»Do you believe in rapture?« |
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Der heimliche Goldene Löwe: Olivier Assayas' Après mai | ||
(Foto: MK2) |
Dekadenz ist nirgendwo so schön wie in Venedig. Auch wenn es abgedroschen klingt und wahrscheinlich ist, aber: Die Lagunenstadt, Symbol eines alten Imperiums, Metropole von Kunst und Handel, von Freiheit und Macht, die seit Jahrhunderten vor sich hin stinkt und modert, die allmählich versinkt, und sich doch über Wasser hält – gäbe es ein treffenderes Symbol fürs Kino?
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Ein Rhinozeros war das diesjährige Symbol der Mostra, und natürlich verführt das zur symbolischen Deutung. Ein Urzeitwesen, beharrlich, ein Dickhäuter, gefährlicher, als man glaubt... auch das ein gutes Symbol. Vieles war anders dieses Jahr, vieles war aber auch wie immer, mehr als einmal kam einem dieses Zitat aus Lampedusas »Il gattopardo« in den Sinn: »Es muss sich alles verändern, damit alles so bleibt, wie es ist«. Er passt auf kein zweites Festival derart gut, wie auf dieses. Es war wieder einmal alles anders hier am Lido, aber am Ende war alles dann doch wieder wie immer.
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Deja-vues von Anfang bis Ende: Ein neuer Direktor, Alberto Barbera, der ein alter Bekannter ist. 1999 – 2001 hatte er das Festival schon einmal geleitet. 2001, sein letztes, war mein erstes Venedig-Jahr überhaupt. Ein paar Tage nach dessen Ende war der 11.September. Eröffnet wurde mit dem Film The Reluctant Fundamentalist von Mira Nair. Eine schon mehr als selbstironische Geste, denn vor 12 Jahren war es eine der letzten Amtshandlungen Barberas gewesen,
der Inderin den Goldenen Löwen für Monsoon Wedding zu überreichen.
Am Ende dann auch ein Preis für Ulrich Seidl. Wie zuletzt 2001. Und wieder nicht der goldene.
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Dieses Festival, eher ein gutes, aber kein überragendes, und in seiner Qualität relativ gleichförmig, ohne große Höhen und Tiefen, wird mir vor allem durch fünf Filme in Erinnerung bleiben. Über alle kann man streiten, wie immer über gutes Kino. So soll es sein.
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»No è una party, è un casino, una revoluzzione...« – diese Worte werden bleiben, von Venedig 2012. Sie stammen von unserer Vermieterin; mit ihnen beendete sie ein nettes Spaghetti-Zusammentreffen von 25 Freunden aus 15 Ländern. Seit vier Jahren wohnen wir, Guiseppe Rapido, Präsident der Jury des unabhängigen Kritikerpreises Premio Maleti, Kollege diverser beruflicher Aktivitäten und Freund, und ich in der Via S.Caboto in einem objektiv teuren, aber für Venedig preiswerten Appartment mit großem Balkon. Mit dabei ist seit zwei Jahren auch Olimpia, Spanierin aus Berlin, die für das Coproduction Office arbeitet, die unter anderem Seidl produzieren. Unsere Vermieterin verdient mit uns ziemlich viel Geld, aber offenbar sind die Verhältnisse auf dem Lido noch nicht so schlecht, dass sie das sich nicht leisten könnte, uns vorzuschreiben, was wir in der Wohnung machen dürfen, und was nicht. Das ist nur eine Anekdote am Rande, die vielleicht illustriert, dass es mit der »dolce vita« und und dem »far niente« und südlicher Lässigkeit nicht überall gleich weit her ist. Nach über einer Woche mit più o meno vier Filmen pro Tag, hat man auch mal Lust, zu feiern.
Nächstes Jahr wird die Revolution also woanders stattfinden, wir liebäugeln schon mit der Obdachlosigkeit – Strandparty – oder mit politischem Asyl in Dänemark, denn Tine, Direktorin des Kopenhagener Filmfestivals hat bereits angeboten, das Ganze könnte ja gern im Garten ihres Appartements stattfinden, eine rabiate Landlady gäbe es dort jedenfalls nicht.
