens versuchte der Mann das Wasser zu stoppen, und diese hilflosen Versuche hatten einen großen absurden Witz. Der Rest aber hätte vielleicht noch zu Beginn dieses anstrengenden Festivals seine verdiente Geduld gefunden. An dessen Ende aber war er nur noch zum Gähnen. Und reihenweise verließen die Menschen den Saal.
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Fast ganz am Schluss gibt es dann ein bisschen Porno, etwa ein halbes Dutzend Varianten japanischer Sexspiele und Point-of-view-Kameraeinstellungen von einer europäischen Frau beim Geschlechtsverkehr. Davor warten allerdings ganz andere Herausforderungen auf den Zuschauer: »Tokio auf Acid« oder »Die Befreiung Tibets durch Meditation« könnte dieser Film auch heißen. Ein tibetanisches Totenbuch spielt in ihm eine wichtige Rolle, und das diesjährige Cannes-Zentralthema der Religion: »All the same: the catholic, the protestant, the jews, the buddhist...« Auch »Antichrist« wäre ein vorstellbarer Titel...
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Man mag es kaum glauben, aber es ist wirklich schon sieben Jahre her, dass Gaspar Noé die Filmwelt, nicht nur die von Cannes, nachhaltig erschütterte. Irréversible hieß der Skandalfilm des schon zuvor als Skandalregisseurs bekannten und je nach Standpunkt gehypten oder gefürchteten französischen Regisseurs. In dem Film wurde eine Frau in einem Tunnel unglaublich brutal und ziemlich lang vergewaltigt, und weil es so brutal war, machte es Skandal, und weil die Frau von Monica Bellucci gespielt wurde, waren die Medien hysterisch, und weil alles rückwärts und erlesenen Bildern erzählt wurde, war es Kunst. Allerdings machten es die hysterischen Reaktionen mancher, unter anderem der deutschen Medien, Noé auch leicht, sich zum Opfer von Kunstbanausen zu stilisieren, und weil dann natürlich auch irgendwer – »neue Väter« vielleicht oder alte Frauenrechtlerinnen – mit der Zensurforderung kam, musste man einen Film auch noch verteidigen, der einem dazu eher wenig Lust machte.
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Seitdem hat sich Gaspar Noé ziemlich lang Zeit genommen, um über sein neues Projekt nachzudenken. Vielleicht hat er auch andere Dinge genommen, und nicht so sehr gedacht, sondern gefühlt oder sich vor allem treiben lassen, vom Strom des Seins, vom Sog des Lebens, von der Sexyness nun ein weltweit bekannter Skandalregisseur zu sein.
Sein neuer Film Enter the Void hat ein wirklich schönes
Presseheft. Neonfarben auf schwarzem Grund, ein paar schöne Fotos von einem Paar, das im Sonnenlicht sitzt, einer Frau und einem Mann in Tokio. Wenn der Film so schön wäre wie das Presseheft, würde er die Goldene Palme gewinnen. Das ist er nicht, aber er ist stark, sehr stark, gerade weil er zu seinem Wahnsinn steht, dazu, eine völlig subjektive Version der Wirklichkeit zu bieten, eine persönliche Sicht auf die Welt und das Dasein, also genau, was der Autorenfilm seit jeher will.
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Enter the Void bedeutet soviel, wie hinein in die Leere und das darf man in diesem Fall wörtlich nehmen. Der Film nämlich ist vor allem einmal eine Leerstelle, allerdings eine, die zweieinhalb Stunden dauert, von denen fast jede Sekunde einzeln fühlbar wird. Das ist als Kompliment gemeint, denn wenn es überhaupt eine rationale Erklärung für diesen Film oder besser gesagt eine Rationalisierung geben sollte, dann ist sie die, dass es dem Regisseur darum ging ungesehene, nicht abgegriffene und angemessene Bilder für einen Drogentrip zu finden.
Die Droge, um die es hier vor allem geht – es geht auch ein wenig um jede andere, aber das würde die Dinge jetzt unnötig komplizieren – heißt DMT, und manche werden jetzt schon wissen, dass es sich um eine Party- und Schamanendroge handelt, über die Timothy Leary einiges geschrieben hat, eines der stärksten und extremsten Psychedelika, das oft mit spirituellen Einbildungen verbunden ist. wer DMT nimmt, kann im Rausch Gott »sehen« und andere Dimensionen. DMT wird im Gehirn kurz vor dem Todeseintritt ausgeschüttet und ist vermutlich die Quelle für alle gängigen Nahtoderfahrungen. Und um Nahtod geht es hier auch.
Die Bilder, die Noé für all das kreiert, sind nahe am Experimentalkino: Immer wieder mal schwurbelt die Kamera im Trance in ein Loch hinein, um aus einem anderen herauszukommen, einmal ist die Leinwand minutenlang weiß, sie blitzt wie in einem »Flicker-Film«. Zudem ist dies der erste Film, der etwas zu 50 Prozent von oben fotografiert ist. Wie der Blick eines besoffenen Engels blickt die Kamera auf die neonumleuchtete Stadt.
