24.05.2009
62. Filmfestspiele Cannes 2009

Terry Gilliams Imaginäres

Imaginarium
Heath Ledger in Gilliams Imaginarium
(Foto: Leonine Distribution GmbH)

Man stirbt nur dreimal: Heath Ledger, Buddhismus, der große und der kleine Tod, der Tag der durchgeknallten Filme

Von Rüdiger Suchsland

Cannes, das ist Taktik, nicht Strategie. Man hat keine Freizeit in Cannes, sondern immer fünf bis zehn Möglich­keiten gleich­zeitig, zwischen denen man entscheiden und jonglieren muss. Und in diesem Jahr ist das Festival anstren­gend, weil es kaum Filme gibt, auf die man verzichtet. So müssen wir hier jeden Morgen um 8.30 im Kino sitzen, eigent­lich schon eine Vier­tel­stunde früher, um einen anstän­digen Platz zu haben. Und die letzte Vorstel­lung ist gegen 22 Uhr zu Ende. Dazwi­schen schreiben, etwas essen. Danach kann man sowieso nicht schlafen, also geht man auf eine Party, oder sitzt mit Kollegen zusammen. Aber man muss immer offen sein für den über­ra­schenden Moment, für eine zusätz­liche Einladung, eine spontane Begegnung, ein Film, der einem empfohlen, wird, oder in den man einfach geht, weil, man jemand begleitet. Von diesen persön­li­chen Begeg­nungen und den Partys haben wir in diesem Jahr weniger erzählt, als in früheren Jahren – denn die Filme gehen in diesem Jahr jeden­falls vor. Der Rest wird nach­ge­lie­fert.

+ + +

Es war einer der stärksten Wett­be­werbe des letzten Jahr­zehnts. Man musste und wollte nahezu alle dieser Filme sehen. Trotzdem war auch wiederum kaum ein Film perfekt. Es gab keine echten Über­ra­schungen, überhaupt keine Entde­ckungen, und eigent­lich gar nicht diesen Typus Film, der zwar unperfekt ist, das aber ungemein inter­es­sant. Es gab nichts wirklich Lust­volles, nichts wofür man sich stun­den­lang streiten möchte, sieht man einmal von der Aufregung um Anti­christ ab. Auch ist am Ende die Favo­ri­ten­lage seltsam offen: Nicht weniger als acht Filme sind ernst­hafte Kandi­daten auf die Goldene Palme.

+ + +

In diesem Jahr fällt auch auf, dass man hier die Filme konse­quent so program­miert, dass sie thema­tisch zusam­men­passen. Das stimmt nicht immer, zumindest haben wir die Ähnlich­keiten zwischen Inglou­rious Basterds und Das weiße Band noch nicht entdeckt. Aber doch ziemlich oft. Der zweite Freitag des Festivals war ganz eindeutig der »Tag der durch­ge­knallten Filme«, jener Werke also, für die man ein gewisses Wohl­wollen braucht, und die unter der unbe­dingten Voraus­set­zung stehen, »einen Trip« oder so etwas abzu­bilden.

+ + +

Der erste am Morgen war der neue Film von Terry Gilliam, dem Don Quixote, Lügen­baron und Märchen­er­zähler des Kinos (12 Monkeys, Münch­hausen). Er heißt The Imagi­na­rium of Doctor Parnassus und könnte auch gleich »The Imagi­na­rium of Doctor Gilliam« heißen. Ein typischer Terry Gilliam-Film, der alle seine Themen vereint und vieles zeigt, was man schon langer von Gilliam kennt. Etwas Neues zeigt er hier nicht wirklich, und er hat auch schon bessere Filme gemacht, aber nach der ersten, ziemlich zähen halben Stunde ist dies ein schöner, sehr unter­halt­samer Film

+ + +

Es passt dazu, dass er auch noch einen weiteren »letzten Auftritt« von Heath Ledger bietet, nun wirklich – nach Todd Haynes I’m Not There, und dem Joker in Chris­to­pher Nolans Batman-Spektakel The Dark Knight – der aller­al­ler­letzte, jeden­falls bevor es üblich wird, Darsteller per Animation wieder zum Leben zu erwecken, und Ledger dann auch mal mit Marilyn Monroe knutschen darf...

