64. Filmfestspiele Cannes 2011
Die Tränen der Meerjungfrauen |
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Woody Allen, Owen Wilson und Rachel Mc Adams am Set von Midnight In Paris | ||
(Foto: Concorde Filmverleih GmbH) |
Wenn die Palmen Trauer tragen. Es gehört zum Beruf des Filmkritikers, dass man manchmal auch dann etwas zu Papier bringen muss, wenn einem nach Schreiben als Allerletztes zumute ist. Wenn einem die Worte fehlen, oder es einfach nichts zu sagen gibt, das angemessen wäre. Das muss seine Ursache nicht immer im Kino haben, ein solcher Moment ist auch der Tod eines Kollegen, Vorbilds und Freundes. Michael Althen war dies für viele deutsche Filmkritiker. Und als uns am Donnerstagmorgen, unmittelbar vor Beginn der Vorstellung des neuen Gus-van-Sant-Films, die Nachricht erreichte, dass Michael gestorben ist, war einem erstmal überhaupt nicht mehr nach Kino zumute – auch wenn wir in den letzten Wochen geahnt hatten, dass diese Nachricht uns irgendwann erreichen würde, erscheint sie doch auch jetzt seltsam irreal. Noch knapp eine Woche später ist dies alles unfassbar. Das kann man nicht glauben und es hat den Kopf und erst recht das Herz noch nicht wirklich erreicht. Nur den Magen, und so fällt es gerade ziemlich schwer, und hilft doch auch zugleich, Filme zu sehen, und über sie zu schreiben. Denn dass das Kino und das Schreiben darüber auch eine große Trost-Maschine ist, auch das hat Michael immer gewusst.
Zum Werk und zur Rolle, die Michael Althen gehabt hat, wird man noch viel lesen. Aber man muss es vielleicht einfach hinschreiben, wie es ist: Von ihm, der nie krank war, der immer selbstverständlich da war, hätte man solch einen Abgang am wenigsten erwartet. Auf ihn war Verlass. Und so schön es war, ihn gekannt zu haben, so sehr fühlt man sich jetzt verlassen.
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Ein Fest fürs Leben. Man möchte schon mal gern wissen, was im Kopf von Woody Allen vorgeht… Innerweltliche Askese und protestantische Arbeitsethik, vielleicht seinem Vorbild Bergman abgeschaut – jedenfalls hat es der New Yorker Komiker wieder geschafft, in seinem gewohnten Arbeits-Rhythmus zu bleiben, und auch in diesem Jahr einen neuen Film zu präsentieren. Und auch wenn es manche guten Gründe gibt, den diesjährigen Cannes-Jahrgang von seiner Papierform her als »Old Boys Club« zu charakterisieren, muss man ein solches Urteil, sollte es einschränkend gemeint sein, gleich wieder zurück zu nehmen. Denn Midnight In Paris, Allens neuester Film ist, soviel kann man schon mal feststellen, ein großes Vergnügen geworden. Ein geistreicher, unterhaltsamer, stellenweise kluger Film. Es geht darin um Gil, einen jungen Schriftsteller, ein von vielen Zweifeln und Unsicherheiten gepeinigter Künstler – und eine Art Allen-alter-ego-, der mit einem zwar reichen, hübschen, aber sonst langweiligten höheren Töchterchen verlobt ist, und gerade auf Parisreise. Ihre Eltern, oberflächliche, ja dumme Amerikaner und Tea-Party-Sympathisanten sind auch dabei, und Gil fühlt sich zunehmend unwohl. Da trifft er bei einem nächtlichen Spaziergang Schlag Mitternacht auf eine Art…. – nun ja: Ein Tor zur Vergangenheit. Er kann es kaum fassen, aber plötzlich ist Gil, in seine Lieblingsvergangenheit katapultiert, in das Paris der 20er Jahre. Dort trifft er Hemingway, Gertrude Stein, Cole Porter, die Fitzgerald, und Adriana, die Geliebte von Pablo Picassso…
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Ein Märchenplot, ein gewagtes Szenario das aber auf der Leinwand großartig aufgeht – und Allen-Freunde daran erinnern wird,. dass solche irrwitzigen Spiele mit Zeit, Raum, Medien und Magie Allen schon früher interessierten: In The Purple Rose of Cairo stieg eine Figur aus einem Film von der Kinoleinwand.
