61. Berlinale 2011
Die Vielfalt der Geschichten |
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Komm mir nicht nach: Dominik Grafs Film im Film Dreileben |
Das große »B«. Einige haben sich schon gewundert, als sie das große »B« auf dem diesjährigen Berlinale-Plakat gesehen haben, und während manche da gleich zur Freude von Festivalchef Dieter Kosslick an »Berlinale« und »Berlin« und »Bär« und »Bublikumsfestival« und »besoffen« dachten, dachten ein paar andere wohl auch an »Bückware« und »B-Liga«, weil sie die letzten Festivaljahrgänge noch nicht ganz vergessen haben. Einige, die sich erinnern, dass die Berlinale als »A-Festival« gilt, fragen sich, ob vielleicht gemeint war, die Berlinale wolle jetzt nur noch ein »B-Festival« sein. Aber man kann davon ausgehen, dass sie da falsch liegen. Höchstens ist der Berlinale da mit dem Plakat eine Freudsche Fehlleistung unterlaufen, die viel mehr verrät, als sie sollte.
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Das Kino ist ein dunkler Wald. Im Wald da sind die Räuber. Da sind Geister, und Menschen, die sich zurückziehen wollen aus der Welt, da sind in Höhlen und im Unterholz oder auf Bäumen und im dichten hohen Gebüsch, auch die Träume und Alpträume der Menschen, das Unbewußte und Verdrängte unseres Lebens. Und in allen drei Geschichten, von denen hier die Rede ist, in allen drei Leben, in die wir Zuschauer eintauchen, neben einigen anderen, denen wir begegnen, geht es auch um die Wiederkehr dieses Verdrängten. Wir können uns nicht entfliehen, das zeigt sich auf der Leinwand, und das, was wir sind, steht unserem Glück, das wir haben wollen, manchmal unrettbar im Weg.
Um Glück geht es für das bosnische Flüchtlingsmädchen Ana, für die Polizeipsychologin Johanna und für das Muttersöhnchen Frank. Sie alle begegnen sich in Dreileben, streifen sich flüchtig, sie alle drei sind Fremde hier, wo sich trotzdem ihr Schicksal erfüllt.
Dreileben, das ist zunächst einmal der Name des Ortes. Ihn gibt es wirklich, wenn auch westlich von Magdeburg und nicht in den romantischen Wäldern von Thüringen, wie dieser Film behauptet. Dieser Film? Ist es überhaupt einer oder sind es doch drei? Denn bei Dreileben, der jetzt im Forum der Berlinale Premiere hat, handelt es sich um eines der ungewöhnlichsten deutschen Filmprojekte der letzten Jahrzehnte, und ohne Frage um einen Höhepunkt des Programms.
Christian Petzold, Dominik Graf und Christoph Hochhäusler haben zusammen einen Film gemacht. Er besteht aus drei Teilen, die jeweils einen eigenen Titel haben, und alle im gleichen Kaff am Waldrand nahe Oberhof spielen. Jeder spinnt ein wenig die Geschichte der zwei anderen weiter, die Handlungen überlappen sich an kleinen Punkten, und es gibt einen gemeinsamen Kriminalplot – ein verurteilter Mörder ist geflohen und soll wieder eingefangen werden – im
Hintergrund.
Trotzdem sind es andererseits drei jeweils völlig eigenständige Filme geworden, und gerade die Gemeinsamkeiten führen nur dazu, dass noch mehr auffällt, wie verschieden diese drei Regisseure, die alle zu den begabtesten im deutschen Kino zählen, dann doch sind.
Dies ist das Interessanteste an diesem vielschichtigen Experiment: Was es uns verrät über das Kino. Denn am Anfang von allem stand ein e-mail-Austausch, initiiert von der Debatte um das Kino der »Berliner Schule«, seinen Stil und dessen Vor- und Nachteile. Während Petzold und Hochhäusler dieser losen Gruppe dezidierter Kunstfilm-Regisseure zugerechnet werden, die im Ausland auf mehr Interesse und Wohlwollen stößt als bei den hiesigen Branchenfunktionären, hat Graf, bei aller Wertschätzung, aus seiner grundsätzlichen Distanz zu diesen Film kein Hehl gemacht. Einen Teil dieses hochinteressanten Trialogs, der vieles auf den Punkt bringt, was das deutsche Kino umtreibt kann man im Internet und im Heft 16 der Zeitschrift »Revolver« nachlesen – und viele sehr lesenswerte Erläuterungen zu alldem bietet auch der Forumskatalog.