+ + +

Die Anfangs­credits sind in Spie­gel­schrift geschrieben, und es geht los mit »London, England«, und dem Blick auf Obdach­lose und eine altmo­di­sche Kutsche. Nun könnte gut eine Geschichte von Dickens beginnen, doch dann hört man shitty Techno-Klänge, sieht moderne Autos und begreift: Die Handlung spielt in der Gegenwart. Die Kutsche trans­por­tiert eine fahrende Bühne und von diesen ersten Minuten an ist der Film auch eine Feier des Kinos als Jahr­markts­ver­gnügen, seiner Ursprünge in billigen Sensa­tionen, starken Reizen, dreisten Tricks, in der Bezau­be­rung und Über­wäl­ti­gung des Publikums. Einmal fällt im Film der Satz: »There is no such thing as black magic. Only cheap tricks.« Terry Gilliam erzählt dabei in seinem ersten eigenen Story­board seit Munchausen natürlich auch unbedingt viel über sich selbst, einen alten Geschich­ten­er­zähler, dessen besondere Begabung darin liegt, jedem genau das zu bieten, was er sucht und bekommen will.

+ + +

Dieser Doctor Parnassus, so stellt sich heraus, ist unsterb­lich, er erzählt nicht irgend­eine Geschichte, sondern »the eternal story«. Und sein ständiger Gegen­spieler ist, mal wieder muss man sagen bei diesem Film­fes­tival, der Teufel. Gespielt von einem wunder­baren Tom Waits als zigar­ren­kau­endem, melo­ne­tra­gendem Chicago-Boy will er den Erzähl­fluss stoppen und das »Ende der Geschichte« bewirken – wer das nicht auch als Metapher auf den Neoli­be­ra­lismus und Gilliams private Geschichts­phi­lo­so­phie begreift, unter­schätzt Terry Gilliams Inter­essen, wie seine Intel­li­genz. So ist dies auch eine poli­ti­sierte Fanta­sy­ver­sion des Faust, nur dass der Kampf zwischen Parnassus und Teufel, zwischen poeti­schem Geschich­ten­er­zähler – »You can’t stop stories beeing told.« – und prosa­ischem Bilan­zen­ver­künder ewig ist.
Auch des Parnassus' geheim­nis­volles »Imagi­na­rium« ist nicht ganz von dieser Welt, inmitten des kunter­bunten, schrillen Jahr­marktsklimbim verbirgt sich vielmehr ein Spiegel, der das Eingangstor in ein Zauber­reich bildet.

+ + +

Nun: Auftritt Heath Ledger. Ausge­rechnet als Gehenkter, an einem Seil unter einer Themse-Brücke baumelnd. Er wird wieder­be­lebt, oder besser: gerettet, und belebt nun auch die abge­ta­kelte Thea­ter­truppe des Parnassus, zu der dessen jung­fräu­liche Tochter, ein Zwerg, und der Jüngling Anton gehören. Was es genau aber mit diesem Tony auf sich hat, weiß keiner, man weiß nur, dass er von der Russen­mafia verfolgt wird. Während Parnassus und seine Tochter ihn ins Herz schließen, gilt er den anderen nur als »Ratt­les­nake«.

+ + +

Stilis­tisch ist der Film von Anfang bis Ende über­bor­dend. Eine verkitschte LSD-Phantasie, ein wild-chao­ti­sches Spiel mit Zitaten und Versatz­stü­cken, über­ra­schend nahe an der seventies-Ästhetik der Monty Pythons. Ledgers Tod inmitten des Drehs (durch Selbst­mord oder Drogen­rausch) hat dazu auch das Seine getan, und dem Film zusätz­lich genutzt. Denn die »physi­schen Trans­for­ma­tionen« der Tony-Figur, die in bestimmten Passagen des Films durch Johnny Depp, Jude Law und Colin Farrell gespielt werden, geben allem ein zusätz­li­ches phan­tas­ti­sches Element – und Depp ist hier, nebenbei gesagt, ganz eindeutig viel viel besser, als Ledger.