Dies ist natürlich auch eine romantische Liebesgeschichte, angehaucht von
französischem Flair, mit typischen Woody-Allen-Wortwitzen und einigem schwarzen Humor – mit diesem ersten Highlight wurden am Mittwochabend die Filmfestspiele von Cannes eröffnet.
Allen pendelt in seinem Märchen nicht nur immer wieder zwischen der profanen Gegenwart, in der Geld und Kulturlosigkeit alles dominieren, und Gils bald täglichen Nachtausflügen in die Vergangenheit hin und her, und spielt witzig mit den Amerikaner in Paris-Motiven. Es geht auch um die logischen Probleme des Zeitreisens: Denn irgendwann bemerkt Gil, das es im Paris der Zwanziger noch eine Zeit-Tür gibt, die ihn ins Paris der Belle Epoque führt. Und in der Gegenwart trifft er auf ein altes Buch, in dem er selbst erwähnt wird, und auf eine junge hübsche Antiquarin, gespielt von Nachwuchsstar Lea Sedoux – an der er schließlich hängenbleibt. Und Paris wird Gil zum Fest fürs Leben.
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Dies ist das erste Werk von Allen, das in Paris spielt, und gerade in der Hauptstadt wurde der Film aus mehreren Gründen gespannt erwartet: Eine Nebenrolle spielt nämlich Carla Bruni, Model, Sängerin, Gelegenheitsschauspielerin und im Hauptberuf die Gattin von Präsident Nicholas Sarkozy. Noch, etwa eine Stunde vor der Premiere, rätselt man, ob Sarkozy wohl am Abend als »Mann an ihrer Seite« auf dem roten Teppich flanieren wird. Genauso tauchen pünktlich zur Premiere in den bunten Blättern der Hauptstadt Gerüchte auf, die Bruni sei womöglich schwanger – alles läuft also wieder einmal wie geschmiert für die PR-Kampagne von Allen und der Eröffnung des Festivals.
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Mit seiner prächtigen Kulisse aus Strand, Meer und der berühmten Palmenpromenade Croisette besticht das Filmfestival schon äußerlich. Doch auch mit seinem Programm beweist Cannes auch dieses Jahr aufs Neue, dass es das Mekka des Kinos ist, der Ort, an den die Cinephilen aller Welt einmal im Jahr pilgern, um den Göttern der »Siebten Kunst«, wie das Kino im Land seiner Erfinder, gern genannt wird, zu huldigen. Schon ein kurzer Blick in das Programm dessen, was den paar tausend professionellen Besuchern in den nächsten 12 Tagen bis zur Verleihung der »Goldenen Palme« bevorsteht, genügt, um die Festivaldirektoren der Konkurrenz von Berlin und Venedig vor Neid erblassen zu lassen.
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Johnny Depp in Taka-Tuka-Land. Zum Höhepunkt des Glamourbetriebs wurde dann der Samstag: Da enterten die Pirates of the Caribbean im vierten Film der scheinbar endlosen Freibeuterfantasy-Saga (Regie diesmal: Rob Marshall) für einen Tag das Festival: Die Pressevorführung am Morgen, Pressekonferenz am Mittag und Weltpremiere am Abend mit dem geschlechterübergreifenden Schwarm Johnny Depp, mit Spaniens Weltstar Penelope Cruz und Geoffrey Rush, machten es allen anderen Filmen schwer, noch Platz für eigene Schlagzeilen zu erobern.