Man möchte nicht zuviel verraten von der Handlung und ihren verzweigten Fäden – dazu ist noch genug Gelegenheit. Und im Zentrum von Dreileben steht vielleicht auch etwas anderes: Wie sehr diese Regisseure gerade durch ihre Zusammenarbeit auf sich und ihre je eigene filmische Ausdrucksweise zurückgeworfen werden. Wie das in der freundschaftlichen Zusammenarbeit doch auch enthaltene Element des Wettbewerbs – wer will schon den dritten Platz in so einer Konkurrenz? – alle drei beflügelt, und dazu führt, dass hier Filme gelungen sind, die im jeweiligen Werk recht weit oben rangieren. Sehr bemerkenswert auch, wie hier einerseits Geschichten erzählt werden, die nur in Deutschland erzählt werden können, wie sich andererseits ältere und andere Formen und so etwas wie das kollektive Unbewusste in diese Filmgeschichten einschreibt: Grimms Märchen ganz offen bei Petzold, und etwas versteckter bei Hochhäusler, Melodram, Psychoanalyse und Ost-West-Spaltung bei Graf, der auch den Dialog mit seinen eigenen Filmen kräftig weiterspinnt; und das Weimarer Kino vor allem Fritz Langs Drachenhöhlen und Wald aus den Nibelungen und die Menschenhatz aus »M« – bei Hochhäusler.
Vielleicht ist die Schuldfrage, also die Frage, wo so etwas wie Unschuld gefunden werden könnte, und wie man mit ihrem Verlust oder ihrer Unmöglichkeit umgeht, das, was alle drei Filme verbindet – Dreileben, der, von der ARD produziert, wahrscheinlich nicht ins Kino kommen wird, ist ohne Frage einer der interessantesten und besten Filme des Jahres. Ein seltenes Ereignis!
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Bergmans zwei Gesichter. Ist eigentlich ein größerer Unterschied denkbar, als der zwischen diesen beiden Frauen? Harriett Andersson und Liv Ullmann waren – trotz Ingrid Thulin und Bibi Andersson – die beiden prägnantesten Gesichter der Filme dieses vom menschlichen Angesicht so faszinierten Regisseurs. Beide waren über jeweils mehrere Jahre seine Lebensgefährtinnen. Bergman verließ für Andersson seine dritte Frau und für Ullmann seine vierte; Andersson drehte neun Filme zwischen 1952 und 1982 mit Bergman, Ullmann sogar zehn. Und es wird schon seinen guten Grund haben, dass beide auf der Berlinale an sorgsam getrennten Terminen ihre Auftritte zur Bergman-Retrospektive hatten. Wer die beiden erlebte, weiß warum: Andersson, zwar sieben Jahre älter als Ullmann, wirkt aber immer noch ein bisschen wie ein junges Mädchen: so quicklebendig wie Monika in dem gleichnamigem Film in jenem Sommer vor fast 60 Jahren, erfüllt von einem ironischen Schalk, der sie ihrer Umgebung immer ein wenig überlegen macht, ohne sie von ihr zu distanzieren. Etwas einnehmend Ungravitätisches strahlt Andersson aus, und es ist leicht zu sehen, wie unglaublich attraktiv dieses Frau ihr Leben lang war, nicht erst wenn sie davon spricht, dass Frauen natürlich gerne »hübsche Jungen« angucken. Natürlich sei Bergman »ein bisschen boshaft« gewesen, erzählt sie von der Arbeit, und es ist hinreichend deutlich, dass das wohl auch für Andersson selbst gilt, und vermutlich gerade die Anziehung zwischen beiden ausmachte; ebenso, dass Andersson, die in ihrem Leben über 90 Kinorollen gespielt hat, sich immer eine gesunde Distanz bewahrte, zu dem großen Manipulator, der auch ein begnadeter Gesprächspartner und Charmeur gewesen sei, aber eben auch ein einsamer kleiner Junge, der endlich spielen durfte, und dem alle zuhören mussten – »manchmal auch verrückt«, und da habe es nicht immer genügt, wenn er sich kurz nach seinen Ausbrüchen dann entschuldigt habe: »Du weißt doch, wie ich bin.« – »Ja, das wusste ich schon... aber trotzdem«, sagt Andersson und lächelt vielsagend.
