62. Berlinale 2012
Stille Perlen und Glutlichter für die Zukunft |
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Marina Abramovic – The Artist is Present | ||
(Foto: NFP marketing & distribution GmbH / Filmwelt Verleihagentur GmbH) |
Von Dieter Wieczorek
Festivals der Grössenordnung Berlins sind vor allem laute Ereignisse. Spektakuläre Stichworte illuminieren die Presseberichterstattung und gossen Medien, Schlüsselreize sind zu treffen, neben mehr Sex denn je auch gern Kriege und andere Konfliktfelder, die als »politisch virulent« gelten und sich gut als Hintergrundskulisse nutzen lassen, vor der sich die (immergleiche) konfliktreich seichten (Liebes-)Geschichte tummelt. Eine Differenz zu machen zwischen polisch-historischen Filmen, die auf Recherchearbeit beruhen und das Medium Film nutzen, um neue Diskussionspotenziale einzuspielen, sind selbstredend nicht zu vergleichen mit solchen, die faktisch bekannte überwiegend barbarische Effekte als spektakuläre Anheizer nutzen, um einen Film als »politisch« aufzuwerten.
Aber grosse Festivals haben weit mehr und der Medienhektik systematisch entgehendes zu bieten, stille Perlen abseits des Main-Streams, über die nur eine Handvoll Zuschauer Auskunft zu geben vermögen. Diese Filme, gern als »elitär« bezeichnet oder als autorenbezogenes Kino gebranntmarkt, reflektieren Reales weit sensibler und variantenreicher. Ihr Ort sind Kurzfilmsektionen und Nebenreihen, allen voran die des Forum.
Nur einige können hier in Erinnerung gerufen werden, die nicht in die Kinoblaster belangen werden, aber zeigen, dass von einer Krise der Kinokultur die Rede nicht sein kann. Die Festivals sind ihr einziger Lebensort im real space.
Der vielleicht eindringlichste Film der vom Charme einer unvorhersehbaren Mixtur der Stile und Niveaus gekennzeichneten Kurzfilm-Wettbewerbsprogramme kommt aus Indien. In unprätentiöser Weise wird hier ein denkbar schwieriger Alltag eingefangen: das tägliche Überleben auf riesigen Müllhalden, auf denen Familien ihre Nahrung finden und zubereiten, neben ihren ebenfalls hier errichteten Zelten. Ein Leben andernorts existiert nicht mehr.
Die kulturelle Differenz in der Wahrnehmung dieses Phänomens wird besonders angesichts der Tatsache deutlich, dass der Regisseur Mohn Kumar Valasala in seiner Synopsis diesen Zustand nicht als sozial schockierend thematisiert, sondern in einer philosophischen Perspektive als »gewöhnliches« Leben deutet, gar als eines, dass durch seine Randposition ein bewussteres ist, eines, dass sich mit der Permanenz der Elemente Erde, Feuer, Wasser, Luft und Äther unmittelbar konfrontiert. Der Titel Panchabhiuta (Die fünf Elemente) indiziert nichts anderes.
Aus der Republik Korea gelangte der Film Mah Chui (Anästhesie) der Filmemacherin Kim Sauk-young nach Berlin. Auch sie absolvierte philosophische Reflexionen schon während ihrer Studienzeit. Sie offeriert eine luzide Kritik sozialer Hierarchie und Unterordnung. Eine Krankenschwester beobachtet einen behandelten Arzt und Vorgesetzten, der sich regelmässig an seinen betäubten Patientinnen vergeht. Aufgebracht bei ihren Kollegen Hilfe suchend trifft sie lediglich auf Duckmäusertum. Selbst das Argument, dass für das Opfer die Wahrheit schädigend sei, wird vorgebracht. Die junge Frau begreift, dass es nur einen Weg gibt, den Zirkel des Schweigens zu durchbrechen. Sie muss selbst muss sich als Opfer präsentieren, und sich zugleich dabei filmen…
In der brasilianischen Transvestitenszene angesiedelt porträtiert Claudia Llosa in Loxoro eine Mutter, die nach ihrer im gleichen Milieu arbeitenden verschwundenen Tochter sucht. Die Frage nach noch existierenden Resten von Integrität und Moral unter den diffamierten Randexistenzen, Zuhältern und Prostituierten wird eindringlich durchgespielt.