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Bei einem Abendessen erzählten Besucher des Sarajewo-Festivals von merkwürdigen Träumen im Festival-Hotel, das zu den Olympischen Spielen gebaut wurde und das gleiche ist, in dem einst die westlichen Kriegsberichterstatter während der Belagerung im Bürgerkrieg wohnten. »Als ob die Geister der früheren Bewohner« dort noch ihr Unwesen trieben. Muss man empfänglich für sie sein, um die Geister der Vergangenheit zu treffen? Oder kommen sie auch, wenn man sie gar nicht erwartet?
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»For sale: Baby schoes, never worn.« – Man kann sie überlesen, die Katastrophe, die in diesen sechs Worten steckt. Man kann daraus eine ästhetische Übung machen, wie Ernest Hemingway, der diese Schaufensterreklame einmal zum mittlerweile berühmten Exempel seiner eingekochten, aufs Wesentliche reduzierten Schreibweise stilisisierte. Oder ein Spiel, wie die fünf Figuren in dem argentinischen Debütfilm Leones, der in der »Orrizonti«-Reihe von Venedig läuft und kurz gesagt ganz einfach einer der besten Filme des Festivals ist.
Hemingways Beispiel haut objektiv gesehen nicht ganz hin, denn bei den Schuhen im Schaufenster muss es sich nicht wirklich um die letzten materiellen Spuren eines Kindstodes handeln. Vielleicht war das Geschenk der Tante einfach nur zu klein. So gesehen wird das Ganze damit auch zur unfreiwilligen Illustration jenes Pathos, und der Sentimentalität, eines phantastischen Elements, das sich in der kühlen Nüchternheitspose Hemingways verbirgt. Das alles ist aber kein Argument gegen die großartige Schreibe Hemingways, von der wir alle noch viel lernen können. Sondern eher dafür, das man Kunst in mehr als eine Richtung lesen und verstehen kann, und eben genau, besser auch zweimal hinschauen sollte.
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Zweimal hinschauen sollte und will man in Leones unbedingt. Ein Film, der bei einem bleibt, der mich seitdem ich ihn sah, tagelang begleitete. Die fünf Jugendlichen spielen das Hemingway-Spiel, wie sie es nennen, und bilden ziemlich dumme, manchmal auch geniale Sätze im Hemingway-Stil: Kurz, nüchtern, und doppeldeutig: »The man who killed zombies will die.« – »Hat aber sieben Worte.«
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Wir sehen zunächst einmal ein Teenager-Girl im Grünen. Sie sitzt, schreibt etwas in ein rosafarbenes Heft. Ihr Gesicht ist kaum zu erkennen, erst recht nicht, als sie aufsteht und losgeht. Sie geht durch einen sommerlichen, sattgrünen Wald, aufgenommen wie die Rosetta der Dardennes, von hinten. Die Kamera folgt ihr, wie ein treuer Gefährte. Sie dreht sich ein paarmal um, läuft der Kamera davon. Plötzlich sind auch die anderen da, vier Freunde. Man kennt sich vielleicht von der Schule, oder über die Eltern. Es ist klar, dass die fünf eher aus der Oberklasse stammen, die Eltern haben Häuser, man fährt BMW, die Kids tragen Markenklamotten. Sie wandern durch den Wald, der Tag vergeht. Sie verlaufen sich, kommen wieder dort an, wo sie schon waren, gehen weiter, finden wieder den Weg. Irgendwann nehmen sie ein Bad in einem See. Tauchen recht tief. Irgendwann erreichen sie ein Haus, ihr Ziel, aber sie finden den Schlüssel nicht.
Dabei wechselt die Perspektive oft. Mal begleitet man Isa, das Mädchen vom Anfang, das damit früh als unsere Identifikationsfigur und final girl etabliert ist, dann einen der anderen, dann wieder die ganze Gruppe, dann geht der Blick von ihnen weg, in den Wald, oder umkreist sie subjektiv von ferner, und suggeriert damit einen außenstehenden Beobachter. Diese Kamera mit ihren elliptischen Kamerafahrten und geheimnisvollen Bildern stammt übrigens von Matias Mesa, der bei Gerry und Elephant für Gus Van Sant gearbeitet hat. Ihr Blick konzentriert sich stark auf Objekte, entdeckt immer wieder Einzelnes. Die Kids finden einen Revolver, eine Pistole fehlt. Wir erfahren von einer Tragödie, einem Verkehrsunfall, in den Isa kürzlich verwickelt war, und den sie offenbar noch nicht verarbeitet hat. Eine Kasettenaufnahme hat den Moment des Aufpralls mit einem Traktor festgehalten... Erinnerung, Trauma, Traum...
