61. Berlinale 2011
Chronik eines unaufhaltsamen Siegs |
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Wettbewerbstauglich: Die Coming-of-Age-Geschichte Submarine | ||
(Foto: Kool Filmdistribution Ludwig Ammann & Michael Isele / Die FilmAgentinnen GmbH i.G.) |
Von Thomas Willmann
Uups, das habe ich nicht gewollt! Das tut mir jetzt leid. Wenn Sie vor der Apokalypse noch etwas zu erledigen haben – es wäre wohl an der Zeit.
Jetzt habe ich doch tatsächlich auf der Berlinale einmal den Film gesehen, der nachher den Goldenen Bären bekommen hat. Und dann war Jodaeiye Nader az Simin ja auch noch der eindeutige Kritikerfavorit. (Ein mathematisch
belegbarer noch dazu: Nicht nur führte er alle nationalen wie internationalen Sternchenwertungen an – bei einem inoffiziellen Online-Wettpool hätte man bei diesem Sieg nur seinen Einsatz wieder zurückbekommen, während die Quote schon für den Zweitplazierten, Béla Tarrs A Torinói ló bei 5:2 lag, und für das Schlusslicht, Yelling to the Sky, bei
200:1.)
Dass nun aber ein von mir gesehener Kritikerliebling den aurischen Ursus abräumt, beweist, dass sämtliche Naturgesetze außer Kraft gesetzt sind und das Ende der Welt, wie wir sie kennen, nur noch Formsache.
Und ich kann noch nicht mal sagen, ich hätte das ja nicht ahnen können. Denn es war ein Sieg mit Ansage. (Von jeder Schuld müssen jedoch die Berliner Verkehrsbetriebe freigesprochen werden, die durch Busausfälle noch heldenhaft versucht hatten, mein rechtzeitiges Eintreffen bei der Pressevorführung des Films zu verhindern.)
»I told you so«, grinste Dieter Kosslick den pflichtgemäß begeisterten Regisseur Asghar Farhadi an, als der zum Statuenempfang die Bühne erklomm
– er habe es ihm ja vorhergesagt. Und da liegt letztlich das Problem dieses Festivalausgangs: Mit Überraschungen war kaum zu rechnen.
Jodaeiye Nader az Simin (oder international: Nader and Simin – A Separation) zählte schon unbesehen zu den heißen Kandidaten: Als einziger iranischer Wettbewerbsbeitrag, angesichts des leeren Stuhls in der Jury,
auf dem eigentlich Jafar Panahi hätte sitzen sollen (statt in seiner Heimat im Gefängnis). Als er sich dann auch noch davon unabhängig qualitativ als einer der ersten und einzigen Filme erwies, dem man aus der diesjährigen Auswahl überhaupt plausibel die höchste Auszeichnung zukommen lassen konnte, war eigentlich alles gelaufen.
Ums klar zu sagen: Ja, Jodaeiye Nader az Simin ist ein verdienter, wohl auch der verdiente Sieger. Der Film ist klug und vielschichtig, funktioniert auf dramatischer wie politischer Ebene. Seine Konstellation mag schon ziemlich gesucht und konstruiert sein – ein Mittelstands-Paar will sich trennen, weil die Frau auswandern will, der Mann aber seinen dementen Vater nicht
zurücklassen kann; er engagiert eine weibliche Pflegekraft aus einer Unterschicht-Familie, die ihre eigenen Probleme mitbringt, es kommt zu einem Unglück und der Film wird quasi zum Gerichtsdrama. Aber Farhadi macht die Figuren glaubwürdig genug, gibt einer psychologischen und emotionalen Wahrhaftigkeit Vorzug vor irgendwelchen vorformulierten »Botschaften«. In sich war das tatsächlich stimmiger als zumindest alles, was ich vom Wettbewerb sonst gesehen habe (und es fehlen
Stimmen, die für eine echte übersehene Perle sprächen).
Insofern war der Preis tatsächlich ziemlich »alternativlos« (A. Merkel). Aber auch ein bisschen enttäuschend, weil hier alles so gut und reibungslos gepasst hat.