Ullmann strahlt dagegen auch heute ein wenig von der störrischen Beflissenheit aus, die jene Tochter charakterisiert, die sie an der Seite Ingrid Bergmans in Herbstsonate gespielt hat. Sachlich erzählt sie von Bergmans Arbeitsweise, das man dem Meister keine Fragen stellen durfte, und sagt mehrfach, wie »ungeheuer privilegiert« man gewesen sei, für ihn zu arbeiten. Immer wirkt das, als spräche hier eine Einserschülerin, und es ist leicht erkennbar, dass sich Ullmann, obwohl sie selber sechsmal Regie führte, aus dem Schatten von Bergman ihr Leben lang nie wirklich gelöst hat. Bergman, das wird auch an Peter Cowie deutlich, der beide Gespräche in Berlin moderierte, war für viele die ihm begegneten, eine lebensprägende erschütternde Erfahrung: »Er sagte, er müsse einem Menschen nur lange genug in die Augen sehen, früher oder später zeige er sein wahres Gesicht.« Immer habe sie neurotische Frauen gespielt, fügt Ullmann hinzu: »Ich war Ingmar« – und da ist in ihrem Gesicht beides zu sehen: Die Anstrengung, die es bedeutete, zum filmischen Alter Ego des Regisseurs zu werden, und wie sehr das einer Darstellerin schmeicheln kann.
Sie repräsentieren Bergmans zwei Gesichter: Ullmann den Moralisten, den, der die düsteren Seelenqualen des modernen Menschen immer wieder aufs Neue untersucht, der keinem Schmerz ausweichen will. Und Andersson das Humane seiner Filme, das Wissen um die Schwächen und die Befreiung von ihnen in der Schönheit, im Glück, in der Evidenz und im Augenblick.
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Chinesischer Western. Für Opulenz und historische Stoffe hat sich Chen Kaige schon immer interessiert. Kaige, in den 80er Jahren der Vorreiter der legendären »Fünften Generation«, die Chinas Kino vom Propagandaschwulst befreite und dem Westen erschloss, wurde spätestens mit der Goldenen Palme für Lebewohl, meine Konkubine 1993 in seiner Heimat unsterblich. Seine Arbeiten der letzten zehn Jahre konnten aber an die frühere Meisterschaft nicht recht anknüpfen. Das gilt auch für sein neuestes Werk Sacrifice, einer von nur zwei Filmen aus China im offiziellen Programm der Berlinale – ein auffallend geringer Anteil, was noch stärker ins Gewicht fällt, weil mit Kaige und Zhang Yimou ausgerechnet Regisseure eingeladen wurden, die ihre beste Zeit hinter sich haben. Gibt es unter den vielen jungen Filmemachern gerade keine Talente, die eine Einladung verdient hätten, oder ist es die Berlinale, die derzeit nicht in der Lage ist, solche Entdeckungen zu machen?
Sacrifice ist eine typisch chinesische Mischung aus Rachetragödie und Königsdrama mit Martial-Arts-Elementen. Angesiedelt in der Jin-Ära des achten vorchristlichen Jahrhunderts, geht es um den General Tu Angu, den das Schicksal in den höfischen Kabalen an den Rand gedrängt hat. Daraufhin setzt er alles auf eine Karte, und zettelt seinerseits eine Intrige gegen die Familie des Kanzlers, die Zhao an. In einem großen Massaker werden schon nach einer Viertelstunde des Films alle dreihundert Zhao ermordet, die Witwe des Clanführers tötet sich selbst – aber erst nachdem sie zuvor ihren frischgeborenen Sohn in die Obhut ihres Arztes Cheng gegeben hat. Als Tu Angu daraufhin alle Neugeborenen der Hauptstadt entführen lässt, wird im Laufe verschiedener Verwechslungen Chengs eigener Sohn für den letzten Zhao gehalten und ermordet. Nun zieht der Arzt den Überlebenden zu einem Krieger heran, mit dem festen Vorsatz, ihn später doppelt Rache nehmen zu lassen – für die Ausrottung der Zhaos, wie für den Mord am eigenen Sohn.