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Es gibt eine Szene, nach gut 20 Minuten, da baden alle in einem See. Die Kamera zeigt sie im und unter Wasser schwebend, wie ungeborene Kinder im Mutterleib, und dann sieht man vor der Linse tausende von kleinen Luftblasen durchs Wasser aufsteigen...
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Es ist früh deutlich, auch an der Art, wie sich die Kids bewegen, wie sie mal wie von Geisterhand plötzlich auftauchen, dann verschwinden, dass es hier neben der realistischen eine phantastische Ebene gibt: »Give up truth, live on to fantasy«, sagt jemand.
Es überwiegt jedenfalls Irritation, und man fragt sich als Zuschauer, in was für einer Falle man da eigentlich steckt? Immer wieder sind es jedenfalls auch Stilmittel des Horrorkinos, die da auftauchen, und irgendwann glaube ich kurz Anklänge an die Musik von Der weiße Hai zu hören. Oder bilde ich mir das jetzt ein? Kurz darauf, so in der Mitte des Films, habe ich mir notiert: »Man erwartet, dass alle tot sind am Ende, bis aufs final girl, zugleich erwartet man etwas anderes.« Diese fast unbewusste, von mir dann gleich vergessene Notiz, entpuppt sich im Rückblick noch in ihrer inherenten Paradoxie als klüger, als alles, an das ich mich unmittelbar nach Ende erinnere.
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»Do you believe in rapture, do you believe in second dreams«, singen die Jugendlichen irgendwann den Song von Sonic Youth. Zwischen Taumel und Verzückung, driften die Figuren weiter zu immer neuen Stationen ihrer phantastischen Reise ins Innere eines traumatisierten Bewusstseins; Leones ist Gedankenpuzzlekino, das in seiner Mischung aus Neugier und Reflexion gleichermaßen an Van-Sants-Jugendstudien und einen Hitchcock-Thriller erinnert, wie, vor allem in seinen letzten atemberaubenden Szenen, und einer achtminütigen Einstellung, die uns vom Wald über wüstenartige Dünen ans Meer führt, an einen Film von Antonioni.
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Leones ist herausragend, ein faszinierender Film. Es ist das Regiedebüt der Argentinierin Jazmin Lopez – noch eine gute weibliche Filmemacherin in diesem Festival –, die kein völlig unbeschriebenes Blatt ist, und mit ihren Bildern schon in Istanbul und Mexiko auf Ausstellungen vertreten war. Im Presseheft steht der Satz, die fünf streunten im Wald herum, »wie ein Löwenrudel«. Meinetwegen.
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Den Titel, der auf Spanisch natürlich »Löwen« bedeutet, kann ich mir trotz des erwähnten Hinweises nicht wirklich erklären. Am ehesten noch durch den schönen lateinischen Satz »hic sunt leones«, der früher auf alten Landkarten dort stand, wo man nicht weiter wusste, und Leerstellen markieren wollte. Auch Menschen haben ihre Leerstellen und weißen Flächen, ihre inneren Löwen.
