In Venedig gewinnen immer die falschen Filme |
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Der umstrittenste Film in Venedig: Terrence Malicks To the Wonder | ||
(Foto: Studiocanal GmbH) |
Alles anders, alles neu
Jetzt ist früher vorbei – doch auch 2012 sind die Filmfestspiele von Venedig wieder wie immer: Frauenversteher am Lidostrand, Filme ohne Männer und andere Frauengeschichten; Venedig-Notizen, Teil 1.
Mittwochabend. Ein Kreis schloss sich schon bei der Eröffnungsfeier: Vor zwölf Jahren verabschiedete sich Alberto Barbera als Direktor der Filmfestspiele von Venedig – mit dem ersten Goldenen Löwen für ein Bollywood-Musical, für das mit Dogma-Referenzen gedrehte Hochzeitsdrama Monsoon Wedding von der Inderin Mira Nair. Unter eher unguten Umständen hatte man dem im Prinzip sehr
erfolgreichen Barbera aus politischen Gründen – er passte nicht zur Bunga-Bunga-Kultur der postfaschistischen Berlusconi-Regierung – den Stuhl vor die Tür gesetzt. Elf Festivals und zwei Festival-Direktoren später ist Barbera nun wieder da; Ehren zurück und wiedereingesetzt auf dem Direktorenposten und eröffnet – mit einem Film von Mira Nair!
Das ist schon eine mehr als selbstironische Geste, die uns sagt : Alles zurück, alles auf Anfang, ich bin wieder
da, und mache dort weiter, wo ich aufgehört habe.
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The Reluctant Fundamentalist, auf Deutsch etwa »Der widerwillige Fundamentalist« erzählt von einem hochbegabten jungen Ökonomen aus Pakistan, der zunächst seinen ganz persönlichen amerikanischen Traum erlebt: Als Börsenmakler macht er an der Wall Street steile Karriere, hat eine amerikanische Freundin, und ist auch sonst ganz integriert und unbedarft. All dies ereignet sich Mitte der 1990er Jahre, und jener Dschingis Khan – so heißt er wirklich – ist ein Wirtschaftseroberer und Yuppie par excellence.
Nach den Attentaten des 11. September 2001 allerdings ändern sich die Dinge rasant und bald wird es für ihn in seiner neuen Heimat ungemütlich: Nun ist er mit dem Fremdenhass der Amerikaner, mit Rassismus und Ausgrenzung konfrontiert, und so setzt ein Läuterungsprozess ein, der für den jungen Mann bei allen Leiden eher ein glücklicher Erkenntnisprozess ist, der ihn reifen lässt: So kehrt Khan alsbald dem Heuschrecken-Kapitalismus den Rücken, zieht nach Pakistan zurück und erlebt dort nun als Wirtschaftsprofessor an der Uni seinen pakistanischen Traum. Auch der zeigt aber Schattenseiten, spätestens, als ihn die Taliban anwerben wollen… Auch die CIA mauschelt bei allem mit, eine hübsche Amerikanerin, mit der er eine komplizierte Beziehung einging, ist auch dabei, und so mischt dieser Film Elemente des Polit-Thrillers mit munterer Kolportage und Bollywood-Melodien.
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Kate Hudson übrigens, die begabte Tochter von Goldie Hawn (erst vor ein paar Tagen sahen wir im deutschen Fernsehen in Spielbergs Sugarland Express wieder), die uns vor nun auch schon zwölf Jahren mit Cameron Crowns Almost Famous – Fast Berühmt bezauberte, hier als das Love-Interest des Pakistani zu sehen, hat in den letzten zwölf Jahren ganz schön zugenommen. Nun gut, sie hat ein Kind bekommen, und vielleicht trinkt sie auch etwas zu viel, das Leben geht ja an uns allen nicht ohne Spuren vorbei. Aber warum auch immer – als einer aus der Kohorte der Interview-Nutten würden wir sie – Hi hi – nach ihrer Diät fragen; und als Kolumnist einer Frauenzeitschrift ihr unbedingt raten: Es muss sich alles verändern, damit alles wieder so wird, wie es ist.
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Mira Nair, die in New York lebend selbst vom Kulturclash ein Lied singen kann erzählt von zwei verschiedenen, aus ihrer Sicht aber einander überaus ähnlichen Fundamentalismen: Dem des Kapitals und dem der Religion. Beide münden in Terror, stürzen die Welt ins Unglück. Nairs Hauptfigur versucht einen dritten Weg, und hat damit immerhin halb Erfolg.
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The Reluctant Fundamentalist ist insofern ein anständiger Eröffnungsfilm, der in Venedig respektablen, aber keineswegs enthusiastischen Applaus erhielt. Denn schon in ihrer Inszenierung geht Nair elegisch, sentimental und stellenweise kitschig vor, und straft damit ihre eigene Figur Lügen: Der Film selbst geht keinen dritten Weg, wagt nichts, sondern schlägt sich ganz auf die Seite amerikanischer Dramaturgie.
