62. Berlinale 2012
Tolstoi und YouPorn im Paralleluniversum |
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Joven & Alocada | ||
(Foto: Elle Driver) |
Daniela liegt im Bett und träumt. Sie träumt von jungen Männerkörpern, von Zungen und Schwänzen, sie träumt manchmal auch von Mädchenkörpern, von Küssen und Zärtlichkeit. »Ich bin die Liebe«, sagt Jesus, sagt ihre Mutter, aber das ist nicht die Liebe, von der Daniela träumt. Sie hört nicht mehr, was ihre Mutter ihr sagt, weil die in einer Evangelistensekte ist, und nur noch auf das hört, was ihr angeblich Jesus befiehlt. Daniela löst sich gerade von dem Fundamentalistenzinnober, sie liegt lieber im Bett und befriedigt sich selbst, und dann räsonniert sie in ihrem Blog darüber, ob sie jetzt lesbisch ist oder bi oder... und ob man sich zwischen Bacon und Tofu entscheiden muss. Der chilenische Film Joven & Alocada ist hervorragendes Kino, innovativ in seinen Mitteln und mutig in dem, was die Regisseurin Marialy Rivas hier über eine Education sentimentale aus unserer Gegenwart erzählt. Das sensible Portrait eines Teenager-Girls und ihrer Umgebung, der Freunde, Liebhaber, Klassenkameraden, und der Erwachsenen, der repressiven Mutter, ihrer spinnerten Evangelistenfreunde und der liberalen Tante, die aber leider gerade an Krebs stirbt. Der Film könnte gut auch im Forum oder im Panorama laufen, und wäre dort auch einer der besten – weil er aber in der Sektion »Generation« gezeigt und damit ausdrücklich für ein jugendliches Publikum ausgewählt wird, wird dieser Geschichte über Rebellion und Repression ganz zu Recht die Aufmerksamkeit zuteil werden, die er verdient.
Es ist das Problem der Berlinale, aber das Glück der Sektion »Generation«, dass hier, im einstigen Kinderfilmfest, das heute in zwei Reihen – »14plus« und darunter – aufgeteilt ist, inzwischen unter über 50 Werken (darunter zwölf Weltpremieren) oft bessere und ästhetisch gewagtere Filme laufen, als in den etablierten, vermeintlich »erwachsenen« Reihen – vermeintlich, denn tatsächlich ist die Generation kaum weniger erwachsen: Zwei Filme empfehlen die Programmer erst ab 16.
Wie soll man leben? Was bedeutet es, ganz und gar frei zu sein, in einer »gott- und prophetenlosen Zeit« (Max Weber), es sei denn, man bastelt sich die Propheten und Götter selber? Solche existentiellen Fragen, die die besseren Filmemacher aller Sektionen umtreiben, stehen auch in den Generation-Werken im Zentrum. Mit einem wichtigen Unterschied: Der Blick auf die Kinder zeigt immer auch die Welt der Erwachsenen – aber gebrochen, mit ihren Augen. Perfekt führt diese Haltung Off White Lies aus Israel vor. Mit vergleichsweise konventionellen Mitteln erzählt Maya Kenig von der 13-jährigen Libby, die die letzten Jahre in Amerika gelebt hat, nun aber von ihrer Mutter nach Israel geschickt wurde, um dort in den nächsten Monaten bei ihrem Vater Shaul zu leben, den sie bisher kaum kennt. Nachdem die Eltern sich getrennt hatten, war der Vater nur noch gelegentlich am Telefon präsent. Dies ist nicht nur eine Vertreibung aus dem Paradies, weil Libby, kaum in der nördlichen Grenzdorf angekommen, in dem der Vater lebt, zuerst einmal in einen Granatenangriff gerät und im Bunker Zuflucht suchen muss. Politik und Palästina-Konflikt bleiben im Folgenden im Hintergrund präsent. Vor allem geht es aber um die Annäherung zwischen Vater und Tochter, die sich zögerlich und in gegenläufigen Bewegungen vollzieht. Libby erfährt, dass der Vater sich als Erfinder mehr schlecht als recht durchschlägt, und zur Zeit gerade kein Dach überm Kopf hat. Der Vater entpuppt sich insgesamt als charmanter Hochstapler, der immer knapp bei Kasse ist, und nicht weniger Libbys Hilfe braucht, als sie die seine. Das Leben meistert er trotzdem einfallsreich, mit viel Charme und mit Hilfe von »little white lies« – halbverzeihlichen Schwindeleien.