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Zwei Tage später lerne ich Jazmin auch persönlich kennen. Es ist immer besser, man kennt erst den Film, dann den Mensch, als umgekehrt. Sie raucht, trinkt, bleibt in der Bar lang sitzen und man kann mit ihr über Fußball reden. Wenn man mit Argentiniern über Fußball redet, redet man über das 0:4 gegen Deutschland, über das 3:1 gegen Deutschland im August, und bald auch – da können sich Argentinier und Deutsche schnell verständigen – über die Brasilianer, die ich auch
nicht mag, jedenfalls nicht im Fußball, und über die nächste WM. Wenn Argentinien doch nur die Brasilianer schlagen könnte, im eigenen Land, »that would be marvelous!« Wir sind uns einig, dass das Spannende am Fußball seine Schicksalträchtigkeit und sein mythisches Element ist, das man keineswegs mit Irrationalität verwechseln darf: Es ist nur so, dass wir die Gesetze nicht kennen, aber es gibt sie. Mit anderen Worten: Wir verstehen uns gut, und Jazmin ist mir nur ein weiterer
Beweis, dass ich Argentinier immer besonders gern mag. Das gilt natürlich auch für ihre Produzenten,
Das Thema von Der weiße Hai, sagt sie, sei tatsächlich kurz zu hören. Das wäre also jetzt auch geklärt.
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Das wäre mein persönlicher Goldener Löwe gewesen: Après mai des Franzosen Olivier Assayas war der beste, unterhaltsamste und interessanteste Film des Wettbewerbs. Wie zuletzt beim Terror-Drama Carlos arbeitet er auch diesmal wieder mit einem ganzen Dutzend bezaubernder Jungschauspieler und reist zurück in seine eigene Vergangenheit als Kind der 60er und 70er Jahre. Denn in Après mai erzählt Assayas die Geschichte seiner eigenen Jugend und damit die einer ganzen Generation in den Jahren nach dem revolutionären Mai 1968, in dem die Studentenrevolte die Fabriken erreichte und auf die Straße ging, und auf bürgerliche Kreise überschwappte: Charles de Gaulle wurde aus dem Elysee-Palast vertrieben. Danach verpufften die Hoffnungen auf eine so rasche wie grundsätzliche Veränderung der Gesellschaft rasch. Die Utopien und das Unbehagen in der westlichen Kultur aber blieben, und hiervon, von der Generation, die knapp zu spät kam für die Revolte, erzählt Assayas.
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Gewidmet ist der Film – »a memoire de Laurent Perrin« – dem französischen Experimentalfilmer, der, gleichalt wie Assayas und ein Freund seit 40 Jahren, dort vielleicht sogar direkt portraitiert wird, jedenfalls aber mittelbar.
Gleich zu Beginn wird im Philosophie-Unterricht – so etwas gib es in Frankreich –, ein A im Kreis in den Tisch geritzt. Dann zitiert der Lehrer Blaise Pascal: »Entre nous & le ciel, l’enfer, ou le neant il n'y a donc que la vie qui est la chose du monde la plus fragile; & le ciel n'estant pas certainement pour ceux qui doutent si leur ame est immortelle, ils n'ont à attendre que l’enfer ou le neant.«
Das Leben sei zerbrechlich, und doch das
einzige, was wir haben, jenseits des Himmels. Und dieses Himmelreich bleibe denen verschlossen, die nicht an die Unsterblichkeit der Seele glaubten. Anarchismus und Pascal, das ist schon eine gute Kombination für den Anfang.
Dann eine Demonstration: »Wir überwachen die Polizei«, glauben die Schüler, brüllen »CRS – SS« gegen die Polizei, die diese Rufe dann als Aufforderung nimmt, und tatsächlich die Schüler zusammenprügelt, als gäbe es kein Morgen. Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen und will es kaum glauben, doch es ist alles belegt. Man muss eben, um einen Aufstand zu verstehen, auch verstehen, gegen wen er gerichtet ist.
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Après mai setzt 1971 ein und portraitiert eine Gruppe junger Schüler aus gutem Haus. Sie wollen für die Weltrevolution kämpfen, ihre Freiheit in jeder Hinsicht auskosten und sie wollen Künstler werden. Im Zentrum steht Gilles eine Art alter Ego des Regisseurs, der die Ereignisse als 16-jähriger miterlebte. Wie der Vater von Assayas ist Gilles Vater Drehbuchautor, und auch Gilles geht am Ende zum Film. Davor wird er und wir mit ihm Augenzeuge der vielen Facetten der Revolte: Drogentrips und Indienreisen, sexuelle Revolution und Feminismus, und Musik (z.B. »Green Onions«) und Kino als Medien der Befreiung. Die Frauen, denen er begegnet, sind gut gecastet: Elfenhafte Wesen mit brauen, etwas zu langen, etwas zu vollen Haaren und großen Rehaugen – ein Schönheitsideal der Epoche. Gilles liest Simon Leys: »Mao’s neue Kleider«, was eine schöne Lüge ist, denn erst 1980 wurde dieses Buch bekannt, oder auch eine weniger schöne, denn so wie man den Pariser Mai heute eher retten muss, als ihn zu diskreditieren, wird man auch irgendwann beginnen, wieder anders als zur Zeit auf die Kulturrevolution zu blicken. Solche Sentimentalitäten, die die Hauptfigur zu gut aussehen lassen, hätte sich Assayas besser geschenkt.