Zugleich ist es makaber, wie sehr dieses Rolle mit Todes- und Vergäng­lich­keits­mo­tiven spielt: ein Über­spannter, Todes­naher, der noch zwei weitere Male in diesem Film gehenkt wird, und wieder aufer­steht – bevor er endgültig sterben muss.

Zugleich ist The Imagi­na­rium of Doctor Parnassus noch etwas ganz anderes: Eine Satire aufs Cool Britannia-London der New Labour-Ära Tony Blairs: Es geht um Mate­ria­lismus, der Film macht sich über saufende Yuppies genauso lustig wie über Desperate House­wives in den Shopping-Malls. Vor allem aber über Blair selbst. Denn Tony wird im letzten Drittel entlarvt als »Tony the Liar«, als Millionär, der die Medien verzau­bert, der sich gern mit dem Dalai Lama photo­gra­phieren lässt, und über eine Kinder­hilfs­stif­tung ein Charity-Business betreibt, das ihm vor allem viel Geld in die eigene Tasche spielt. Ein sehr guter Film also. Hätte er nicht ein konfor­mis­ti­sches Ende voller Spießer­glücks-Phan­ta­sien und wäre die Kamera ähnlich phan­ta­sie­voll wie der Rest, wäre er richtig groß.

+ + +

Ein kleiner zusätz­li­cher Lesetip: Überaus lesens­wert, da voller Fach­ver­s­tändnis, Filmliebe und Anekdoten auch jahr­zehn­te­langer Cannes-Erfahrung und überdies gut geschrieben, ist der Cannes-Blog des US-Kriti­ker­papstes Roger Ebert.

+ + +

Der zweite Film des Tages war dann Visage von Tsai Ming-liang. Ich muss hier zur ersten Person Singular wechseln und zugeben, dass ich noch nie verstanden habe, was manche an diesem Regisseur so toll finden, der gerade unter Film­kri­ti­kern (und offenbar Festi­val­chefs) eine große Fange­meinde hat. Ich erinnere mich noch an jene Szene aus Goodbye, Dragon Inn (2003), in der man zwei Männern auf der Herren­toi­lette beim Pinkeln zuguckt – und die Dauer des Wasser­strahls läßt auf einen ange­schlos­senen Zehn-Liter-Tank schließen. Oder an jene Szene aus dem gleichen Film, in dem eine gehbe­hin­derte Frau minu­ten­lang einen langen Gang entlang humpelt, von rechts oben in der Leinwand nach links unten. als sie dann ange­kommen ist – dreht sie sich um, und humpelt zurück. Aber wie gesagt: Tsai hat Fans. In Visage aller­dings vergällt er auch Hart­ge­sot­tene unter ihnen. Es war inter­es­sant, zu beob­achten, wie am Anfang im voll­be­packten Salle Bazin, wo die Luft schon vor Beginn der Vorfüh­rung unglaub­lich schlecht ist, man vorher gegessen haben sollte – aber nicht zu viel – und in jedem Festi­val­jahr irgend­wann ein Zuschauer ohnmächtig heraus­ge­tragen wird, wie hier also eine Andachts­stim­mung herrschte, als begänne gleich ein Gottes­dienst. Für zusätz­liche Aufmerk­sam­keit der Franzosen sorgte, dass der Meister diesmal in Paris gedreht hatte – mit Laetitia Casta, Fanny Ardant und Jean-Pierre Leaud, der hier wieder mal als Nouvelle-Vague-Fetisch einge­setzt wurde. Aber all dies machte es eher noch schlimmer. Denn wenn Taiwa­nesen in Taiwan drehen, dann gibt es immerhin noch etwas zu sehen, was man nicht kennt. Aber schon Hou Hsiao-hsien hatte im letzten Jahr mit Journey In the Red Balloon nur einen pitto­resken Paris-Werbe­pro­spekt vorgelegt. Und auch Tsais Bilder entpuppten sich größ­ten­teils als lackierte Werbe­poster, mit denen man Pelz­mäntel oder Luxus­parfüm verkaufen könnte. In Paris bleibt immer Paris der Star.