Und das kann man nicht Jodaeiye Nader az Simin vorwerfen, sondern der darum drapierten Konkurrenz. Fast jeder andere Ausgang des Festivals wäre eine Überraschung
gewesen, weil Filme mit dem Zeug zum wahren Überraschungssieger gefehlt haben.
Der Tonfall nicht nur des gesamten Wettbewerbsprogramms, sondern großer Teile des Berlinale-Angebots überhaupt, übte sich in seltener Einhelligkeit. Der typische Berlinale-Film 2011 war vorwiegend ruhiges, nicht gerade leichtgängiges Weltkino mit politischem Bewusstsein, aber ohne allzu eindeutige Agenda, von einem Hauch Betroffenheit durchzogen, ästhetisch bewusst ungelackt, aber wagnislos. Und gewonnen hat der Film, der diese Klaviatur wenigstens am virtuosesten zu
bedienen verstand.
Gefehlt hat weitgehend eine Ahnung dafür, was Kino ansonsten noch alles kann; gefehlt haben ganz andere Ansätze.
Wobei die wenigen Ausnahmen bewiesen, dass das Festival dafür auch nicht immer das glücklichste Händchen hat. Siehe den französischen Animations-Märchenfilm Les contes de la nuit, dem mit seinem Vorschul-Kunstunterrichst-Gestus arg anhaftete, dass er aus einer Kinder-TV-Serie der ‘90er entwickelt wurde. Und der
vermutlich ins Programm gerutscht war, um den Tag der 3D-Vorführungen zu komplettieren. Mit einem neuen Rekord an Sinnlosigkeit beim Einsatz dieser Technik – denn es handelt sich um einen Film in Scherenschnitt-Ästhetik. Hallo Hintergrund, darf ich vorstellen: Vordergrund.
Oder siehe Unknown, ein unfassbar alberner (und dadurch schon wieder ziemlich lustiger)
Action-Thriller mit Liam Neeson, bei dem man mit dem Aufzählen sämtlicher grober Ungereihmtheiten und Peinlichkeiten gemütlich die nächsten zwei Seiten verbringen könnte. Der aber – sich als internationale Produktion mit Hollywood-Anspruch und zugleich Film in und über Berlin verstehend – im Grunde hinreichend charakterisiert ist dadurch, dass eine Krankenschwester hier einen so tollen, »typisch deutschen« Rollennamen trägt wie »Gretchen Erfurt«.
Freilich ist es schon ein bisschen modisches Ritual geworden, jeden Berlinale-Jahrgang zum nun aber definitiv schwächsten auszurufen. Und auf die Festivalleitung einzuhacken, weil sie drumherum zuviel Glamour-Brimborium veranstaltet (2009), oder zu wenig (dieses Jahr). Und da steckt schon auch ein Körnchen Wahrheit drin. Aber es überschätzt vermutlich, wieviel Gestaltungsspielraum das Festival tatsächlich hat.
Es gibt zunächst schlicht auch schwache Filmjahrgänge. Und
wenn man sich heuer mit Leuten unterhielt, die auf dem von keiner Vorjury selektierten Europäischen Filmmarkt als Einkäufer unterwegs waren (dem für die Öffentlichkeit fast unsichtbaren, aber in Wahrheit entscheidenderen Teil der Berlinale), dann war da über die gebotene Qualität auch nichts Euphorisches zu hören.
Dann aber sind Filmfestivals generell auch nur Teilnehmer eines Markts. Und der verändert sich. Wie überall in unserer Kultur wird auch beim Film die Kluft zwischen Mainstream und Nische größer, isoliert sich der wenige verbleibende, echte Mainstream von dem kritischen Diskurs, differenzieren sich die Nischen immer spezieller aus. Soll heißen: Die wenigen großen Filme, die echte öffentliche Aufmerksamkeit schon mitbringen, inszenieren ihre Auftritte meist lieber selber, nutzen Filmfestivals nur nach reiflicher Überlegung als Werbepodium. (Festivals haben ihre Eigendynamik, und welche Großproduktion geht schon gerne unnötig das Risiko negativer Mundpropaganda ein?) Und andererseits entwickelt sich immer mehr eine Parallelwelt von reinen »Festivalfilmen«, die immer perfekter auf genau die speziellen Anforderungen der Festivals nach Weltkino-Futter fürs Programm zugeschnitten sind. Cineastisches Schmieröl für den fortwährenden Betrieb, das nur selten jemand richtig begeistert, aber hinreichend konsensfähig ist, um Vorauswahljurys zu passieren.