»Eine Revolution ist keine Dinnerparty« sagte Mao. Ein untergründiges Thema stellt die Gewalt, die vielleicht mit Schuld trägt am Scheitern größerer Träume. Dann zeigt er, wie ein harmloses Sprayen von Graffitis in eine Gewaltspirale mündet: Molotowcocktails werden geworfen, mit Eisenstangen prügeln Sicherheitsleute und am Ende liegt ein Mensch im Koma.
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Gut dass sich der Film nicht deutlich auf irgendeine Seite schlägt, keine Schuldzuweisungen vornimmt. Man kann hier auch gegen die UdSSR sein, aber für Lenin. Es ist jedenfalls – siehe oben – subjektive Ansichtssache, was man so für eine Revolution hält, und ob man etwas von Revolution hält, natürlich auch.
Manchmal wirkt das wie ein Film von Phillippe Garrel. Die erste Stunde lang ist es der beste Film des Festivals, dann denkt Assayas, er muss jetzt doch noch etwas plotpointmäßig erzählen, dann leiert der Film etwas aus. Aber nur etwas. Aber man kann sagen: Der Film wirkt zunächst wie ein Godard, dann ein Truffaut.
Diese Kinder von Marx und Coca-Cola glauben nicht an Gott, auch nicht wie Pascal, aber sie glauben an Bildung. In diesem Pathos des Lesens, der Bildung liegt einer der größten Unterschiede zu heute: Welcher Schüler kauft sich schon am Morgen fünf Zeitungen?
Eine der Differenzen, die hier auch verhandelt wird, ist die zwischen Subjektivität und Individualität. Diese Jugendlichen sind subjektiv, aber nicht individualistisch. Das heißt sich kapseln sich nicht ab von
Gesellschaft, sondern finden in sich das Allgemeine.
Après mai ist ein ungemein berührender, packender und zugleich luftig und charmant inszenierter Film, der davon erzählt, wie Idealismus in Melancholie münden kann, wie die Träume der Jugend verblassen. Gilles macht die Erfahrung, allein zu sein, am Ende gehen alle weg.
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Zugleich – und hier liegt die besondere Stärke und gegenwärtige Bedeutung des Films – ruft Assayas uns eine Epoche und eine Lebensform ins Gedächtnis, in der die Menschen kein Internet und kein Smartphone hatten, dafür viel Zeit zum Lesen; eine Epoche in der sie an Bildung glaubten, an das Kino und an die Freiheit. Man experimentierte sich selbst: mit Sex, Drogen, man rauchte, keiner trägt hier Helme, weder beim Fahrrad- noch beim Mopedfahren – Sicherheitsdenken galt als reaktionär, spießig oder einfach dumm.
Die Eltern spielen für diese Jugend keine Rolle. Großartig! Man ist nicht fixiert auf das Realistische, auf die Karriere, darauf, es irgendwem rechtzumachen.
Vielleicht ist ja etwas dran an der Überlegung, dass wir etwas von dieser Generation lernen können. Nicht nur, aber auch, dass Sicherheitsdenken und Dummheit zusammengehören. Denn – siehe Pascal – nichts ist sicher, außer der Tod. Und so erzählt Assayas nicht nur indirekt, was uns heute fehlt, weil wir es vergessen haben, er zeigt uns auch, dass nichts so sein muss, wie es heute ist, sondern dass alles anders sein kann und irgendwann wird.