Der Film, der außer Konkurrenz läuft erntete wohlwollende, aber nicht enthusiastische Reaktionen – wie die drei Vorgängerfilme, bei denen Gore Verbinski Regie führte, ist auch Rob Marschalls erster Pirates...-Film, dem ein fünfter Teil folgen soll, eine romantische Hommage an das klassische Genre des Piratenfilms. Allerdings scheinen die Macher dem selbst nicht ganz über den Weg zu trauen, daher wird die Story mit dem Fabelmotiv der Suche nach den Quellen der ewigen Jugend aufgepeppt und einem Rudel vampirischer Meerjungfrauen, die eher einer nordischen entstiegen scheinen. Auch spielt der größte Teil auf einer Tropeninsel – Johnny Depp in Taka-Tuka-Land. Als kurzweilige Unterhaltung funktioniert das trotz aller erz ählerischer Untiefen aber sehr gut.
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Der Wettbewerb um die Goldene Palme wurde mit Sleeping Beauty eröffnet, einem höchst sonderbaren Film und Debüt der Australierin Julia Leigh. Der Film ist eine Verfilmung des gleichen japanischen Romans von Yasunari Kawabata, den Vadim Glowna 2006 als Haus der schlafenden Schönen verfilmte. Die Geschichte klingt wie ein Altmännertraum: Junge schöne Frauen lassen sich gegen viel Geld betäuben, um in einem Zimmer die Nacht in tiefem Schlaf zu verbringen. Männer können diese Zimmer für noch mehr Geld mieten, und dürfen alles mit den jungen Mädchen machen – außer zu penetrieren. Während Glownas Film aus der Perspektive eines dieses Edelpuffgänger als morbides Drama über Altern und Vergänglichkeit inszeniert ist, stellt Julia Leigh eines der Mädchen ins Zentrum: Lucy, ein junges Mädchen aus zerrütteten Verhältnissen, das sich so durchschlägt. Sie studiert, und um das zu finanzieren, nimmt sie so ziemlich jede Arbeit an, die sie bekommt – als Versuchsperson, als Kellnerin, als Gelegenheitscallgirl. Und dann eben in besagtem Haus. warum sie das tut, ist ziemlich klar: Sie ist jung, braucht das Geld, hat keinen Menschen, und weil das Leben sowieso aus lauter Demütigungen besteht, sollen diese ihr wenigstens etwas einbringen. Die Hauptrolle spielt Emily Browning, die wir vor wenigen Wochen erst in Sucker Punch gesehen haben, die man hier aber kaum wiedererkennt. Und ihre Leistung ist beachtlich, zumal Lucy in fast jedem Bild hier zu sehen ist. Mit der Eisprinzessinnenhaftigkeit einer jungen Isabelle Huppert geht Browning durch die Szenen. Diese erinnern mal an Kubricks Eyes Wide Shut t, dann wieder an Belle de jour von Bunuel.
Die Bilder sind so steril, wie das Leben, das sie zeigen, aber sie sind präzis, wohlüberlegt und visuell stringent. Das kann man vom Drehbuch leider nicht sagen, darum verliert der Film vor allem am Ende die Spur, und hört vor allem zu abrupt einfach auf: Einer der Männer bringt sich an der Seite der schlafenden Lucy um. Doch dieses völlig missglückte Ende sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier der Wettbewerb mit einem recht starken Film eröffnet wurde.
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Der Wettbewerb kann diesmal mit einem beeindruckenden Dutzend bekannter Namen des Weltkinos aufwarten: Neue Filme von Pedro Almodóvar – bekannt für schöne starke Frauen, aber diesmal eher ein Horrorstück! –, von Aki Kaurismäki (saufende Finnen), und von den Dardennes-Brüdern (bedauernswertes Prekariat) lassen zwar kaum Überraschendes erwarten, garantieren aber für Niveau. Mit mehr Spannung erwartete man Nanni Morettis Komödie Habemus Papam – sie handelt vom Papst Papa Ratzinger. Geradezu fiebrige Erwartung gilt bereits jetzt zwei Filmemachern, die immer dafür gut sind, ihr Publikum gleichermaßen zu fesseln und aufzuregen: The Tree of Life der neue Film von Terrence Malick (The Thin Red Line) und Melancholia vom genialischen dänischen Über-Regisseur Lars von Trier. Die Hauptrolle spielt US-Star Kirsten Dunst, und man hört, es soll sich um ein Weltuntergangsdrama handeln. Das deutsche Kino repräsentiert Andreas Dresen in der Reihe »Un Certain Regard«. Dort sind auch viele weitere bekannte Namen präsent, Filme mit Catherine Deneuve und Sean Penn, Charlotte Rampling und Milos Forman. Die renommierte Nebensektion Semaine de la Critique feiert ihr 50. Jubiläum. Einst entdeckte man dort die ersten Werke von Regisseuren wie Wong Kar-wai, Guillermo del Toro und Arnaud Desplechin.