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Was immer es noch sein sollte, dies ist letztendlich dann doch ein, wenn auch interessant gescheiterter Film. Denn er ist insgesamt zu undiszipliniert, zu größenwahnsinnig, von Selbsteingenommenheit triefend, todernst, dadurch unfreiwillig komisch. Wie die Phantasien eines Drogenumnebelten eben.
Am Ende guckt die Kamera dann aus dem Inneren einer leinwandgroßen Vagina und sieht, wie ein Penis in sie eindringt und ejakuliert. Dann begleitet man die ausgestoßenen
Spermien auf ihrem Weg ins Innere des Körpers der Frau. Dann mal wieder Weiß, eine Geburt, das Zerschneiden einer Nabelschnur, Geburtsschreie... Offenbar hat Gaspar Noé beim Nachdenken was echt Wichtiges erfahren und uns das jetzt mitgeteilt.
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So genervt man von der Selbstbesoffenheit Noés auch sein kann – der versucht immerhin etwas. Ein Nichts ist dagegen die aufgeblasene Banalität von Marco Bellocchios Film über Mussolinis frühes Liebesleben.
»Il Duce«, der Duce, das geht den Italienern bis heute noch wesentlich leichter über die Lippen, als wir Deutschen auf den Gedanken kommen würden, familiär vom »Führer« zu reden, wenn wir Adolf Hitler meinen. In F orm eines Familienmelos hat sich nun auch Bellocchio
des Duces angenommen. Bellocchio (Buongiorno, notte), Angehöriger der Generation der Achtundsechziger, gilt als Linker, aber in Italien heißt das nicht viel: Weder sind die Linken dort automatisch geschmackssicherer, noch haben sie mehr Sinn für politische Fettnäpfchen. Wie Bellochios Film Vincere beweist.
Dabei ist die Geschichte seines Films ungemein
interessant. Basierend auf historischen Fakten, die vor allem Alfredo Pieronis Buch The Secret Son of Il Duce: The Story of Albino Mussolini and His Mother Ida Dalser und Marco Zenis Mussolini’s Wife offenlegte, erzählt Bellocchio von der heimlichen Zweitfamilie des Diktators.
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Ida Dalser hieß die junge Dame aus gutem Haus, die 1914 den jungen Mussolini in Mailand kennenlernte, als er noch als radikaler Sozialist die Partei-Zeitung Avanti! herausgab, was ihn allmählich in der politischen Landschaft Italiens bekannt machte. Dalser verliebte sich Hals über Kopf in Mussolini. In den nächsten Monaten steckte sie auch ihr ganzes Vermögen in die Finanzierung der Zeitung Il Popolo d’Italia, die Mussolini gründete, nachdem er wegen seiner Unterstützung von Italiens Weltkriegseintritt von den Sozialisten ausgeschlossen wurde – ein zentrales Element für den politischen Aufstieg Mussolinis und der Faschisten. 1915, Mussolini war an der Front, wurde der gemeinsame Sohn Benito Albino geboren.
Bereits seit 1914 war Mussolini aber bereits mit Frau Rachele verheiratet. Die Parallelfamilie verbarg er über zwei Jahrzehnte, um seine politische Karriere nicht zu gefährden. Später dann ließ er Frau und Sohn ins Irrenhaus stecken, wo sie unter traurigen Umständen starben.
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»Der Mussolini, den ich zeige, ist nicht der gütige pater familias, dessen einziger Fehler es war, sich mit Hitler zu verbünden, als der manchmal in unserem Fernsehen gezeigt wird.« sagte Bellocchio dem Corriere della Sera, »er ist ein gewälttätiger, berechnender, gnadenloser Mann – selbst gegenüber der Frau, die er liebte und gegenüber seinem eigenen Sohn.«
Bellocchio erzählt das Ganze aber leider vor allem im Stil einer daily soap als kitschige Märtyrergeschichte. Langweilige Fernsehbilder, Schnitt-Gegenschnitt-Dialoge, Kulissenschieberei, das ganze unterstützt durch immense Mengen von illustrierendem Dokumentarmaterial, die die den Film mehr zerstückeln als gliedern. Vor allem aber interessiert er sich überhaupt nicht für die politischen Vorstellungen seiner Heldin. Deren Motivation war, glaubt man dem Film, allein ihre sexuelle Abhängigkeit von dem überaus potenten und allzeit bereiten Diktator. Der Duce kann immer und überall, und da schaltet sich der Restverstand der politisch mindestens naiven Bürgerdame schnell aus. Damit reproduziert Bellocchio eher den Mythos des Duce, den er doch eigentlich demontieren möchte. Schon klar, dass Vincere von der sinnlichen Faszination des Faschismus, von seiner oft verdrängten sexuellen Komponente handeln möchte, der sich die Italiener schon des öfteren – Lina Wertmüllers Filme und in zahlreichen B-Movies (vgl. dazu Marcus Stigleggers Buch Sadiconazista – Sexualität und Faschismus im Film der siebziger Jahre bis heute) gewidmet haben. Aber was dann auf der Leinwand vor allem bleibt, ist die offene Identifikation des Regisseurs mit dem kommenden Diktator, wenn es um die Geilheit auf Frau Dalser, bzw. ihre Darstellerin Giovanna Mezzogiono geht.