Die weiter oben beschriebene Form des Weltkinos ist nicht nur eine ästhetische Schule geworden, die globusumspannend oft mehr prägt als nationale Traditionen. Sie ist ein Geschäftsmodell.
Man unterschätzt als Laie ja gerne, wie sehr die eigentliche Kunst bei vielen Filmen nicht in Regie, Schauspielerei, Kamera oder dergleichen steckt, sondern in der Finanzierung. Es gab Produktionen auf der Berlinale, da erntete die schier nicht enden wollende Parade von beteiligten
Firmen und Institutionen im Vorspann schon Gelächter. Aber nur noch wenige Filmunternehmen weltweit können und wollen heutzutage eine Produktion alleine stemmen. Und das führt eben unter anderem auch zu einer Art von Kino, die ideal geeignet ist, möglichst viele Fördertöpfe anzuzapfen und Co-Finanzierungspartner zu finden. Wobei es eben zum Beispiel auch hilft, mit jener gewissen Sorte Filmemachern und Filmen aufzuwarten, die das eigene Land auf vielen Festivals
repräsentieren. Und wobei der soziale Realismus nicht nur den Vorteil offenbart, dass mit ihm am leichtesten künstlerische Bedeutsamkeit zu heischen ist, sondern auch, dass er keine teuren Stars, Ausstattungen und Apparaturen braucht.
Dass sich die Berlinale 2011 explizit die politische Relevanz als Kernkompetenz auf die Fahnen geschrieben hat, lässt sich also vielleicht anhand der aktuellen Berlinale-Tasche erklären: Wie die meisten Festivals, gibt auch die Berlinale an Akkreditierte alljährlich eine eigene Umhängetasche heraus, die den Beschenkten zur Aufbewahrung des sich ansammelnden Papierwustes sowie solch überlebensnotwendiger Requisiten wie Terminübersicht, Wasserfläschchen, Müsliriegel, Schreibgerät und Reiseapotheke dienen soll. Die zugleich aber auch als werbendes Aushängeschild (respektive -tasche) für das Festival fungiert. Es wäre eine eigene Studie wert, wie die unterschiedlichen Festivals dabei eigene Taschen-Traditionen entwickeln. Die Berlinale jedenfalls wartet jedesmal mit einem in Material, Form, Farbe komplett neuen Design auf. Und dieser Jahrgang war ein Modell aus ziemlich schlabbrigem Stoff, ohne Fächer oder Klappe, in schlichtem Dunkelblau und leicht gilbigem Weiß gehalten.
Man kann sie als Statement für den ökologisch korrekten »Berlinale Goes Green«-Leitspruch sehen, von wegen Jute statt Plastik etc. Sie wirkt wie ein Beutel, den entweder eine Prenzlauer-Berg-Mutter bei ihrem bevorzugten Bioladen als StammkundInnen-Einkaufstasche geschenkt bekommen könnte – oder aber das bewusst stillos gehaltene, in Wahrheit €300,- teure Werk eines aufstrebenden Berliner Jungdesigners.
Und was – um zum Punkt zu kommen (doch, es gibt
einen!) – diese Tasche symbolisiert, das ist die Fähigkeit, aus der Not den Versuch einer Tugend zu machen: Wenn’s zu Glamour, Oppulenz, Eleganz nicht reicht, erklärt man das Gegenteil einfach zum Prinzip. Wenn das Programm nicht sexy ist, dann ist es halt politisch relevant.
Das ist insofern durchaus okay, als die Berlinale ja wie gesagt nur bedingt ein Angebot herbeizaubern kann, das ihr einfach nicht zur Verfügung steht. Wo man ihr jedoch eher einen Vorwurf machen kann ist, dass sie zu oft dem Kurzschluss zu verfallen scheint, dass Zerknirschung gleichbedeutend mit Relevanz wäre.