Schwerer noch wiegen aus meiner Sicht die biederen Lebensmodelle und -entwürfe, die der Film unter der Hand präsentiert. Es sind Männerbilder wie aus einer Frauenzeitschrift, Reform-Träume wie aus einem Bioladen im Prenzlberg und jede Wohnung im Film ist eingerichtet, wie aus Ortiental-Wohnen. Mira Nair, machen wir uns nichts vor, ist selbst ein Yuppie, die mit dem Goldenen Löwen ihre Regie-Karriere gesichert hat, und im Kino nichts tut um dieses mit amerikanischem Geld gepolsterte Austragsstüberl zu gefährden. So dreht sie Filme für das, was mit Amerika das linke Hollywood nennt, also Leute, die in Deutschland CDU und Grün wählen würden, die noch ein wenig Scham und schlechtes Gewissen ob des eigenen Reichtums empfinden und ihr miserables Gewissen mit unbedarften Gutmenschenfilmen wie diesem beruhigen.
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Auch Mira Nair, eine angenehme, intelligente Frau, mit der man gern einmal zu Abend essen und sich sicher gut verstehen würde, und die noch viel sympathischer wäre, wenn sie nicht auch noch Filme machen müsste, sagt gern auf Pressekonferenzen wie der gestrigen, dass sich alles ändern muss in der Welt, aber insgeheim möchte sie, dass alles so bleibt, wie es ist. Und das spürt man in jeder Filmsekunde. Dies, die Wendung von kühler Bestandsaufnahme ins Moralische, in Tugendlehren des Verhaltens, ist denn ja auch die Pointe dieses großartigen konservativen Romans – jedenfalls dessen Lesart für unsere Zeiten. So hat ihn auch Visconti in seiner Verfilmung verstanden, wie später auch Thomas Manns Venedig-Novelle: Als wunderbares Statement des Ästhetizismus und der Decadence. Wenn schon Feier des Westens und der bürgerlichen Gesellschaft, dann müsste sie so aussehen, nicht anders und bestimmt nicht so billig und lackiert, wie nun bei Madame Nair. Aber was reden wir? Die Decadence ist sowieso nirgendwo so schön, wie in Venedig.
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Blau – Weiß – Pastell. Ein früher Tonfilm, eine Frau, vielleicht Jean Harlow, und eine andere, etwas ältere, die sie am Monitor betrachtet. Eine andere Frau, eine Japanerin steht auf einem Balkon, blickt über eine Stadt. Noch eine Frau, jung,braune Haare badet ihre Tochter, wartet auf den Babysitter. Eine jüngere auf der Straße. immer wieder geht des hin und her. Die vier werden zusammengeführt, parallelisiert. Man sieht Kleidungs-Assesoirs: Schuhe, Handtaschen, eine
Sonnenbrille, Schuhe immer wieder. Schön, auffällig. Das sollen sie auch, dazu unten. Frauen, diese Frauen beim anziehen. Beim Haare richten, schminken. Beine. Schönheit. Intensität. Verschiedene Stadien von Weiblichkeit: Arbeit, Mutter-sein, Alter, Jugend, Einsamkeit, Familie. Alles dies ist nur angedeutet, aber es ist da in dem Film. Dann brechen alle vier auf, etwa zeitgleich. Dann steigen sie in eine Auto. werden gefahren. Vom Fahrer, im Taxi. Die Fahrer, vermutlich Männer sehen
wir übrigens nie. Wir verstehen auch nicht alle Worte; Japanisch schon gar nicht. Der Film ohne Männer ist auch ein Film ohne Übersetzung. Lost in Translation.
Ihre Fahrt scheint auf einander zuzuführen. Alles ist möglich, auch ein Zusammenstoß. Schließlich landen sie am selben Ort, einem Konzert der Sängerin Zola Jesus. Ich kannte sie nicht. Aber Ihr Gesang ist wunderbar und berührend. Dann die Credits: Rosa-Schwarz.
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Film ganz ohne Männer, das sieht man nicht alle Tage. Noch nicht mal, wenn es sich, wie in diesem Fall um vier Kurzfilme handelte: Women’s Tales – »Frauengeschichten« heißt das Gemeinschaftswerk von vier bekannten Regisseurinnen des Weltkinos, der Argentinierin Lucretia Martel, der New Yorkerin Zoe Cassavettes und der Französin Massy Tadjedin. Mit ihnen eröffnete in Venedig die renommierte Nebensektion »Giornate Degli Autori«. Zwar handelt es
sich bei den vier Filmen im Grunde um eine Auftragsarbeit des Modelabels »Miu Miu« doch ist das Ergebnis derart eigenständige Kunst und so fern von aller Werbung, dass man es hier zeigt. Vier Filme über das Empfinden von Frauen, in denen Spiegel und Blicke eine wichtige Rolle spielen, die jeweils in eine ganz eigene Stimmung gehüllt sind, und alle Filme prägt hohe Intensität, die Essenz gelungenen Kino.
