25.02.2012
62. Berlinale 2012

Stille Perlen und Glut­lichter für die Zukunft

Marina Abramovic - The Artist is Present
Marina Abramovic – The Artist is Present
(Foto: NFP marketing & distribution GmbH / Filmwelt Verleihagentur GmbH)

Seitenblicke auf die Berlinale

Von Dieter Wieczorek

Festivals der Grös­sen­ord­nung Berlins sind vor allem laute Ereig­nisse. Spek­ta­kuläre Stich­worte illu­mi­nieren die Pres­se­be­richt­erstat­tung und gossen Medien, Schlüs­sel­reize sind zu treffen, neben mehr Sex denn je auch gern Kriege und andere Konflikt­felder, die als »politisch virulent« gelten und sich gut als Hinter­grund­sku­lisse nutzen lassen, vor der sich die (immer­gleiche) konflikt­reich seichten (Liebes-)Geschichte tummelt. Eine Differenz zu machen zwischen polisch-histo­ri­schen Filmen, die auf Recher­che­ar­beit beruhen und das Medium Film nutzen, um neue Diskus­si­ons­po­ten­ziale einzu­spielen, sind selbst­re­dend nicht zu verglei­chen mit solchen, die faktisch bekannte über­wie­gend barba­ri­sche Effekte als spek­ta­kuläre Anheizer nutzen, um einen Film als »politisch« aufzu­werten.

Aber grosse Festivals haben weit mehr und der Medi­en­hektik syste­ma­tisch entge­hendes zu bieten, stille Perlen abseits des Main-Streams, über die nur eine Handvoll Zuschauer Auskunft zu geben vermögen. Diese Filme, gern als »elitär« bezeichnet oder als autoren­be­zo­genes Kino gebrannt­markt, reflek­tieren Reales weit sensibler und vari­an­ten­rei­cher. Ihr Ort sind Kurz­film­sek­tionen und Neben­reihen, allen voran die des Forum.

Nur einige können hier in Erin­ne­rung gerufen werden, die nicht in die Kinoblaster belangen werden, aber zeigen, dass von einer Krise der Kino­kultur die Rede nicht sein kann. Die Festivals sind ihr einziger Lebensort im real space.

Der viel­leicht eindring­lichste Film der vom Charme einer unvor­her­seh­baren Mixtur der Stile und Niveaus gekenn­zeich­neten Kurzfilm-Wett­be­werbs­pro­gramme kommt aus Indien. In unprä­ten­tiöser Weise wird hier ein denkbar schwie­riger Alltag einge­fangen: das tägliche Überleben auf riesigen Müll­halden, auf denen Familien ihre Nahrung finden und zube­reiten, neben ihren ebenfalls hier errich­teten Zelten. Ein Leben andern­orts existiert nicht mehr.

Die kultu­relle Differenz in der Wahr­neh­mung dieses Phänomens wird besonders ange­sichts der Tatsache deutlich, dass der Regisseur Mohn Kumar Valasala in seiner Synopsis diesen Zustand nicht als sozial scho­ckie­rend thema­ti­siert, sondern in einer philo­so­phi­schen Perspek­tive als »gewöhn­li­ches« Leben deutet, gar als eines, dass durch seine Rand­po­si­tion ein bewuss­teres ist, eines, dass sich mit der Permanenz der Elemente Erde, Feuer, Wasser, Luft und Äther unmit­telbar konfron­tiert. Der Titel Panch­ab­hiuta (Die fünf Elemente) indiziert nichts anderes.

Aus der Republik Korea gelangte der Film Mah Chui (Anäs­thesie) der Filme­ma­cherin Kim Sauk-young nach Berlin. Auch sie absol­vierte philo­so­phi­sche Refle­xionen schon während ihrer Studi­en­zeit. Sie offeriert eine luzide Kritik sozialer Hier­ar­chie und Unter­ord­nung. Eine Kran­ken­schwester beob­achtet einen behan­delten Arzt und Vorge­setzten, der sich regel­mässig an seinen betäubten Pati­en­tinnen vergeht. Aufge­bracht bei ihren Kollegen Hilfe suchend trifft sie lediglich auf Duck­mäu­sertum. Selbst das Argument, dass für das Opfer die Wahrheit schä­di­gend sei, wird vorge­bracht. Die junge Frau begreift, dass es nur einen Weg gibt, den Zirkel des Schwei­gens zu durch­bre­chen. Sie muss selbst muss sich als Opfer präsen­tieren, und sich zugleich dabei filmen…

In der brasi­lia­ni­schen Trans­ves­ti­ten­szene ange­sie­delt porträ­tiert Claudia Llosa in Loxoro eine Mutter, die nach ihrer im gleichen Milieu arbei­tenden verschwun­denen Tochter sucht. Die Frage nach noch exis­tie­renden Resten von Inte­grität und Moral unter den diffa­mierten Rand­exis­tenzen, Zuhältern und Prosti­tu­ierten wird eindring­lich durch­ge­spielt.