Kino als große Oper also, als Melo über widerstreitende Loyalitäten zwischen Staat und Familie, das allerdings nach vielversprechendem Auftakt deutlich abflacht. Im Prinzip funktioniert Sacrifice – wie viele der in Chinas Antike angesiedelten Historienfilme – ähnlich wie ein Rachewestern über die Vorbereitung eines großen Showdowns, der sich allerdings in diesem Fall als Bluff entpuppt. Als westlicher Beobachter ist man geneigt, derartige Stoffe immer auch als verkappte Kommentare zur politischen Gegenwart zu sehen. Und eine Weile glaubt man, auch weil der Schurke einem nicht völlig unsympathisch ist, hier gehe es wie in Zhang Yimous ungleich besserem Hero um eine Versöhnung zwischen Macht und Widerstand, Kaiser und Attentäter. Aber dann kommt doch wieder alles anders, als man dachte, und es wäre auch zuviel in Sacrifice hineininterpretiert. Dies ist eher ein Film, der zwar leidlich unterhält, den man aber auch schnell wieder vergessen hat – und damit ist er als »Berlinale Special« außerhalb des Wettbewerbs ganz richtig platziert. Klar ist dabei auch, dass Kaige offenkundig im Frieden mit sich ganz gelassen weiter Filme macht, ohne sich unter künstlerischen Hochdruck zu setzen. Sacrifice ist ein Film fürs breite Publikum in China, Starkino einer Filmindustrie, die immer noch im Werden ist – und darin erinnert er an die routinierte Unterhaltung, wie sie auch im frühen Hollywood gemacht wurde: Ein ganz normaler Western eben.
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Scheidung auf Persisch. Im Wettbewerb geht es indirekter zu. Vom iranischen Kino kennt man das: Die Filme von dort arbeiten mit Symbolen und Auslassungen. Kinder sind die Hauptfiguren, ein Papierdrachen wird da zum Stellvertreter des Schicksals. Der Regisseur Asghar Farhadi, dessen letzter Film Elly noch im deutschen Kino läuft, erzählt in Jodaeiye Nader az Simin von einer Trennung – es gibt schon Dokumentarfilme über »Scheidung auf Persisch«, aus ihnen weiß man, wie kurios in unseren Augen so etwas im Iran abläuft. Hier nun erlebt man in Spielfilmform: Zwei Familien, es geht um Geld und Anstand, um Form und Drohungen, aber nicht um Liebe. Es geht auch um Politik, um die feinen Nuancen, in denen Frauen ihren Tschador tragen und ähnliche Unterschiede, um Subtilität und viele Identifikationsmöglichkeiten. Der Film ist dynamisch und sehr stark, aber nie platt – der erste große Favorit auf den Goldenen Bären. Das Festival begab sich in Solidarität mit dem Protest zugunsten des inhaftierten Regisseurs und Jurors Jafar Panahis.
Nicht weniger politisch, aber anders subtil ist Our Grand Despair des Türken Seyfi Teoman: Ender und Çetin, Ende 30, sind gute Freunde. Sie nehmen die Schwester eines Freundes gezwungenermaßen in ihre Männer-WG auf, doch nach einer Weile entwickelt sich tiefe Vertrautheit. Irgendwann verlieben sich beide unabhängig voneinander in die junge Frau… Teoman bricht in seinem zweiten Spielfilm klassische Rollen- und Beziehungsmuster auf, zugleich bricht er mit den Stereotypen des türkischen Kinos, das sich gern in die Natur zurückzieht, den Zwängen der Moderne ausweicht. Ein ausgezeichneter Film, und ebenfalls einer der besseren Filme in einem Wettbewerb mit weniger Licht als Schatten.