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Aber wer könnte gewinnen? Bisher können wir, und das ist ja gerade der Reiz des Spiels, nur von der Papierform ausgehen. Unser Freund Josef Schnelle hatte schon am Ankunftstag gewettet: Terrence Malicks The Tree of Life werde die Goldene Palme bekommen. Alin Tasciyan aus Istanbul glaubt an Debüts: »Das ist das einzige, was mich interessiert, und ich denke bei dieser Jury haben neue Filmemacher eine Chance.« Ich selbst glaube an Lars von Trier. Von den ganzen älteren Männern, die endlich mal eine Goldene Palme gewinnen müssen,. ist er der Interessanteste. Und Melancholia sieht auf den Bildern am besten aus. Sara Brito aus Madrid denkt: Vielleich Naomi Kawase. »Ihr letzter Film war allerdings wirklich schlecht – aber der lief ja auch in San Sebastian. Vielleicht hat sie für Cannes einen guten gemacht.« So geht das Leben weiter, und Cannes irgendwie seinen Gang. Ob das eine gute Nachricht ist?
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Es kann nicht nur ein Zufall sein. Auch nicht nur der Zufall einer persönlichen Wahrnehmung. Daher muss auch heute wieder festgestellt werden: Die diesjährige Auswahl beim Filmfestival von Cannes ist überaus morbid. Und interessanterweise kreisen die Filme, auch wenn es mal nicht um den Tod geht, um Wiederauferstehungsszenarien.
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Genau das Gegenteil hiervon bietet der Deutsche Andreas Dresen: Kaum Stars, keine prächtig-exotischen Kulissen, und eine Geschichte, die das Zeug zum Saalfeger hat. Zwar erlebt man Frank, die von Milan Peschel gespielte Hauptfigur, einmal mit seiner Familie auf »Tropical Island«, einem brandenburgischen »tropischen« Freizeitpark. Aber da ist schon klar, dass der kleine Berliner Postangestellte einen inoperablen Hirntumor und nur noch wenige Wochen zu leben hat. Der letzte Familienausflug geht gründlich schief, zu stark leidet Frank bereits unter seiner Krankheit und den Wirkungen starker Medikamente. »Halt auf freier Strecke«, der außerhalb des Wettbewerbs in der Nebensektion »Un Certain Regard« läuft, ist also noch ein Film über das Sterben lernen, und auch ganz objektiv betrachtet, auch außerhalb momentaner Stimmungslagen schwer erträglich.
Eine akribische Chronologie des Sterbens – vom Augenblick der tödlichen Diagnose bis zu den letzten Momenten des Kranken. Es ist eine Reise, in der jeder Schritt eine Verschlechterung bedeutet, und keine Hoffnung übrig ist. Der Film begleitet Therapien und Abschiedsbesuche der Angehörigen, letzte kleine Freuden des Todkranken, ein letztes Mal Weihnachten, ein letztes Sylvester. Vor allem aber entfaltet er die Dynamik innerhalb der Familie: Die Leiden der Angehörigen, die Kinder, die mit der Situation nicht umgehen können. Wie stirbt man »richtig«? Wie erklärt man so etwas kleinen Kindern? Wie geht man mit dem Ehepartner um? Zu solchen Fragen hat Dresen eine Meinung und ein Bild – wenn auch naturgemäß nicht immer eine Antwort.