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Eine bemerkenswerte, wichtige Debatte, die wir auch aus der Gegenwart kennen, führt der Film zur Frage des »richtigen« Kinos? Muss revolutionäres Kino nicht auch eine revolutionäre Syntax haben? »Such a style will be a challenge for the proletariat.« heißt ein Gegenargument. Das bessere lautet: »This revolutionary syntax is in fact the individualist style of the petit bourgoisie.«
Auf der Pressekonferenz erklärt Assayas, Kino sei für ihn »kein Mittel der Information, noch nicht mal der Kommunikation, es ist eine Form der Kunst und seine Wirkung ist daher dialektisch... Ich will den Blick des Zuschauers nicht lenken.«
Kunst wurde im Übrigen nicht geschätzt: »art, c'est la solitude ... Du bist außerhalb des Kampfes,«
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Noch etwas zum Thema Melancholie: Im Gespräch berichtet Patricia, auch Mitarbeiterin beim Kopenhagener Festival, von ihrem ganz besonders schönen Hotelzimmer. Schnell stellt sich heraus, dass sie für drei Tage in genau dem gleichen Raum wohnt, in dem jahrelang mein Freund und Redakteur Michael Althen wohnte, der Venedig-Stammgast war, und im letzten Jahr allzu früh gestorben ist. Man kann hier in Venedig sowieso nicht einen Tag verbringen, ohne an Michael zu denken. Und als ich das mit dem Hotelzimmer höre, setzt es erstmal einen Stich ins Herz. Einerseits. Andererseits war ja klar, dass da nun jemand anderes wohnen würde und ich freue mich, dass es wenigstens nicht irgendjemand, sondern ein angenehmer, besonderer Mensch ist. Michael hätte Patricia bestimmt auch gemocht.
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Mein dritter Lieblingsfilm stammt von Takeshi Kitano, und ist gewissermaßen das Gegenstück zu Après mai. Kühl und ohne Melancholie erscheint die Generation der 60 bis 70-jährigen im neuen Film des Japaners Outrage Beyond: Eine Geschichte aus dem Mafiamilieu, über Autos, Professionalismus und Gesten: ein korrupter Polizist kommt, dealt, deckt – »lets plant the evidence« –, und hat lange die besten Sätze: »Yakuza is Yakuza«, »best detectives are respected by both sides«. er stirbt als Allerletzter in einem Film, deren Figuren Manager des Verbrechens sind, Anzüge und Krawatten tragen, von Fahrern im Mercedes kutschiert werden, aber im Ernstfall auch eine Pistole ziehen und abdrücken. »Fuck hedge funds!!« Geschäftsleute, die sich darüber aufregen, dass auf Meetings der Exekutives kein Essen serviert wird. Die einzige Frage, die es hier gibt, lautet: Wer trickst wen aus? Ansonsten blickt man auf tolle Gesichter. Und ansonsten sind in diesem glänzenden zen-buddhistischen Mafiafilm alle mit sich im Reinen, blicken ohne Melancholie auf die Vergangenheit, ohne Furcht auf die Gegenwart und wissen: In der Zukunft wartet irgendwann der Tod.
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Leichter gesagt natürlich als erlebt sind solche Sätze.
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Eine weitere Folge der Endlosserie »Americana« ist der einzige a-religiöse US-Beitrag des Wettbewerbs: At Any Price. Ein weitaus milderer, in der Machart leichter konsumierbarer, aber sehr gelungener Film. Hollywoodstar Dennis Quaid spielt unter dem Iraner Ramin Bahrani einen wohlhabenden Mais-Farmer aus Iowa. Er zehrt von etwas leeren Sprüchen – »If a man stops willing, he stops living«, »people like winners, people like manners, people like good attitude«; »time works for no man«; »expand or die« – und einem ausgeleierten american dream, und hat den Kontakt zu seinen Söhnen eigentlich schon verloren.