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Zumindest in einer Hinsicht hat Lars von Trier bereits bekommen, was er wollte: Eigens für ihn erfand die ökumenische Jury, die von den beiden christlichen Kirchen gestellt wird, einen neuen Preis: Den anti-ökumenischen Preis für den antichristlichsten Film, in diesem Fall von Triers Antichrist. Da hat der Hieb offenbar gesessen. Zumindest könnte man sagen: Wenn die aufjaulen, die der Regisseur nicht mag, kann er nicht alles falsch gemacht haben.
Aber wer von Triers Film wirklich auf ein antichristliches Pamphlet reduzieren wollte, hat zumindest nicht besonders genau hingeguckt. Denn viel zu klug und subtil spielt von Trier mit religiösen Motiven, als dass er nur »dagegen« wäre. Zumindest nimmt er Religionen ernst – und dafür sollten diese doch schon einmal dankbar sein. Zumindest die beiden (auch theologisch gebildeten) Vertreter der beiden deutschen Filmmagazine, die – aus historischen Gründen: Dem Outsourcen der staatlichen Filmzensur nach 1945 – von den christlichen Konfessionen getragen werden, dem (einst katholischen) Filmdienst und dem evangelischen epd-film, Josef Lederle und Rudolf Worschech konnten dem Film viel abgewinnen. Lederle schreibt in seinem Cannes-Tagebuch im Internet voller Respekt von einem »raffiniert konstruierten« Film, von »fintenreichem Kopf-Kino«, »exzessiven Bildern und Schockelementen«, deren Potential ausreiche, »um Antichrist nicht so schnell ad acta legen zu können.«
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Der Hauptpreis der ökumenischen Jury ging dann erwartbar an einen Gutmenschenfilm, an Ken Loach blassen Looking for Eric, an dem die Jury das optimistische, humanistische Weltbild lobt, »Freundschaft, Solidarität, die Bedeutung der Familie«. Aber es hat ja auch niemand behaupt, dass die Ökumenen Filmkunst auszeichnen würden.
Das sollte dafür die Fipresci tun, der internationale Kritikerverband, der auf den meisten Festivals eine eigene Jury stellt. Und mit dem Preis für Michael Hanekes Das weiße Band, eine protestantische strenge Analyse der kulturell-politischen Konsequenzen des Protestantismus, wurde er dieser Aufgabe auch gerecht. Die Kritikerpreise der Nebensektionen
gingen an Politist, adjectiv vom Rumänen Corneliu Porumboiu und an Amreeka von Cherien Dabis.
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Den Hauptpreis der Sektion »Un Certain Regard« gewann einer der kontroversesten Filme der Reihe: Dogtooth vom Griechen Yorgos Lanthimos. In schön fotografierten, ruhigen klaren Bildern erzählt er eine beklemmende Geschichte: Von einem Vater, der seine drei inzwischen erwachsenen Kinder zuhause in formal sanfter, aber sadomasochistisch strukturierter und totalitärer Gefangenschaft hält – und sie nach den Prinzipien der Hundeerziehung »erzieht«. Das hat absurde und zumindest für den Betrachter komische Seiten. Das ist aber auch extrem brutal: Unter anderem sieht man rohe Gewalt der Familie untereinander, aber auch gegen sich selber – so schlägt eine Tochter sich irgendwann selbst den Eckzahn aus – und man sieht wie der Sohn des Hauses eine Katze – Hunde mögen bekanntlich keine Katzen – mit einer Heckenschere tötet. Aber auch solche Szenen tragen bei zur strengen Faszination, die dieser Film ausstrahlt.
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Das größte Erlebnis beim Preisscreening war dann allerdings doch, das Publikum während des Films zu beobachten. Denn wie gesagt: Dogtooth enthält etwa alle drei, vier Minuten einen mehr oder weniger geschmacklosen Moment, und mindestens alle zehn Minuten eine Szene, bei der die Hälfte des Saals aufstöhnt und sich viele die Augen zuhalten. So war die Vorführung ständig begleitet von herauslaufenden Zuschauern, meistens so fünf, sechs pro Szene, bei besonders harten wie der mit der Katze oder der mit dem Zahn waren es dann auch mal zehn bis 15.