Ebenfalls im moralischen Borderline operiert der chinesische Beitrag Sho Luo Zhi Di (Das verlorene Land), der kriminell organisierte Kleingruppen bei der Vertreibung letzter noch störenden Einwohner auf den zu Immobilienspekulation gewordenen Terrains am Werke zeigt. Vor Brandstiftung und Vergiftung wird nicht zurückgeschreckt. Die Geschichte bekommt einen leichten Drive durch das Wiedersehen eines der Kriminellen mit einer ehemaligen Freundin, die als Zirkusmitglied sich auf der falschen Seite im Kampf ums Terrain findet. Ein Happy End bietet Zhou Yan, Teilnehmerin des Berlinale Campus 2007, glücklicherweise nicht.
Im Forum-Programm hervorzuheben ist Iwai Shunjis Dokumentarfilm Friends after 3.11 der anders als die üblichen After-Fukushima Werke sich nicht darauf beschränkt, das Desaster spektakulär abzubilden, ästhetische Effekte der Brachlandes zu destillieren oder die Wiederkehr einer scheinbaren Normalität zu dokumentieren, sondern eine wirklichen Bestandsaufnahme der Ursachen, Wirkungen und möglichen Veränderungen der japanischen Gesellschaft bietet. Sein sozial und psychologisch detaillierte Beobachtungen, gestützt durch eine Vielzahl von Interviews, vermögen wirklich Einblick zu geben in eine vom Westen gesehen immer noch fremdartige Gesellschaft, ein wirkliches Werk der Aufklärung.
Nicht nur für Gegenwartskunstliebhaber und Performancefreaks war das vielleicht beeindruckendste Werk der Berlinale 2012 Matthaw Akers und Jeff Dupres Dokumentarfilm Marina Abramovic: The Artist Is Present, in der Panoramasektion. Der US-amerikanische Beitrag verblüfft, weil er mehrfach den Standards des Künstlerporträts entgegen läuft. Zunächst einmal zeigt er die Künstlerin in ihren Höhen und Tiefen, nicht frei von Selbstzweifeln und konzeptuellen Unsicherheiten, gezeichnet von Ängsten, als Frau, die sich luzide auch das in Erinnerung zu rufen vermag, was sie auf der Erfolgsleiter an »Reinheit« verlor, besonders ab dem Moment, da sie sich von ihrem Lebens- und Performancepartner Ulay trennte, den Genuss der Konsumierens für sich entdeckte und den Stil ihrer Performances zu verändern begann, indem sie ihn eher theatralisch ausgerichtete, eher geschaffen für Museumsinnenräume, fern jener ausgesetzten Körpererfahrungen, die ihre Anfänge kennzeichnete. Die Erfolgsgeschichte Abramovic wird hier auch lesbar als das Schicksal einer ganzen Generation der Aufsässigen und Rebellen, die schliesslich sich ins System integrierten.
Zum anderen aber vermag dieses Künstlerporträt die reale angeheizte Spannung der grossen, über drei Monate angelegten Performance der Künstlerin in Jahr 2009 in MoMA einzufangen, wo sie noch einmal an die körperlichen Grenzen ging, und sich täglich Dutzenden Fremden im intensiven Augenkontakt stellte. Für all diejenigen, die nicht unmittelbar teilnehmen konnten wird hier eine Möglichkeit geschaffen, nachzuempfinden und mitzuerleben, wie ein einfacher Augenkontakt Menschen aus der gewohnten Bahn zu reißen und mit eigenen intensivsten Erlebnismomenten zu konfrontieren vermag. Die New Yorker Ausstellung strukturiert den Film, der in leichtem Rhythmus die Stationen Abramovics Revue passieren lässt. Noch ein drittes Element macht den Film zur reinen Aufzeichnung einer neuen Performance, an der er gleichzeitig partizipiert: die Wiederbegegnung zwischen Abramovic und Ulay, ein unglaublicher Augenblick, da zwei so unterschiedliche Künstler und Repräsentanten von Performance-Stilen sich noch einmal begegnen.
Der dokumentarische Ansatz des Films gibt Statements über die Künstlerin Raum, die normalerweise unter der Aufsicht einer Anwaltsschar säuberlich heraus geschnitten werden. Gerade dies macht das Werk so sehenswert und überzeugend. Nicht eine vollendet unantastbare Kunst-Heroine, sondern eine Frau auf der Suche nach sich selbst und dem Verlorenen charakterisiert hier den Grundton. So entstand ein Film, der gute Chancen hat, als eines der eindringlichsten Werke zur Deutung der Performancekunst in Erinnerung zu bleiben.