Der Film taucht tief ein ins ganz normale Leben des weißen US-Mittelstandes. Äußerlich lebt man kaum anders, als vor 60 Jahren – hatte Arbeit, keine schwulen, Schwarzen und Linke und man scheint von der Moderne unberührt. Aber unter der Oberfläche sind viele Brüche erkennbar. Der Regisseur erzählt mit viel Sinn für Komik eine grundsätzlich ernste Geschichte von amerikanischer Männlichkeit und der Zerbrechlichkeit der US-Männer: Sie prügeln sich, klopfen Sprüche, fahren Autorennen, und gehen fremd, aber mit Niederlagen können sie nicht umgehen und ertrinken in Selbstmitleid. Schwache Männer, grüner Mais. Hinter ihnen sind es wieder die Frauen, die den Laden zusammenhalten und zur Not schmeißen.
Großartige Szenen sind die Autorennen: Sinnlich, materialistisch. Davor die von allen gesungene Nationalhymne. Die Wiederbegegnung von Heather Graham – remember Boogie Nights, da war Anderson noch besser, sie nicht – und dann jene wunderbaren Momente, in denen Dennis Quaid immer wieder allein auf seinem vom Autopilot gesteuerten Trecker sitzt, und in die Ferne
schaut, Leere im Blick.
At Any Price hat nichts Großartiges, aber er ist großartig in seiner Solidität und Routinertheit.
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Und dann Peter Brooks. Tell Me Lies ist der sechste Spielfilm des vor allem als Theaterregisseur bekannten Künstlers, gedreht 1967. Ein Film, für den man töten könnte. Toll! Toll! Toll! Eine Offenbarung, absolut fantastisch, absolut das Beste, was ich in Venedig in jedem Fall in diesem Jahr gesehen habe.
»A film about London« nennt er sich im Untertitel, entstanden nach dem Stück: »Us«. Vorgestellt wird er in einem typischen 60’s-Exkurs der Selbstreflexion – »how can we do a film about the effect of Vietnam to the english people?« – als »semi-documentary.« Es geht also um Vietnam, darum, wie man auf Vietnam reagieren könnte, ohne das Publikum oder sich selbst zu langweilen, wenn alles gesagt ist: »All statements made, all pamphlets written. ... man muss
Vietnam präsent machen ›Ein Agit-Prop-Film, allerdings ein überaus sensibler, facettenreicher, zu dem mir als Pendant am ehesten Alexander Kluges Deutschland im Herbst einfällt. Andererseits sind beide auch völlig verschieden. Es gibt eine Art unschuldigen Führer des Zuschauers durch die Geschichte.
Dazu
dokumentarische und fake-dokumentrarische Passagen, Musical und Theaterszenen, intelligent und abwechslungsreich...‹«
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Erster Eindruck: Das ist mal etwas völlig anderes, als das, was wir kennen: Greller, dichter, schöner, als fast alle Filme hier.
Zweiter Eindruck: Ein Film, der sich dialektisch zu Assayas' verhält: Einerseits ergänzt er ihn, setzt ihn fort, kommentiert ihn, anderseits widerlegt er ihn auch. Denn er zeigt, dass »1968« radikaler war, härter, wilder, viel viel vielfältiger. Dieser Film ist politisch, wo Assayas sentimental wird. Ein Dokument der Wut.
Man sieht Glenda Jackson im
orangenen Mao-Anzug auf einer Demonstration, Che zitieren: »Schafft zwei, drei, viele Vietnams«.
Bemerkenswert auch die unglaublich freie Darstellung auch der Argumente für den Vietnam-Krieg der Amerikaner. Brook zeigt, und das gilt natürlich universal, dass man nur durch eine gewisse Aggression etwas ändern kann, dass nett reden nichts bringt. Die beste Szenbe ist die, in der ein Anhänger der Black Panther einer Vietnamesin den Vietnam-Krieg erklärt: »There is a difference between peace and liberation. ... You can have peace and injustice. You can have peace and slavery.
So peace is not the answer. Liberation is the answer. So don’t talk about peace.«
Und nebenbei widerlegt der Film in kurzen knappen Dialogen den Anti-Leninismus und Anti-Maoismus unserer zeitgenossen, auch unter Linken: »I do not think, an act can be seperated from its reason. ... when people are supressed, any act of violence is self-defense.«
Der letzte Gedanke, als der Abspann läuft: Schafft, zwei, drei, viele Peter Brooks!
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So kommt man aus Venedig zurück, und wünscht sich andere Zeiten. Und ein anderes Kino.