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Wie aber stellt man einen derart delikaten Stoff im Kino dar? Wie vermeidet man Kitsch, gibt ein realistisches Bild, ohne auf Emotionen zu verzichten. Dresen ist diese Gradwanderung missglückt. Mal ist der Ton zu flapsig, dann wieder »menschelnd« nahe am Melo, dann betont naturalistisch: Es wird gespuckt, gekotzt, gepinkelt und viel geweint in diesem Film – was ohne Frage die Wirklichkeit wiedergibt.
Womöglich hält Dresen so etwas wirklich für Neorealismus, und glaubt, dass er wieder einmal ein tabuisiertes Thema auf die Leinwand bringt. Aber im Unterschied zu Rosselini, dem frühen Antonioni ist Dresens Haltung bis zum Schluss völlig unklar: Er hat schon immer Gutmenschenfilme und Soz-Päd-Kino gemacht. Und auch wenn man es nicht gern sieht, verzeiht man ihm diese Arte-Povera-Attitüde: Betont »normale« Menschen in einer Allerwelts-Wohnung, die nicht ein einziges geschmackvolles Detail besitzt – Kino, das immer wieder Zuflucht in Spießigkeit sucht.
Aber was soll zum Beispiel die Eröffnungsszene: Der Arzt verkündet Frank die schlimme Nachricht. Dabei wird er einmal von einem banalen Anruf minutenlang unterbrochen. Schon dass ein Arzt in so einer Situation abnimmt, glaube ich nicht. Erst recht nicht, dass er dann den Anrufer nicht kurz abfertigt. Danach stammelt der Arzt immer wieder blöde und unsicher herum, erklärt dem Kranken nichts. Mag schon sein, dass es so etwas gibt, aber ich glaube kein Wort. Dann gibt es einen von Thorsten Merten gespielten Tumor in Menschengestalt. Und ein Art Todestagebuch per I-phone – alles Mätzchen, die Film Form und Story nicht weiterbringen. Will Dresen mit all dem Naturalismus und ein schwieriges Thema endlich auf die Leinwand bringen? Oder eher mit leisem Humor die Absurdität der Lage von Todkranken beschreiben, und darauf aufmerksam machen, dass es womöglich Dinge gibt, die sich filmisch nicht unverfremdet darstellen lassen? Beides wäre legitim, aber er müsste sich entscheiden. Dresens Haltung aber blieb unklar.
So war die Reaktion des internationalen Premierenpublikums verhalten und gespalten – während manche genervt den Saal vor Toreschluß verließen, hatten andere Tränen der Rührung in den Augen. So wie der Satz gilt, dass jeder für sich allein stirbt, so sieht auch jeder gerade bei einem solchen Thema seinen eigenen Film. Und zum (Gott sei Dank) bestimmt vorhandenen Einfluss momentaner Stimmungslagen auf die Filmbetrachtung sei gesagt: Als ich hörte, dass dieser Film von einem unheilbar Krebskranken handelt, wollte ich erst gar nicht reingehen, und bin es dann nur aus Berichterstatterpflicht. Aber das Gute an diesem Film ist, dass er so Scheiße ist, dass er einen überhaupt gar nicht erst berührt
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Was Dresens Film von wirklich großem Kino trennt, zeigten die belgischen Brüder Dardennes, die hier schon zweimal die Goldene Palme gewannen. Le gamin au vélo (Der Junge mit dem Fahrrad) heißt ihr neuer Film: Auch dies könnte leicht auf ein Miserabilitätsportrait hinaus laufen – handelt der Film doch von einem Heimjungen, der verzweifelt seinen Taugenichts von Vater sucht, und in Gefahr läuft, ins kriminelle Milieu abzugleiten. Doch mit wenigen Kniffen, mit Ruhe, einer dezenten Abstraktion und dem klugen Einsatz eines Stücks von Beethoven heben die Dardennes ihre Geschichte auf die Ebene einer Fabel und einer Art Heiligenlegende: Der Junge, der schon verloren schien, erlebt eine Wiederauferstehung – und das Kino einen ersten Glücksmoment in einem Wettbewerb, der bislang viel von Tod und Trauer handelt.