Wobei mir immerhin die dritte Szene des Films gut gefiel. Sie spielt noch in Taiwan: Da sah man die Haupt­figur einen Kaffee kochen und stellte sich auf Tsai typische Längen ein – doch plötzlich, als der Wasser­hahn aufge­dreht wurde, explo­dierte der und ein immer größerer Wasser­strahl spritzte aus der Leitung. Vergebens versuchte der Mann das Wasser zu stoppen, und diese hilflosen Versuche hatten einen großen absurden Witz. Der Rest aber hätte viel­leicht noch zu Beginn dieses anstren­genden Festivals seine verdiente Geduld gefunden. An dessen Ende aber war er nur noch zum Gähnen. Und reihen­weise verließen die Menschen den Saal.

+ + +

Fast ganz am Schluss gibt es dann ein bisschen Porno, etwa ein halbes Dutzend Varianten japa­ni­scher Sexspiele und Point-of-view-Kame­ra­ein­stel­lungen von einer europäi­schen Frau beim Geschlechts­ver­kehr. Davor warten aller­dings ganz andere Heraus­for­de­rungen auf den Zuschauer: »Tokio auf Acid« oder »Die Befreiung Tibets durch Medi­ta­tion« könnte dieser Film auch heißen. Ein tibe­ta­ni­sches Totenbuch spielt in ihm eine wichtige Rolle, und das dies­jäh­rige Cannes-Zentral­thema der Religion: »All the same: the catholic, the protes­tant, the jews, the buddhist...« Auch »Anti­christ« wäre ein vorstell­barer Titel...

+ + +

Man mag es kaum glauben, aber es ist wirklich schon sieben Jahre her, dass Gaspar Noé die Filmwelt, nicht nur die von Cannes, nach­haltig erschüt­terte. Irré­ver­sible hieß der Skan­dal­film des schon zuvor als Skan­dal­re­gis­seurs bekannten und je nach Stand­punkt gehypten oder gefürch­teten fran­zö­si­schen Regis­seurs. In dem Film wurde eine Frau in einem Tunnel unglaub­lich brutal und ziemlich lang verge­wal­tigt, und weil es so brutal war, machte es Skandal, und weil die Frau von Monica Bellucci gespielt wurde, waren die Medien hyste­risch, und weil alles rückwärts und erlesenen Bildern erzählt wurde, war es Kunst. Aller­dings machten es die hyste­ri­schen Reak­tionen mancher, unter anderem der deutschen Medien, Noé auch leicht, sich zum Opfer von Kunst­ba­nausen zu stili­sieren, und weil dann natürlich auch irgendwer – »neue Väter« viel­leicht oder alte Frau­en­recht­le­rinnen – mit der Zensur­for­de­rung kam, musste man einen Film auch noch vertei­digen, der einem dazu eher wenig Lust machte.

+ + +

Seitdem hat sich Gaspar Noé ziemlich lang Zeit genommen, um über sein neues Projekt nach­zu­denken. Viel­leicht hat er auch andere Dinge genommen, und nicht so sehr gedacht, sondern gefühlt oder sich vor allem treiben lassen, vom Strom des Seins, vom Sog des Lebens, von der Sexyness nun ein weltweit bekannter Skan­dal­re­gis­seur zu sein.
Sein neuer Film Enter the Void hat ein wirklich schönes Pres­se­heft. Neon­farben auf schwarzem Grund, ein paar schöne Fotos von einem Paar, das im Sonnen­licht sitzt, einer Frau und einem Mann in Tokio. Wenn der Film so schön wäre wie das Pres­se­heft, würde er die Goldene Palme gewinnen. Das ist er nicht, aber er ist stark, sehr stark, gerade weil er zu seinem Wahnsinn steht, dazu, eine völlig subjek­tive Version der Wirk­lich­keit zu bieten, eine persön­liche Sicht auf die Welt und das Dasein, also genau, was der Autoren­film seit jeher will.

