61. Berlinale 2011
Die Anarchie der Phantasie |
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A pas de loup: Eigensinn und der Mut zum Anarchismus |
Sie sind schon ganz schön doof, diese Eltern. Immer wollen sie am Wochenende mit Cathy raus aufs Land fahren. Auf die langweilige Autofahrt folgt ein langweiliger Landaufenthalt mit ausgedehnten langweiligen Mahlzeiten. Irgendwann beschließt Cathy das magische Saatgut, das sie geschenkt bekam, zu verwenden, und dann versteckt sie sich im Wald vor ihren Eltern, die ihr Verschwinden auch zunächst gar nicht bemerken...
A pas de loup vom Franzosen Olivier Ringer ist ein überaus originelles Stück Kino. Ganz auf Augenhöhe mit seiner sechsjährigen Erzählerin, bleibt er völlig in ihrer Welt, der die Erwachsenen auch eher egal sind: Man sieht sie eigentlich nur von fern, von hinten, verschwommen, man erlebt sie am ehesten an ihren Reaktionen, direkte Kommunikation findet gar nicht statt. Dagegen setzt Cathy Eigensinn und den Mut zum Anarchismus, und der Wald ist wieder mal ein sehr belebter: Mit Wölfen, Geistern, Abenteuern.
A pas de loup, der für Kinogänger ab sieben Jahren in der Berlinale-»Generation« im Wettbewerb »Kplus« (mit Filmen zum Teil schon ab vier Jahren) läuft, ist nur einer von einer ganzen Reihe überaus origineller, und unbedingt lohnenswerter Filme dieser Berlinale-Sektion. Ihn im laufen gleich mehrere thematische und stilistische Fäden zusammen, die diese Filme auszeichnen: Kinderperspektive, der Mut zu auch manchmal spleenigen, verspielten Phantastik, und der zu angemessenem – man scheut sich zu sagen: kindischem – Anarchismus. Gerade bei der Berlinale begegnet man alljährlich dem gleichen Problem, dass das Profil der einzelnen Sektionen zunehmend aufweicht. Vor einem Jahrzehnt war alles noch klar: Forum, Panorama, Wettbewerb, Kinderfilmfest, jede Sektion hatte ihr Profil. Heute steht der Besucher vor einem Haufen, vor dem er sich nicht mehr orientieren kann. Warum muss das eigentlich so sein? »Weil es die Natur der Sache ist« antwortet Maryanne Redpath, Leiterin der »Generation«, die in zwei Wettbewerben 26 Spielfilme und über 30 Kurzfilme zeigt. »Die alten Schubladen funktionieren nicht mehr. Man kann heute nicht mehr sagen: Ein Kinderfilm kann kein Kunstfilm sein.«
Manche sehen in der zunehmenden Austauschbarkeit der Sektionen zwar den Verzicht auf die kuratorische Aufgabe, die ein Festival auch hat, und zwar gerade da, wo sich die Filme nicht mehr von selbst programmieren. Andererseits stimmt es ja: Bei 80 Prozent des »Generation«-Programms hat der Regisseur sich nicht vorher vorgenommen, einen Kinderfilm zu machen, noch nicht mal einen Film für Kinder. Und blickt man auf Bal den türkischen Berlinale-Gewinner des Vorjahres, dann ist dieser aus großen Kinderaugen eines Sechsjährigen auf den bewunderten Vater blickende Film eigentlich ein klassischer Fall fürs Kinderfilmfest. Aber so heißt ja die Reihe auch nicht mehr – und mit gutem Grund: Kinderfilm ist eine Genrebezeichnung, ein Label, das, wie Redpath überzeugend darlegt, mit vielen Vorurteilen verbunden ist: »Ein Kinderfilm soll so sein, wie man die Kinder gern hätte: Kinder sollen gut erzogen werden, sollen strukturiert sein, sollen ab und zu ein bisschen frech sein, aber nicht zu frech, denn das verkraftet man nicht.