Besonders Tadjedins Beitrag It’s getting late, den
ich eben beschrieben habe, hat eine großartige Atmosphäre.
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Martels Film heißt Muta. Das bedeutet auf Spanisch einerseits »stumm«, andererseits »verwandelt« (wie Mutuation). Man sieht ein Schiff, einen alten Rad-Dampfer auf einem sehr breiten Fluß. Das Boot allein ist schon großartig. Frauenkörper kriechen aus seinem Inneren. Zwischendurch macht der Film ruckartige Bewegungen. Ihre Gesichter sehen wir nicht. Irgendwann tragen sie Masken. Spiegel spielen eine wichtige Rolle.
Auch das ist wieder völlig assoziativ
und offen und macht darum einen Teil der Menschen aggressiv, was an sich eine gute Sache ist. Der Verzicht auf Plot, das Musikalische, auch Visuell-Musikalische ist aus meiner Sicht die Essenz des Kinos. Auch darum war dies, vor allem It’s getting late für mich das bisher beste an den ersten richtigen Venedig-Tagen.
Violeta aus Buenos Aires, mit der ich den Film sah, vergleicht den Film mit David Lynch. »Der Gesang am Schluß... Das erinnert mich an die andere Seite von Lynch. Er mag nicht nur das Dunkle, er will uns auch Spaß machen.
Man kann alle diese Filme, über die gerade geschrieben habe, übrigens auf You-Tube sehen. Aber es war großartig, ihnen auf der Leinwand zu begegnen.«
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Frauenversteher. Auch sonst standen Frauen an den ersten Tagen von Venedig im Zentrum – dies ist bestimmt auch als bewusster Kontrapunkt zur Konkurrenz in Cannes gedacht. Bei den dortigen Filmfestspielen hatte es diesmal keine Frau in den Wettbewerb geschafft. Und die französischen Regisseurinnen hatten protestiert.
Nun glauben die italienischen Männer allemal von sich selber, dass sie viel vom anderen Geschlecht verstehen. Und so hatte sich in diesem Jahr die Leitung des Filmfestivals von Venedig – sämtlich Herren fortgeschrittenen Alters – offenbar vorgenommen, sich ganz besonders deutlich als Frauenversteher zu präsentieren. So war der Eröffnungsfilm von einer Frau, und darum auch die Eröffnung der »Giornate...«
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Daniel aus Köln, auch so ein Frauenversteher, fand die Women’s Tales übrigens richtig blöd, wie er mir sagte. »Wie können so intelligente Frauen derart dem Konsum verfallen?« Darauf gibt es viele Antworten – zum Beispiel weil Konsum Spaß macht, und weil Kommunismus bedeutet, dass alle Maserati fahren und Miu-Miu tragen, nicht, dass wir alle in Sack und Asche gehen.
Die Annährung und Ununterscheidbarkeit von Kunst und Werbung – hat Michelangelo etwa keine Werbung für den Papst gemacht? – ist natürlich ein tolles Thema, über das wir mehr schreiben müssten. Geht es aber nach Daniel, dürfen keine Werbefilme auf Festivals laufen: »Das eine ist das,wofür sie viel Geld bekommen, das andere ist die Kunst.« Den Unterschied verstehe ich nicht. Meiner Ansicht nach gibt des gute und schlechte Filme. Und das hier sind gute.
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Blicke. »Das ist er!« Ein Blick und alles ist passiert. Blicke sind im Kino das wichtigste Element der Kommunikation, hier steckt das Ungesagte, hier lauern die Widersprüche, das Unbewusste, Verdrängte, Verheimlichte. Als ihre Mutter und Shira im Supermarkt heimlich einen jungen Mann beobachten, sagt ihr die Mutter diesen Satz »Das ist er!« Es ist dieser Mann aus einer Familie, »die passt«, den die Eltern für Shira ausgesucht haben. Und Shira, eine 18-jährige die nicht jünger aussieht, als sie ist, aber ausgesprochen unschuldig, die in ihrem Leben noch keinen Kinofilm gesehen hat, keine Jugendzeitschrift gelesen, und die daher in Liebesdingen mehr als unerfahren ist, ist sofort überzeugt, hier dem Mann ihres Lebens begegnet zu sein: »Das ist er!« Sie wird die arrangierte Hochzeit aus innerer Überzeugung annehmen, sie wird ihn heiraten.
Hochzeitsvorbereitungen sind im Kino der Ort, in dem Familien ihren großen Auftritt haben und das innere Zusammenspiel dieser sozialen Mikroorganismen inszeniert wird. und damit auch das Zusammenspiel größerer Einheiten. Diesmal handelt es sich um eine chassidische Familie aus Tel Aviv, und im Zentrum des Films steht ein Ereignis, dass alles veränert: Noch vor Shiras Hochzeit stirbt ihre ältere Schwester Ester bei der Geburt ihre ersten Sohnes.