+ + +

Enter the Void bedeutet soviel, wie hinein in die Leere und das darf man in diesem Fall wörtlich nehmen. Der Film nämlich ist vor allem einmal eine Leer­stelle, aller­dings eine, die zwei­ein­halb Stunden dauert, von denen fast jede Sekunde einzeln fühlbar wird. Das ist als Kompli­ment gemeint, denn wenn es überhaupt eine rationale Erklärung für diesen Film oder besser gesagt eine Ratio­na­li­sie­rung geben sollte, dann ist sie die, dass es dem Regisseur darum ging unge­se­hene, nicht abge­grif­fene und ange­mes­sene Bilder für einen Drogen­trip zu finden.

Die Droge, um die es hier vor allem geht – es geht auch ein wenig um jede andere, aber das würde die Dinge jetzt unnötig kompli­zieren – heißt DMT, und manche werden jetzt schon wissen, dass es sich um eine Party- und Scha­ma­nen­droge handelt, über die Timothy Leary einiges geschrieben hat, eines der stärksten und extremsten Psyche­de­lika, das oft mit spiri­tu­ellen Einbil­dungen verbunden ist. wer DMT nimmt, kann im Rausch Gott »sehen« und andere Dimen­sionen. DMT wird im Gehirn kurz vor dem Todes­ein­tritt ausge­schüttet und ist vermut­lich die Quelle für alle gängigen Nahtod­erfah­rungen. Und um Nahtod geht es hier auch.

Die Bilder, die Noé für all das kreiert, sind nahe am Expe­ri­men­tal­kino: Immer wieder mal schwur­belt die Kamera im Trance in ein Loch hinein, um aus einem anderen heraus­zu­kommen, einmal ist die Leinwand minu­ten­lang weiß, sie blitzt wie in einem »Flicker-Film«. Zudem ist dies der erste Film, der etwas zu 50 Prozent von oben foto­gra­fiert ist. Wie der Blick eines besof­fenen Engels blickt die Kamera auf die neon­um­leuch­tete Stadt.

+ + +

Was immer es noch sein sollte, dies ist letzt­end­lich dann doch ein, wenn auch inter­es­sant geschei­terter Film. Denn er ist insgesamt zu undis­zi­pli­niert, zu größen­wahn­sinnig, von Selbstein­ge­nom­men­heit triefend, todernst, dadurch unfrei­willig komisch. Wie die Phan­ta­sien eines Drogen­um­ne­belten eben.
Am Ende guckt die Kamera dann aus dem Inneren einer lein­wand­großen Vagina und sieht, wie ein Penis in sie eindringt und ejaku­liert. Dann begleitet man die ausge­stoßenen Spermien auf ihrem Weg ins Innere des Körpers der Frau. Dann mal wieder Weiß, eine Geburt, das Zerschneiden einer Nabel­schnur, Geburts­schreie... Offenbar hat Gaspar Noé beim Nach­denken was echt Wichtiges erfahren und uns das jetzt mitge­teilt.

+ + +

So genervt man von der Selbst­be­sof­fen­heit Noés auch sein kann – der versucht immerhin etwas. Ein Nichts ist dagegen die aufge­bla­sene Banalität von Marco Belloc­chios Film über Musso­linis frühes Liebes­leben.
»Il Duce«, der Duce, das geht den Italie­nern bis heute noch wesent­lich leichter über die Lippen, als wir Deutschen auf den Gedanken kommen würden, familiär vom »Führer« zu reden, wenn wir Adolf Hitler meinen. In F orm eines Fami­li­en­melos hat sich nun auch Belloc­chio des Duces ange­nommen. Belloc­chio (Buon­giorno, notte), Angehö­riger der Gene­ra­tion der Acht­und­sech­ziger, gilt als Linker, aber in Italien heißt das nicht viel: Weder sind die Linken dort auto­ma­tisch geschmacks­si­cherer, noch haben sie mehr Sinn für poli­ti­sche Fett­näpf­chen. Wie Bellochios Film Vincere beweist.
Dabei ist die Geschichte seines Films ungemein inter­es­sant. Basierend auf histo­ri­schen Fakten, die vor allem Alfredo Pieronis Buch The Secret Son of Il Duce: The Story of Albino Mussolini and His Mother Ida Dalser und Marco Zenis Mussolini’s Wife offen­legte, erzählt Belloc­chio von der heim­li­chen Zweit­fa­milie des Diktators.

