23.02.2012
62. Berlinale 2012

Tolstoi und YouPorn im Paral­lel­uni­versum

Joven & Alocada
Joven & Alocada
(Foto: Elle Driver)

Vertreibung aus dem Paradies: Zwischen Rebellion und Repression ist die »Generation« womöglich die innovativste Reihe der Berlinale

Von Rüdiger Suchsland

Daniela liegt im Bett und träumt. Sie träumt von jungen Männer­kör­pern, von Zungen und Schwänzen, sie träumt manchmal auch von Mädchen­kör­pern, von Küssen und Zärt­lich­keit. »Ich bin die Liebe«, sagt Jesus, sagt ihre Mutter, aber das ist nicht die Liebe, von der Daniela träumt. Sie hört nicht mehr, was ihre Mutter ihr sagt, weil die in einer Evan­ge­lis­ten­sekte ist, und nur noch auf das hört, was ihr angeblich Jesus befiehlt. Daniela löst sich gerade von dem Funda­men­ta­lis­tenz­in­nober, sie liegt lieber im Bett und befrie­digt sich selbst, und dann räson­niert sie in ihrem Blog darüber, ob sie jetzt lesbisch ist oder bi oder... und ob man sich zwischen Bacon und Tofu entscheiden muss. Der chile­ni­sche Film Joven & Alocada ist hervor­ra­gendes Kino, innovativ in seinen Mitteln und mutig in dem, was die Regis­seurin Marialy Rivas hier über eine Education senti­men­tale aus unserer Gegenwart erzählt. Das sensible Portrait eines Teenager-Girls und ihrer Umgebung, der Freunde, Liebhaber, Klas­sen­ka­me­raden, und der Erwach­senen, der repres­siven Mutter, ihrer spin­nerten Evan­ge­lis­ten­freunde und der liberalen Tante, die aber leider gerade an Krebs stirbt. Der Film könnte gut auch im Forum oder im Panorama laufen, und wäre dort auch einer der besten – weil er aber in der Sektion »Gene­ra­tion« gezeigt und damit ausdrück­lich für ein jugend­li­ches Publikum ausge­wählt wird, wird dieser Geschichte über Rebellion und Repres­sion ganz zu Recht die Aufmerk­sam­keit zuteil werden, die er verdient.

Es ist das Problem der Berlinale, aber das Glück der Sektion »Gene­ra­tion«, dass hier, im einstigen Kinder­film­fest, das heute in zwei Reihen – »14plus« und darunter – aufge­teilt ist, inzwi­schen unter über 50 Werken (darunter zwölf Welt­pre­mieren) oft bessere und ästhe­tisch gewagtere Filme laufen, als in den etablierten, vermeint­lich »erwach­senen« Reihen – vermeint­lich, denn tatsäch­lich ist die Gene­ra­tion kaum weniger erwachsen: Zwei Filme empfehlen die Programmer erst ab 16.

Wie soll man leben? Was bedeutet es, ganz und gar frei zu sein, in einer »gott- und prophe­ten­losen Zeit« (Max Weber), es sei denn, man bastelt sich die Propheten und Götter selber? Solche exis­ten­ti­ellen Fragen, die die besseren Filme­ma­cher aller Sektionen umtreiben, stehen auch in den Gene­ra­tion-Werken im Zentrum. Mit einem wichtigen Unter­schied: Der Blick auf die Kinder zeigt immer auch die Welt der Erwach­senen – aber gebrochen, mit ihren Augen. Perfekt führt diese Haltung Off White Lies aus Israel vor. Mit vergleichs­weise konven­tio­nellen Mitteln erzählt Maya Kenig von der 13-jährigen Libby, die die letzten Jahre in Amerika gelebt hat, nun aber von ihrer Mutter nach Israel geschickt wurde, um dort in den nächsten Monaten bei ihrem Vater Shaul zu leben, den sie bisher kaum kennt. Nachdem die Eltern sich getrennt hatten, war der Vater nur noch gele­gent­lich am Telefon präsent. Dies ist nicht nur eine Vertrei­bung aus dem Paradies, weil Libby, kaum in der nörd­li­chen Grenzdorf ange­kommen, in dem der Vater lebt, zuerst einmal in einen Grana­ten­an­griff gerät und im Bunker Zuflucht suchen muss. Politik und Palästina-Konflikt bleiben im Folgenden im Hinter­grund präsent. Vor allem geht es aber um die Annähe­rung zwischen Vater und Tochter, die sich zögerlich und in gegen­läu­figen Bewe­gungen vollzieht. Libby erfährt, dass der Vater sich als Erfinder mehr schlecht als recht durch­schlägt, und zur Zeit gerade kein Dach überm Kopf hat. Der Vater entpuppt sich insgesamt als char­manter Hoch­stapler, der immer knapp bei Kasse ist, und nicht weniger Libbys Hilfe braucht, als sie die seine. Das Leben meistert er trotzdem einfalls­reich, mit viel Charme und mit Hilfe von »little white lies« – halb­ver­zeih­li­chen Schwin­de­leien.