Das ist ein alter, aber eben auch veralteter, Irrtum, nach dessen Wurzeln man bis zur Barock-Oper und weiter graben könnte: Damals gab es noch den Zwang, jedem Stück ein
»lieto fine« (oder: Happy End) aufzusetzen, egal wie unwahrscheinlich oder unpassend es war. Was sich bekanntlich bis in den Hollywoodfilm gerettet hat. Aber die verständliche Gegenreaktion, die irgendwann mal gegen verlogenes Friede, Freude, Eierkuchen die Erkenntnis gesetzt hat, dass manchmal halt auch alles einfach Scheiße sein kann, ist mittlerweile selbst zum Klischee geworden. Und kann für sich höchstens noch insofern eine prinzipiell größere Wahrhaftigkeit
reklamieren, als halt jede reale Geschichte, wenn man sie nur lange genug weitererzählte, mit einem »Und dann waren sie alle tot« endet.
Aber als Abbildung des menschlichen Daseins ist das »Alles ist ja so schlimm« keinen Deut »richtiger« als das »Alles ist ja so super«. Beide Pole gehören zum Leben, das sich meist irgendwo dazwischen abspielt, und das in Wirklichkeit kaum je einen so konsequent durchgehaltenen Tonfall kennt, wie ihn die meiste (Film-)Kunst verlangt.
Und da kann man schon fragen: Warum läuft im Wettbewerb fast nie eine Komödie? Ein Film wie Submarine von Richard Ayoade (BritCom-Fans bekannt als Moss aus »The IT Crowd« und Dean Learner aus dem großgenialen »Garth Marenghis Darkplace«). Warum taugt der nur dem Forum zur Zierde? Ja, gut, er bedient ein nicht mehr sonderlich originelles Genre, ist eine Komödie über einen verschrobenen Nerd und seine Alltagsabenteuer mit Eltern, Schule und der Liebe. Ein Verwandter also von Napoleon Dynamite, Scott Pilgrim et al. Aber Submarine ist nicht nur raffiniert semi-zeitlos insofern, als er sehr bewusst lange offen lässt, ob sein Look einen »Kostümfilm« verrät oder nur einen Faible für Retro. (Erst als er erwähnt, dass im Kino Crocodile Dundee angelaufen ist, lässt er sich nach 1986 verorten – bleibt aber einer der wenigen Filme, die sich erinnern, wie lange die ‘80er noch ausgesehen haben wie die späten ‘70er...) Submarine ist auch insofern zeitlos, als ihm das Teenager-Alter nur als Zuspitzung dient für die allgemein menschliche Suche nach dem Selbst, nach dem Platz in der Welt und unter den Menschen.
Einer der zugleich schmerzhaftesten und wahrhaftigsten Momente des Festivals war zu finden in Submarine – als der Protagonist ein emotional grauenvoll entgleisendes, vorgezogenes Weihnachtsessen mit der krebskranken Mutter seiner Freundin besucht. Nur dass Submarine selbst in diesem Moment die Distanz des Humors bewahrt, der einen oft klarer als jedes tränenverschleierte Drama auf die eigentlich nicht erträglichen Wahrheiten schauen lässt. Und dass Ayoades Film generell das jugendliche Alter seines Helden Oliver für quasi das latente Bewusstsein nutzt: »Später wird man über all das lachen können.« Die Kunstfilmposen, in die sich Oliver manchmal hineinfantasiert, hätten als gelungene Parodie getaugt für vieles, was sich auf der Berlinale bedeutsamer gerierte als Submarine, es aber nicht war.
Denn letztlich ist die Komödie – jedenfalls eine so schöne und wahre wie Submarine – viel weiter und weiser als all das Geheule und Geschreie des Betroffenheitskinos. Weil sie nicht so in der Innenperspektive stecken bleibt, sondern ein Auge hat für die Lächerlichkeit der menschlichen Existenz. Man muss viel begriffen haben, um über die Dinge lachen zu können, die einem
nahe gehen.
Aber ich fürchte, es wird noch dauern, bis auch ein Festival wie die Berlinale solche Erkenntnise für Wettbewerbs- und preiswürdig hält.