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Macht der Community. Zunächst einmal tauchen wir aber in Rama Burshtein Lemale et ha'halal (Fill the Void), der als israelischer Beitrag im Wettbewerb läuft, ein wenig in diese fremde Welt ein: Es ist zumindest zuhause – und das Berufsleben sehen wir nicht – ein Matriarchat, die Mütter – und sie sind alle Mütter – sprechen über alles, und entscheiden alles. Der kalte Pragmatismus dieser Mütter, ihr Klartext, die Offenheit und Direktheit, mit der sie reden, ist sehr angenehm, »down to earth« und auf solche Art sehr schön. Sie haben auch den Schlüssel zum Safe. Dem Ehemann wirft man ihn lässig zu und ruft noch hinterher: »Sag mir, wieviel Du nimmst.« Man feiert Puim. »Never delay a match« heißt es da ahnungsvoll. Aber da ist es schon zu spät...
Nach dem unerwarteten Tod der Tochter steht plötzlich die Frage im Raum, was mit dem Witwer und dem kleinen Sohn geschehen soll? Der Mann, das ist für alle klar, kann nicht allein bleiben. Auch hier planen und entscheiden die Mütter. Sie stehen stellvertretend für die Macht der Community, von der dieser Film handelt: Über eine potentielle Braut wird neben der Tatsache, dass sie Witwe ist und zwei Kinder hat, also auch versorgt werden muss, positiv vermerkt, dass sie Hebräisch spricht.
Doch bald taucht die Forderung aus Teilen der Familie auf, Shira solle doch deren Witwer heiraten. So bleibt der kleine Enkel in der Nähe der Großeltern.
Wie blöd es auch hier wieder ist, wenn Kinder immer alles tun müssen, damit es den Eltern gut geht. Wenn sie auf ihr eigenes Glück verzichten müssen, damit die Eltern glücklich sind, weil sie doch auf soviel verzichtet haben. So dreht sich der familiäre Teufelskreis immer weiter.
In Lemale et ha'halal steht aber die andere Seite im Zentrum: Das Gute dieser geschlossenen Gemeinschaft, die Sicherheit und Geborgenheit, die sie bietet, die Schönheiten ihres Lebens. Schattenseiten werden trotzdem nicht verschwiegen: Der Druck, unter dem alle Frauen stehen. Ob man heiratet, ist gar nicht mehr die Frage, sondern nur wann endlich und vielleicht noch, wen? Hat man als Frau überhaupt ein Leben ohne Mann?
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Im Übrigen fügt sich der Film in die nicht erst in Venedig erkennbare allgemeine Tendenz des Zeitgeists, das Orthodoxe interessant zu finden. Schon in Cannes gab es in der Quinzaine den Film über chassidische Juden. Jetzt läuft hier auch der erste Film einer saudi-arabischen Regisseurin, um dessen politische Bedeutung sich wilde Gerüchte ranken.
Auch über Lemale et ha'halal war im Vorfeld zu erfahren, die Regisseurin sei selbst orthodoxe Jüdin, und habe sich den Film auch von einem Rabbi abnehmen lassen. Ich weiß nicht, ob das stimmt, glaube es aber gern. Und natürlich kann man sich mit gutem Recht erstens fragen, warum man sich eigentlich mit Problemen beschäftigen soll, die man hat nicht hat? Außerdem suggerieren all diese neuen
Filme über Religion und Seiten des Religiösen, die hier im Dutzend laufen, dass Religion und Rituale etwas irgendwie Wichtiges wären. Etwas mit dem wir und das Publikum sich ernsthaft auseinanderzusetzen hätten. Das ist natürlich nicht der Fall, und gerade Orthodoxie wäre uns sofort unsympathisch, wenn es um islamische Fundamentalisten handelte, auch christliche.
Auf der anderen Seite bedient der Film vor allem aber eines der Bedürfnisse, die Kino besonders wichtig sind: Er
zeigt Rituale, zeigt eine fremde Welt, die man sonst nicht sehen kann. Wir sehen die Trauer um die Tote, hören »may the god console you«, sehen die Beschneidung des Frischgeborenen, lauschen zu »Höre Israel!«, wir hören Lieder über Zion and Jerusalem, sehen immer wieder Männer bei Tisch Lieder singen: »If I forget you o Jerusalem...«
Und natürlich gibt es am Schluss eine Heirat, eine arrangierte. Obwohl Shira vorher auf die Frage des Rabbi, ob sie glücklich sei, geantwortet hatte: »Its
not a matter of feelings.« Und er darauf: »Its only a matter of feelings.« Trotzdem ist dies ein Film über eine Heirat, bei der es nicht primär um Liebe geht.