+ + +

Ida Dalser hieß die junge Dame aus gutem Haus, die 1914 den jungen Mussolini in Mailand kennen­lernte, als er noch als radikaler Sozialist die Partei-Zeitung Avanti! herausgab, was ihn allmäh­lich in der poli­ti­schen Land­schaft Italiens bekannt machte. Dalser verliebte sich Hals über Kopf in Mussolini. In den nächsten Monaten steckte sie auch ihr ganzes Vermögen in die Finan­zie­rung der Zeitung Il Popolo d’Italia, die Mussolini gründete, nachdem er wegen seiner Unter­s­tüt­zung von Italiens Welt­kriegs­ein­tritt von den Sozia­listen ausge­schlossen wurde – ein zentrales Element für den poli­ti­schen Aufstieg Musso­linis und der Faschisten. 1915, Mussolini war an der Front, wurde der gemein­same Sohn Benito Albino geboren.

Bereits seit 1914 war Mussolini aber bereits mit Frau Rachele verhei­ratet. Die Paral­lel­fa­milie verbarg er über zwei Jahr­zehnte, um seine poli­ti­sche Karriere nicht zu gefährden. Später dann ließ er Frau und Sohn ins Irrenhaus stecken, wo sie unter traurigen Umständen starben.

+ + +

»Der Mussolini, den ich zeige, ist nicht der gütige pater familias, dessen einziger Fehler es war, sich mit Hitler zu verbünden, als der manchmal in unserem Fernsehen gezeigt wird.« sagte Belloc­chio dem Corriere della Sera, »er ist ein gewält­tä­tiger, berech­nender, gnaden­loser Mann – selbst gegenüber der Frau, die er liebte und gegenüber seinem eigenen Sohn.«

Belloc­chio erzählt das Ganze aber leider vor allem im Stil einer daily soap als kitschige Märty­rer­ge­schichte. Lang­wei­lige Fern­seh­bilder, Schnitt-Gegen­schnitt-Dialoge, Kulis­sen­schie­berei, das ganze unter­s­tützt durch immense Mengen von illus­trie­rendem Doku­men­tar­ma­te­rial, die die den Film mehr zerstü­ckeln als gliedern. Vor allem aber inter­es­siert er sich überhaupt nicht für die poli­ti­schen Vorstel­lungen seiner Heldin. Deren Moti­va­tion war, glaubt man dem Film, allein ihre sexuelle Abhän­gig­keit von dem überaus potenten und allzeit bereiten Diktator. Der Duce kann immer und überall, und da schaltet sich der Rest­ver­stand der politisch mindes­tens naiven Bürger­dame schnell aus. Damit repro­du­ziert Belloc­chio eher den Mythos des Duce, den er doch eigent­lich demon­tieren möchte. Schon klar, dass Vincere von der sinn­li­chen Faszi­na­tion des Faschismus, von seiner oft verdrängten sexuellen Kompo­nente handeln möchte, der sich die Italiener schon des öfteren – Lina Wert­mül­lers Filme und in zahl­rei­chen B-Movies (vgl. dazu Marcus Stig­leg­gers Buch Sadico­na­zista – Sexua­lität und Faschismus im Film der siebziger Jahre bis heute) gewidmet haben. Aber was dann auf der Leinwand vor allem bleibt, ist die offene Iden­ti­fi­ka­tion des Regis­seurs mit dem kommenden Diktator, wenn es um die Geilheit auf Frau Dalser, bzw. ihre Darstel­lerin Giovanna Mezzo­giono geht.

+ + +

Zumindest in einer Hinsicht hat Lars von Trier bereits bekommen, was er wollte: Eigens für ihn erfand die ökume­ni­sche Jury, die von den beiden christ­li­chen Kirchen gestellt wird, einen neuen Preis: Den anti-ökume­ni­schen Preis für den anti­christ­lichsten Film, in diesem Fall von Triers Anti­christ. Da hat der Hieb offenbar gesessen. Zumindest könnte man sagen: Wenn die aufjaulen, die der Regisseur nicht mag, kann er nicht alles falsch gemacht haben.