Ebenfalls im mora­li­schen Border­line operiert der chine­si­sche Beitrag Sho Luo Zhi Di (Das verlorene Land), der kriminell orga­ni­sierte Klein­gruppen bei der Vertrei­bung letzter noch störenden Einwohner auf den zu Immo­bi­li­en­spe­ku­la­tion gewor­denen Terrains am Werke zeigt. Vor Brand­stif­tung und Vergif­tung wird nicht zurück­ge­schreckt. Die Geschichte bekommt einen leichten Drive durch das Wieder­sehen eines der Krimi­nellen mit einer ehema­ligen Freundin, die als Zirkus­mit­glied sich auf der falschen Seite im Kampf ums Terrain findet. Ein Happy End bietet Zhou Yan, Teil­neh­merin des Berlinale Campus 2007, glück­li­cher­weise nicht.

Im Forum-Programm hervor­zu­heben ist Iwai Shunjis Doku­men­tar­film Friends after 3.11 der anders als die üblichen After-Fukushima Werke sich nicht darauf beschränkt, das Desaster spek­ta­kulär abzu­bilden, ästhe­ti­sche Effekte der Brach­landes zu destil­lieren oder die Wieder­kehr einer schein­baren Norma­lität zu doku­men­tieren, sondern eine wirk­li­chen Bestands­auf­nahme der Ursachen, Wirkungen und möglichen Verän­de­rungen der japa­ni­schen Gesell­schaft bietet. Sein sozial und psycho­lo­gisch detail­lierte Beob­ach­tungen, gestützt durch eine Vielzahl von Inter­views, vermögen wirklich Einblick zu geben in eine vom Westen gesehen immer noch fremd­ar­tige Gesell­schaft, ein wirk­li­ches Werk der Aufklärung.

Nicht nur für Gegen­warts­kunst­lieb­haber und Perfor­mance­freaks war das viel­leicht beein­dru­ckendste Werk der Berlinale 2012 Matthaw Akers und Jeff Dupres Doku­men­tar­film Marina Abramovic: The Artist Is Present, in der Panora­ma­sek­tion. Der US-ameri­ka­ni­sche Beitrag verblüfft, weil er mehrfach den Standards des Künst­ler­por­träts entgegen läuft. Zunächst einmal zeigt er die Künst­lerin in ihren Höhen und Tiefen, nicht frei von Selbst­zwei­feln und konzep­tu­ellen Unsi­cher­heiten, gezeichnet von Ängsten, als Frau, die sich luzide auch das in Erin­ne­rung zu rufen vermag, was sie auf der Erfolgs­leiter an »Reinheit« verlor, besonders ab dem Moment, da sie sich von ihrem Lebens- und Perfor­man­ce­partner Ulay trennte, den Genuss der Konsu­mie­rens für sich entdeckte und den Stil ihrer Perfor­mances zu verändern begann, indem sie ihn eher thea­tra­lisch ausge­rich­tete, eher geschaffen für Muse­ums­in­nen­räume, fern jener ausge­setzten Körper­er­fah­rungen, die ihre Anfänge kenn­zeich­nete. Die Erfolgs­ge­schichte Abramovic wird hier auch lesbar als das Schicksal einer ganzen Gene­ra­tion der Aufsäs­sigen und Rebellen, die schliess­lich sich ins System inte­grierten.

Zum anderen aber vermag dieses Künst­ler­por­trät die reale ange­heizte Spannung der grossen, über drei Monate ange­legten Perfor­mance der Künst­lerin in Jahr 2009 in MoMA einzu­fangen, wo sie noch einmal an die körper­li­chen Grenzen ging, und sich täglich Dutzenden Fremden im inten­siven Augen­kon­takt stellte. Für all dieje­nigen, die nicht unmit­telbar teil­nehmen konnten wird hier eine Möglich­keit geschaffen, nach­zu­emp­finden und mitzu­er­leben, wie ein einfacher Augen­kon­takt Menschen aus der gewohnten Bahn zu reißen und mit eigenen inten­sivsten Erleb­nis­mo­menten zu konfron­tieren vermag. Die New Yorker Ausstel­lung struk­tu­riert den Film, der in leichtem Rhythmus die Stationen Abra­mo­vics Revue passieren lässt. Noch ein drittes Element macht den Film zur reinen Aufzeich­nung einer neuen Perfor­mance, an der er gleich­zeitig parti­zi­piert: die Wieder­be­geg­nung zwischen Abramovic und Ulay, ein unglaub­li­cher Augen­blick, da zwei so unter­schied­liche Künstler und Reprä­sen­tanten von Perfor­mance-Stilen sich noch einmal begegnen.

Der doku­men­ta­ri­sche Ansatz des Films gibt State­ments über die Künst­lerin Raum, die norma­ler­weise unter der Aufsicht einer Anwalts­schar säuber­lich heraus geschnitten werden. Gerade dies macht das Werk so sehens­wert und über­zeu­gend. Nicht eine vollendet unan­tast­bare Kunst-Heroine, sondern eine Frau auf der Suche nach sich selbst und dem Verlo­renen charak­te­ri­siert hier den Grundton. So entstand ein Film, der gute Chancen hat, als eines der eindring­lichsten Werke zur Deutung der Perfor­mance­kunst in Erin­ne­rung zu bleiben.