Gespielt wird Shira von der 22-jährigen Hadas Yaron, die eine ganz leichte Ähnlichkeit hat mit Chiara Mastroianni. In ihrer Inszenierung benutzt Rama Burshtein den Weichzeichner ein wenig zu häufig. Ihre Schauspieler sind ein wenig zu hübsch, und insgesamt sieht vieles in diesem Film ein bisschen zu lackiert aus. Sie schaut leider auch manchmal dort weg, wo es gerade interessant wird, etwa beim Tod, oder bei der Beschneidung.
Trotzdem ist dies ein überraschend gelungener Film.
Ein bisschen pathetisch gegen Ende, aber insgesamt sehr intim, ohne je sentimental zu sein...
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Israel. Lemale et ha'halal ist nur einer von gleich einer ganzen Handvoll Filmen aus Israel, die in den unterschiedlichen Sektionen am Lido gezeigt werden. Ein Venedig-Stammgast ist seit langem Amos Gitai. Diesmal werden gleich zwei Filme dieses international bekanntesten israelischen Filmemachers aufgeführt: Lullaby to My Father ist eine Hommage an Gitais Vater, Munio Gitai Weinraub (1909-1970), einen Architekten, der seine Karriere am Bauhaus in Dessau begann, und dessen Werk in dessen Tradition stand. 1937 floh der Vater über die Schweiz nach Palästina, und baute nach diversen Industriegebäuden in den sechziger Jahren Anlagen für Kibbuzim. Gitais essayistischer Film, an dem auch Yael Abecassis, Jeanne Moreau und Hanna Schygulla mitwirken, ist ansatzweise auch eine Geschichte israelischer Architektur. Ein Dokumentarfilm ist Gitais Carmel – eine Geschichte des symbolischen Berges, wo einst die Kanaaniter Zuflucht fanden, christliche Kreuzritter eine Festung bauten, und heute eine Shopping-Mall errichtet wird.
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Ein sehr besonderer Film läuft in der Nebenreihe »Venice Days«: Amir Manors Debüt Epilogue erzählt vom Alltag eines alten Ehepaares. Yosef Carmon und Rivka Gur spielen Beri und Hayuta, die beide fast 80 sind. Liebevoll gehen sie miteinander um, teilen ihre Tage, und erleben zugleich den Wandel der Gesellschaft um sie herum. Sie halten fest an ihren Jugendträumen eines Israels der Gleichheit und des Wohlfahrtsstaates. Dem Filmemacher gelingt mit diesem intimen Portrait, das durch seine eigenen Großeltern inspiriert wurde, eine Parabel auf Entfremdung und die Folgen eines blinden Konsumismus, der mit den Solidaritätsstrukturen, durch die Israel erst geschaffen wurde, die inneren Existenzgrundlagen des Staates zunehmend zerstört.
Eine Koproduktion mit palästinensischen Filmemachern ist schließlich Water, ein Episodenstück von acht Regisseuren, das von Kobi Mizrahi und Maya de Vries an der Universität von Tel Aviv entwickelt wurde. Aus verschiedenen Perspektiven werden Geschichten rund ums Wasser erzählt: Über geteilte Quellen, orthodoxe Klempner, Bauern, die Ausgangssperren verletzen, um ihre Felder zu begießen, Kinder, die noch nie das Meer gesehen haben, um einen arabischen Swimmingpoolpfleger und eine alte Überlebende der Lager, die Augentropfen braucht. Klarerweise fungiert hier Wasser als jenes zentrale Element, das alles mit allem verbindet.
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Wenn Frauen lieben, hassen sie.
Ob Anna Magnani jetzt wirklich »die größte Schauspielerin Italiens« war, darüber darf man wahrscheinlich streiten. So pries man sie jedenfalls vor der Vorstellung dieser Retrospektiven-Vorführung einer Dokumentation über italienische Filmgeschichte an. Ist aber auch vielleicht gar nicht so wichtig. Doch gerade, wenn diese großen Worte zutreffen, ist eine andere Erfahrung um so verwunderlicher, die man hier in Venedig seit Jahren immer wieder macht: So sehr die Italiener
nämlich ihre Filmgeschichte einerseits schätzen, so schätzen sie oder jedenfalls die Verantwortlichen beim Filmfestival sie doch andererseits derart gering, dass bei den manchmal halbstündigen Gesprächen nach einem Film einfach absolut nichts übersetzt wird. Offenbar interessiert das Gerede eh keinen Ausländer. Oder Italiener sind einfach egozentrisch.
Der Film selbst immerhin hatte Untertitel: »This is not the story of Ana, Ingrid and Roberto.« heißt es etwas
esoterisch am Ende: »This is the story of the volcano, which does not change in time.« Nun ja. Was man zuvor gesehen hatte, unter dem Titel La guerra dei vulcani, war schon vor allem Ana, Ingrid und Roberto.