« Kinderfilme sind Konstruktionen von Erwachsenen, vor allem von Medienpädagogen, die das Ende der 70er Jahre gegründete »Kinderfilmfest« der Berlinale lang Jahre fest im Griff hatten. Vor allem für sie war die Sektion ein Fest: Im Kinosaal wurden die Reaktionen der Kinder mit Infrarotkameras überwacht, anschließend mussten die lieben Kleinen seitenlange Auswertungsbögen ausfüllen. Diese Zeiten sind schon eine Weile vorbei, und unter Redpath, die 2008 von Thomas Hailer die Leitung der »Generation« übernahm, hat die »Generation« noch einmal an Profil gewonnen, und ist zu einer völlig eigenständigen Farbe im bunten Strauß des Berlinale-Programms herangewachsen – im Hinblick auf Qualität und Vielfalt steht sie dem, was Panorama und Forum bieten, nicht mehr nach. »Wir haben kein Minderwertigkeitskomplex«, sagt Redpath, »Wir wissen, was wir haben. Und große Firmen wie Fortissimo und Celluloid Dreams erkennen das an, und geben uns ihre Filme.«
Das eigenständige Profil liegt vor allem im Zielpublikum. Aus Erfahrung weiß man aber, dass dies einiges verkraftet. So lief im Vorjahr ein wunderbar durchgeknallter japanischer Anime neben einem kolumbianischen Film, der von einer Jugendlichen erzählte, deren Eltern von den Militärs ermordet worden waren, und das einen Passionsweg zwischen Drogenmafia und sexueller Bedrohnung zurücklegen muss. So tough geht es auch diesmal zu: Im großartigen iranschen Drama Eind und Nebel hat ein Sechsjähriger den Tod seiner Mutter zu verkraften, und Todesphantasien. Mit der künstlerischen Konsequenz gelingen der Sektion auch echte Coups: So läuft im Programm Under the Hawthorn Tree, der neueste Film des großen Chinesen Zhang Yimou, der vor 23 Jahren mit Rotes Kornfeld als erster Chinese den Goldenen Bär gewann – und dessen Filme seitdem immer im Wettbewerb liefen. Under the Hawthorn Tree ist nach einigen opulenten Blockbustern wie Hero für Zhang eine Rückkehr zu den neorealistischen Ursprüngen, wie auch zu seiner eigenen Geschichte: Er erzählt von einem Mädchen in der Umerziehungsmaschinerie der Kulturrevolution – ihr Vater sitzt als »Konterrevolutionär« hinter Gittern. Zhangs Vater, ein Kuomointang-General, kam einst aus dem gleichen Grund ins Lager.
Schwer nachvollziehbar, warum der Film nicht, wie andere von Zhang, im Wettbewerb zumindest außer Konkurrenz läuft – wie man hören konnte, hatten manche in der Berlinale Probleme mit der (vermeintlichen? tatsächlichen? angeblich zu regimefreundlichen) politischen Botschaft des Films –, der »Generation« tut ein solcher Coup jedenfalls gut.
Ein weiterer, ebenfalls sehr gelungener, und ganz und gar »erwachsener« Film ist Apflickorna von der Schwedin Lisa Aschan: Die Geschichte der Freundschaft zweier Mädchen. Beide haben aber Geheimnisse voreinander und uns Zuschauern, und als die enthüllt werden ist das eine schmerzhafte Erfahrung – Apflickorna ist ein Drama über das Heranwachsen und über den ganz alltäglichen Autismus. Dieser bildet eines der Leitmotive in vielen Filmen, genauso wie die Phantasiewelten, in die sich die Hauptfiguren oft zurückziehen. Diese finden auch stilistischen Ausdruck, etwa in Jess + Moss, einem der besten Filme im Programm, vom Amerikaner Clay Jeter, der seine Story zweier Cousins mit verschiedenstem Filmmaterial, von Super 8 bis Breitwand, überaus originell erzählt.