Zu ihnen gehört die, dass sich Shaul bei einer wohl­ha­benden Familie als Kriegs­opfer ausgibt, und mit Libby bei der wohl­ha­benden Familie einzieht. Das führt zu neuen Problemen: Shaul beginnt ein Verhältnis mit der Gast­ge­berin, Libby aber fühlt sich in ihrem neuen Leben völlig allein­ge­lassen. Sie begreift, dass sie ihren Vater erziehen muss, und ihm das Leben im perma­nenten Ausnah­me­zu­stand abge­wöhnen. Off White Lies ist eine gut gespielte, leichte Komödie mit ernsten Unter­tönen – und das unge­wöhn­liche Portrait eines Lebens mit kleinen Lügen und großer Unsi­cher­heit, das Libby und ihr Vater mit vielen Israelis gemeinsam haben.

Die Erwach­senen in diesen Filmen lügen nicht weniger oft, als ihre Kinder, und auch sonst ist auf sie nicht mehr Verlass, als auf Freunde und Mitschüler, oft weniger. Gleich zwei Filme – neben Joven & Alocada noch Rebecca Thomas' ameri­ka­ni­scher Eröff­nungs­film Electrik Children – handeln von Kindern, die von ihren Eltern in obskuren christ­li­chen Sekten erzogen werden, aus denen sie sich nur mühsam befreien können – die Lektion, dass reli­giöser Funda­men­ta­lismus kein Allein­stel­lungs­merkmal des Islam ist, ist klar, wird einem aber nie über­deut­lich aufs Brot geschmiert. Ein grund­sätz­li­cher ethischer Realismus – keines­wegs zu verwech­seln mit Rela­ti­vismus – durch­zieht fast alle diese Filme, die man als moralisch-meta­phy­si­sches Abrüs­tungs­un­ter­nehmen begreifen muss. Zugleich werden recht präzise jugend­liche Lebens­welten einge­fangen, und schon deshalb möchte man gerade erwach­senen Kino­gän­gern die Gene­ra­tion empfehlen. Neue Medien und Popkultur sind selbst­ver­s­tänd­lich, darum müssen sie gar nicht mehr aufdring­lich zum Thema gemacht werden.

Manche Pädagogen und »Leit­me­dien«, jene, die sich über nichts mehr aufregen als über vermeint­lich jugend­ge­fähr­dende FSK-Freigaben, und alle, die ihre Kinder immer noch am liebsten ohne Internet und Smart­phone aufwachsen sähen, ihnen aber auch immer schon gern Grimms Märchen, Karl May und Comics verbieten würden, werden und müssen über die »Gene­ra­tion« die Nase rümpfen – der Dunst des nied­li­chen »Kinder­film­fests« hat sich verzogen. Damit fängt die Reihe präzise eine grund­sätz­li­chere Tendenz unseres Zeital­ters ein, in dem Zeit­dia­gnos­tiker gleich­zeitig schlei­chende Infan­ti­li­sie­rung und neue Bürger­lich­keit konsta­tieren, in dem Erwach­sene Compu­ter­spiele treiben und Harry Potter lesen, Jugend­liche dagegen YouPorn gucken, auf Occupy-Demos gehen, und am nächsten Tag plötzlich Tolstoi lesen: Tatsäch­lich verschmelzen die Paral­lel­welten der Gene­ra­tionen, und die »Gene­ra­tion« trägt dem Rechnung. Sie ist damit womöglich die inter­es­san­teste Berlinale-Sektion.

Weitere Beob­ach­tungen: Auffal­lend viele Beiträge stammen von Regis­seu­rinnen und oft stehen auch Mädchen und Frauen im Zentrum. Und: Das latein­ame­ri­ka­ni­sche Kino war diesmal besonders stark. Sehr empfeh­lens­wert ist Un Mundo Secreto aus Mexiko (Regie: Gabriel Mariño). Darin geht es um ein Mädchen, das eine gefähr­liche Reise unter­nimmt. Sehr besonders ist auch der argen­ti­ni­sche Beitrag Nosi­la­taij. LA Belleza von Daniela Seggiaro, der ein indigenes Haus­mäd­chen portrai­tiert. Weniger über­ra­schend ist die Qualität des skan­di­na­vi­schen Kinos: Kron­ju­ve­lerna von der Schwedin Ella Lemhagen spielt mit den Stereo­typen von Schwe­den­krimi wie Märchen. Und Simon Stahos Love Is In the Air (Dänemark/Schweden) ist ein Musical ganz nahe am jugend­li­chen Ziel­pu­blikum. Nur ganz gele­gent­lich, am ehesten, wenn es um ferne »Dritte« Welten und das Lob der Natur geht, streifen einige Filme noch Bedürf­nisse nach Heile-Welt und poli­ti­scher Correct­ness. Einer der rätsel­haf­testen Filme ist der türkische Lal gece, in dem sich das beklem­mende Szenario einer Hoch­zeits­nacht zwischen einer 14-Jährigen und einem alten Mann auflöst wie in Tausend­und­einer Nacht. Auch das ist ein Paral­lel­uni­versum, viel­leicht aktueller, als wir es gern wahrhaben möchten. Der Gene­ra­tion gebührt das Verdienst, vor nichts die Augen zu verschließen.