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Die Geschichte beginnt mit ein paar Sizilianern aus guter Familie, die seit Anfang der 40er Jahre zu den ersten Unterwasser-Filmern der Welt gehörten. Sie gründeten eine Firma, Panaria-Film, und präsentierten ihre atemberaubend neuen Bilder von der Unterwasserwelt rund um die aolischen Inseln, zu denen auch Aufnahmen eines Vulkanausbruchs gehörten, gemeinsam mit Ideen für ein Spielfilmprojekt eines Tages Ende der 40er Jahre in Rom Roberto Rossellini. Der war nach Filmen wie Rom, offene Stadt, Paisà und Deutschland im Jahre Null der Regisseur der Stunde. Ihm standen alle Türen offen.
Seit Rom, offene Stadt waren Rossellini und seine Hauptdarstellerin Anna Magnani auch ein Paar. Er war 42, sie 39, er war, wie der Film es nennt »charmant und unzuverlässig, ein Frauenheld, der immer an zwei Fronten spielte«, sie »always in need of affection«. Sie lebten zusammen, hatten keine Kinder, aber zwei Hunde. Eines Morgens Anfang 1949 verließ Rossellini die gemeinsame Wohnung, um mit den Hunden um den Block zu gehen. Als Magnani nach über einer Stunde herunterkam, waren die Hunde beim Concierge abgegeben. Rossellini war verschwunden.
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Im Jahr zuvor hatte ein Feuer die Büros der bedeutenden Minerva-Film in Rom und eine Menge Filmmaterial vernichtet. Zur Feier von Rossellinis 42. Geburtstag am 8.5.1948 bekam er vom Minerva-Boss ein Geschenk: Einen Brief, der aus den verbrannten Beständen gerettet worden war: Er stammte von Ingrid Bergman, die darin ihre Bewunderung für die Filme des Regisseurs ausdrückte, und sich für eine gemeinsame Arbeit bewarb. Der sehr vornehm formulierte Brief schloss mit der Bemerkung, sie könne leider kein Italienisch, außer zwei Worten: »Ti amo«.
Bergman war 32 und zu dieser Zeit wie Rossellini auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs: Auf ihre Arbeiten mit Hitchcock und auf Casablanca folgte die Remarque-Verfilmung Arc de Triomphe und Joan of Arc, aber auch niveaulosere Filme. Sie war Hollywood so leid wie ihre Ehe mit einem schwedischen Arzt und Manager, wollte neue Herausforderungen und vermutlich auch ihrem Privatleben entkommen.
Man vergisst immer, wie schön die Bergman war. Der Film erinnert daran mit prägnanten Filmausschnitten. So muss es auch Rossellini gegangen sein. Als er Bergmans Brief bekam, kannte er keinen einzigen ihrer Filme. Er ließ sie sich kommen, und schloss sich ein Wochenende im Studio ein, um alle zu sehen. Auf diese Weise hatte er sich offenkundig in Ingrid Bergman verliebt. Kurz darauf begann er mit der Arbeit an einem neuen Drehbuch.
Seine Co-Autoren Sergio Amidei und Federico Fellini verpflichtete er zu vollkommener Geheimhaltung. Die galt nicht allein gegenüber der notorisch eifersüchtigen und zu Recht Verdacht schöpfenden Magnani, sondern auch gegenüber den Jungens von Panaria-Film, deren Ideen Rossellini gnadenlos ausschlachten wollte, ohne sie zu beteiligen. Als die Arbeit beendet war, beschrieb Rossellini seine Ideen in einem Brief an Bergman, machte einen Termin in New York und führte die Hunde aus...
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Der Krieg der Vulkane. Stromboli wurde im Sommer gedreht. Das Geld dazu stammte von Howard Hughes. Spätestens während der Dreharbeiten wurden Bergman und Rossellini ein Paar. All dies wusste man schon vorher. Was man nicht wirklich wusste: Magnani schlug zurück. Nicht nur in der Presse, die sich, und mit ihr die gesamte italienische und bald auch amerikanische Öffentlichkeit, in zwei Fraktionen spaltete. Sie kontaktierte die jungen Männer von Panaria-Film, die sich gleichfalls betrogen fühlten, und sie gewann den Hollywood-Veteran William Dieterle für das Projekt: Die Geschichte einer Frau, die auf eine der äolischen Inseln zurückkehrt und dort von den Bewohnern ausgeschlossen wird, ein Melodrama zu Füßen des Vulkans, das in dessen Ausbruch mündet, ähnelt der von Stromboli sehr, und wurde unter dem Titel Vulcano verfilmt. Eine in ihrer Verzweiflung so absurde, wie geniale Parallelaktion, eine faszinierende Geschichte. Wie ähnlich sie beide Filme waren, zeigt der Vergleich der jeweiligen Ankunftsszenen, der Konfrontation zwischen der modernen Einzelgängerin mit den Frauen der Insel. Eine Geschichte über den Konflikt zwischen – Konformismus und Freiheit.