Aber wer von Triers Film wirklich auf ein anti­christ­li­ches Pamphlet redu­zieren wollte, hat zumindest nicht besonders genau hinge­guckt. Denn viel zu klug und subtil spielt von Trier mit reli­giösen Motiven, als dass er nur »dagegen« wäre. Zumindest nimmt er Reli­gionen ernst – und dafür sollten diese doch schon einmal dankbar sein. Zumindest die beiden (auch theo­lo­gisch gebil­deten) Vertreter der beiden deutschen Film­ma­ga­zine, die – aus histo­ri­schen Gründen: Dem Outsourcen der staat­li­chen Film­zensur nach 1945 – von den christ­li­chen Konfes­sionen getragen werden, dem (einst katho­li­schen) Film­dienst und dem evan­ge­li­schen epd-film, Josef Lederle und Rudolf Worschech konnten dem Film viel abge­winnen. Lederle schreibt in seinem Cannes-Tagebuch im Internet voller Respekt von einem »raffi­niert konstru­ierten« Film, von »finten­rei­chem Kopf-Kino«, »exzes­siven Bildern und Schock­ele­menten«, deren Potential ausreiche, »um Anti­christ nicht so schnell ad acta legen zu können.«

+ + +

Der Haupt­preis der ökume­ni­schen Jury ging dann erwartbar an einen Gutmen­schen­film, an Ken Loach blassen Looking for Eric, an dem die Jury das opti­mis­ti­sche, huma­nis­ti­sche Weltbild lobt, »Freund­schaft, Soli­da­rität, die Bedeutung der Familie«. Aber es hat ja auch niemand behaupt, dass die Ökumenen Filmkunst auszeichnen würden.
Das sollte dafür die Fipresci tun, der inter­na­tio­nale Kriti­ker­ver­band, der auf den meisten Festivals eine eigene Jury stellt. Und mit dem Preis für Michael Hanekes Das weiße Band, eine protes­tan­ti­sche strenge Analyse der kulturell-poli­ti­schen Konse­quenzen des Protes­tan­tismus, wurde er dieser Aufgabe auch gerecht. Die Kriti­ker­preise der Nebensek­tionen gingen an Politist, adjectiv vom Rumänen Corneliu Porumboiu und an Amreeka von Cherien Dabis.

+ + +

Den Haupt­preis der Sektion »Un Certain Regard« gewann einer der kontro­ver­sesten Filme der Reihe: Dogtooth vom Griechen Yorgos Lanthimos. In schön foto­gra­fierten, ruhigen klaren Bildern erzählt er eine beklem­mende Geschichte: Von einem Vater, der seine drei inzwi­schen erwach­senen Kinder zuhause in formal sanfter, aber sado­ma­so­chis­tisch struk­tu­rierter und tota­li­tärer Gefan­gen­schaft hält – und sie nach den Prin­zi­pien der Hunde­er­zie­hung »erzieht«. Das hat absurde und zumindest für den Betrachter komische Seiten. Das ist aber auch extrem brutal: Unter anderem sieht man rohe Gewalt der Familie unter­ein­ander, aber auch gegen sich selber – so schlägt eine Tochter sich irgend­wann selbst den Eckzahn aus – und man sieht wie der Sohn des Hauses eine Katze – Hunde mögen bekannt­lich keine Katzen – mit einer Hecken­schere tötet. Aber auch solche Szenen tragen bei zur strengen Faszi­na­tion, die dieser Film ausstrahlt.

+ + +

Das größte Erlebnis beim Preis­scree­ning war dann aller­dings doch, das Publikum während des Films zu beob­achten. Denn wie gesagt: Dogtooth enthält etwa alle drei, vier Minuten einen mehr oder weniger geschmack­losen Moment, und mindes­tens alle zehn Minuten eine Szene, bei der die Hälfte des Saals aufstöhnt und sich viele die Augen zuhalten. So war die Vorfüh­rung ständig begleitet von heraus­lau­fenden Zuschauern, meistens so fünf, sechs pro Szene, bei besonders harten wie der mit der Katze oder der mit dem Zahn waren es dann auch mal zehn bis 15.