Zu ihnen gehört die, dass sich Shaul bei einer wohlhabenden Familie als Kriegsopfer ausgibt, und mit Libby bei der wohlhabenden Familie einzieht. Das führt zu neuen Problemen: Shaul beginnt ein Verhältnis mit der Gastgeberin, Libby aber fühlt sich in ihrem neuen Leben völlig alleingelassen. Sie begreift, dass sie ihren Vater erziehen muss, und ihm das Leben im permanenten Ausnahmezustand abgewöhnen. Off White Lies ist eine gut gespielte, leichte Komödie mit ernsten Untertönen – und das ungewöhnliche Portrait eines Lebens mit kleinen Lügen und großer Unsicherheit, das Libby und ihr Vater mit vielen Israelis gemeinsam haben.
Die Erwachsenen in diesen Filmen lügen nicht weniger oft, als ihre Kinder, und auch sonst ist auf sie nicht mehr Verlass, als auf Freunde und Mitschüler, oft weniger. Gleich zwei Filme – neben Joven & Alocada noch Rebecca Thomas' amerikanischer Eröffnungsfilm Electrik Children – handeln von Kindern, die von ihren Eltern in obskuren christlichen Sekten erzogen werden, aus denen sie sich nur mühsam befreien können – die Lektion, dass religiöser Fundamentalismus kein Alleinstellungsmerkmal des Islam ist, ist klar, wird einem aber nie überdeutlich aufs Brot geschmiert. Ein grundsätzlicher ethischer Realismus – keineswegs zu verwechseln mit Relativismus – durchzieht fast alle diese Filme, die man als moralisch-metaphysisches Abrüstungsunternehmen begreifen muss. Zugleich werden recht präzise jugendliche Lebenswelten eingefangen, und schon deshalb möchte man gerade erwachsenen Kinogängern die Generation empfehlen. Neue Medien und Popkultur sind selbstverständlich, darum müssen sie gar nicht mehr aufdringlich zum Thema gemacht werden.
Manche Pädagogen und »Leitmedien«, jene, die sich über nichts mehr aufregen als über vermeintlich jugendgefährdende FSK-Freigaben, und alle, die ihre Kinder immer noch am liebsten ohne Internet und Smartphone aufwachsen sähen, ihnen aber auch immer schon gern Grimms Märchen, Karl May und Comics verbieten würden, werden und müssen über die »Generation« die Nase rümpfen – der Dunst des niedlichen »Kinderfilmfests« hat sich verzogen. Damit fängt die Reihe präzise eine grundsätzlichere Tendenz unseres Zeitalters ein, in dem Zeitdiagnostiker gleichzeitig schleichende Infantilisierung und neue Bürgerlichkeit konstatieren, in dem Erwachsene Computerspiele treiben und Harry Potter lesen, Jugendliche dagegen YouPorn gucken, auf Occupy-Demos gehen, und am nächsten Tag plötzlich Tolstoi lesen: Tatsächlich verschmelzen die Parallelwelten der Generationen, und die »Generation« trägt dem Rechnung. Sie ist damit womöglich die interessanteste Berlinale-Sektion.
Weitere Beobachtungen: Auffallend viele Beiträge stammen von Regisseurinnen und oft stehen auch Mädchen und Frauen im Zentrum. Und: Das lateinamerikanische Kino war diesmal besonders stark. Sehr empfehlenswert ist Un Mundo Secreto aus Mexiko (Regie: Gabriel Mariño). Darin geht es um ein Mädchen, das eine gefährliche Reise unternimmt. Sehr besonders ist auch der argentinische Beitrag Nosilataij. LA Belleza von Daniela Seggiaro, der ein indigenes Hausmädchen portraitiert. Weniger überraschend ist die Qualität des skandinavischen Kinos: Kronjuvelerna von der Schwedin Ella Lemhagen spielt mit den Stereotypen von Schwedenkrimi wie Märchen. Und Simon Stahos Love Is In the Air (Dänemark/Schweden) ist ein Musical ganz nahe am jugendlichen Zielpublikum. Nur ganz gelegentlich, am ehesten, wenn es um ferne »Dritte« Welten und das Lob der Natur geht, streifen einige Filme noch Bedürfnisse nach Heile-Welt und politischer Correctness. Einer der rätselhaftesten Filme ist der türkische Lal gece, in dem sich das beklemmende Szenario einer Hochzeitsnacht zwischen einer 14-Jährigen und einem alten Mann auflöst wie in Tausendundeiner Nacht. Auch das ist ein Paralleluniversum, vielleicht aktueller, als wir es gern wahrhaben möchten. Der Generation gebührt das Verdienst, vor nichts die Augen zu verschließen.