Als Vulcano dann im römischen Cinema Barberini Premiere hatte, gab es erst einen Projektor-Ausfall, dann schrieb die Presse: »Der Vulkan gebiert eine Maus.« Vor allem aber: An genau dem selben Abend wurde der erste Sohn von Rossellini und Bergman geboren, und niemand schrieb mehr über die Vulcano-Premiere.
Eine Anekdote der Filmgeschichte also, aber eine interessante, aus der man noch mehr hätte machen können. Den La guerra dei vulcani ist im Prinzip ein bisschen albern und nachlässig, beliebig in seinem Umgang mit Filmausschnitten. Aber sehr entertaining. »Wo endet das Theater, und wo beginnt das Leben?« fragt Magnani in einem Film. Gute Frage.
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Stromboli lief auch hier, im Rahmen der Retrospektive. Da sieht man dann die Bergman im Trenchcoat. Alles an ihr ist Verschlossenheit, Reserviertheit, und scheint zu symbolisieren: Sie gehört nicht hierher.
Die schönste Szene in La guerra dei vulcani waren Making-Off-Aufnahmen in Farbe von der berühmten Thunfischfang-Szene. Das Aufscheinen einer völlig
verlorenen Welt, in der alles anders war. Da begegnet man dem Italien, das nach dem Krieg so viele fasziniert hat, auch Bergman. Der nächste, der dann auf die äolischen Inseln kam und dort einen Film drehte, war Antonioni.
Christus kam nur bis Suburbia: Wichtigtuerei und die Neugierde des wahren Meisters: Erste Eindrücke und Gedanken zu den neuen Filmen von Terrence Malick und Paul T. Anderson; Venedig-Notizen, Teil 2.
»Hallo, mein Name ist A.... und ich bin freischaffende Künstlerin.« sagt die unbekannte in englischem Akzent, »Ich frequentiere die Filmfestspiele weil ich auf der suche nach Filmgeld bin. aber das ist ja nicht das, was ich von Ihnen bekommen könnte...« Stimmt.
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»Tom Cruise hat den Film gesehen, wir sind weiterhin Freunde, und der Rest bleibt zwischen uns.« – muss die Welt jetzt beruhigt sein, oder eher beunruhigt, dass der bekennende Scientology-Anhänger Tom Cruise dem kapriziösen Hollywood-Outsider Paul Thomas Anderson auch nach Ansicht von dessen neuem Film die Freundschaft nicht aufgekündigt hat? Das ist zwar eine der Fragen, aber bestimmt nicht die interessanteste, die sich stellen, nachdem der neueste Film des einst für Boogie Nights und Magnolia gefeierten Anderson am Samstagabend in Venedig bei den Filmfestspielen seine Premiere erlebte. Viel interessanter ist: Wieviel hat The Master jetzt nun wirklich mit der geheimnisvollen Scientology-Sekte und dem Leben ihres nicht weniger mysteriösen Gründers L.Ron Hubbard zu tun?
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Denn Anderson nennt sie nie beim Namen. Er erzählt aber von einer sektenartigen Religionsgemeinschaft Anfang der 50er Jahre – und die Ähnlichkeiten zu Scientology sind auch ohne konkrete Namensnennung frappierend. Der Regisseur leugnete in Venedig diese Ähnlichkeit auch überhaupt nicht: »Ich weiß zwar nicht viel über Scientology von heute« sagte er am Samstag bei der Pressekonferenz bei den Filmfestspielen, »aber ich weiß viel vom Beginn dieser Bewegung, und dies hat mich als Hintergrund für meinen Film inspiriert. Das ist alles, was ich dazu offen sagen kann.«
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The Master ist zuerst einmal genau das, was sich Schauspieler wünschen, jedenfalls amerikanische, weil sie sich mit solchen Rollen wichtig machen können. Amy Adams und Philip Seymour Hoffman nutzen ihre Möglichkeiten glänzend, während Joaquim Phoenix overacted: Es gibt diese bestimmte Art amerikanischer Schauspieler, zu spielen. Sie hat nichts mehr mit dem Leben zu tun, nichts mit Naturalismus, aber wir halten sie fast dafür, weil wir das so oft (zu oft) gesehen haben. Und übrigens sieht Phoenix hier so hässlich aus, wie noch nie. Er spielt eine ähnliche Figur, wie der Cruise in Magnolia, wie Daniel Day Lewis in There Will Be Blood: dein ausgezehrter, asketischer, aggressiver Unsympath, der zwar »böse« »ist«, auch im Film aber doch erkennbar die Identifikationsfigur, das alter ego für Anderson.
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Sein Thema ist gewissermaßen die Geburt der Religion aus dem Geist des Wahnsinns. Ohne Frage: The Master ist unter den vielen Filmen, die sich bislang in Venedig mit Facetten des Religiösen beschäftigen, und sich zum Teil in ganz erstaunlicher Weise auf religiöse, auch streng orthodoxe Lebenswelten einlassen, ein Außenseiter in der Eindeutigkeit seiner
Religionskritik.
Anderson bleibt klar auf Seiten dieser Welt – er erzählt eine faszinierende Geschichte über Kriegstrauma, Manipulation und Gehirnwäsche, und von ihrer komplexen Verbindung im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg. Hochinteressant ist dieses geistige Netz aus Manipulation, Hypnose, Bewusstseinserweiterung, das hier ausgelegt wird. Die 50er Jahre Paranoia und der Kybernetik-Komplex, die Vorstellung, dass Menschen zu Automaten werden
könnten, die John Frankenheimer unnachahmlich in The Manchurian Candidate portraitierte. Aber ein Dokumentarfilm eignete sich für all dies im Prinzip besser.
Anderson erzählt anhand von zwei Männern. Der eine, gespielt von Joaquim Phoenix, ist ein totaler Versager, Säufer und traumatisiert, der andere ein charismatischer egomanischer Menschenfänger und de facto ein zukünftiger Sektenführer. Er experimentiert mit Drogen schreibt Bücher über die Menschheitsgeschichte und Zeitreisen und zieht gutgläubigen Reichen das Geld aus der Tasche. Philip Seymour Hoffman spielt ihn großartig und voller Charme. Auch Amy Adams verdient einen Schauspielerinnenpreis. allein schon dafür, mit welcher Überzeugung sie solche Sätze sagt: »You can do, what ever you want. This is not you. Your spirit is not free. It is controlled by an invader force. we are in the middle of a battle, which is 3 trillion years old.« Weitere schöne Sätze: »We are not a part of the animal kingdom.«
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Man kann gegen Andersons Film einwenden, dass der Regisseur und der Film selbst sich erkennbar viel zu ernst nehmen, dass ihm Humor fehlt, er erkennbar von Zorn, Pessimismus und Zynismus geprägt ist, von den Kontrollfreak-Attitüden und der Selbstinszenierung als Alpharegisseurs des Paul Thomas Anderson. Und dass er filmisch weniger inspiriert ist, als frühere Werke des Regisseurs. Auch gelingt es ihm nicht, seine Themen in der Gegenwärtigkeit seiner Figuren aufzulösen. Das
gelingt nur Hoffman.
Trotz solcher Einwände ist The Master aber ein insgesamt sehr gelungener Film von großer inszenatorischer Kunst. Gutes Handwerk. Aber auch vollkommen geschlossen. Auch ein Film, der alles weiß, nichts wissen will, und vor allem nicht überrascht werden möchte.
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Dabei behaupte ich ja nicht, dass Anderson viele Fehler macht. Ich behaupte im Gegenteil, dass gerade dies sein Problem ist. Dieser Film und sein Regisseur sind so obsessiv damit beschäftigt, alles richtig zu machen, dass sie stinklangweilig sind. Zudem ist ein großer Teil dieses überlangen Films überhaupt nicht das beworbene Enthüllungsstück über Scientology und L. Ron Hubbard. Sondern es ist die Geschichte, auf die der Männerbündler und Frauenfeind Anderson immer wieder manisch
fixiert ist: Frauen als Beiwerk, geschlossener Männerbund, und eine freudianische Vater-Sohn-Parabel über einen unreinen Tor auf der Suche.
Schade, dass das alles ansonsten kaum jemand sehen will, dass Anderson mit seinem Bluff, seiner Wichtigtuerei und ein paar Taschenspielertricks bei vielen Kritikerkollegen immer wieder durchkommt.
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Eine ganz einfache Geschichte erzählt demgegenüber das zweite Schwergewicht des US-Kinos, Terrence Malick, in seinem Wettbewerbsbeitrag To the Wonder: Im Zentrum steht Marina, eine junge Frau russischer Abstammung aus Paris. Sie ist verliebt in einen amerikanischen Schriftsteller. Sie ziehen nach Oklahoma, leben zusammen; weil ihr Visum ausläuft, muss sie zurück. Er hat
bald eine andere, verlässt diese aber, als Marina wieder da ist. Doch sie kann nicht mit ihm leben.
Ein Hin und Her der Beziehungen, die Facetten der Liebe stehen im Zentrum dieses Films. Unter Liebe versteht der studierte Philosoph Malick aber auch grundsätzlicher das Wesen menschlicher Beziehungen – und die Liebe Gottes.
Auch wenn hier ein von Javier Bardem gespielter katholischer Priester vorkommt, viele direkte und indirekte Anspielungen auf die Religionsgeschichte
des Abendlandes ist To the Wonder mehr ein Film über die Liebe und eine Hymne auf das Leben, als auf die Religion.
Malicks Film gleicht in seiner Anhäufungen fragmentarischer Bildern einem Bewusstseinsstrom. Zugleich ist seine von Emmanuel Lubetzki geführte Kamera neugieriger, sucht mehr, und weiß weniger als die Andersons, und entdeckt dadurch am Ende viel mehr.
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Es ist dies ein Film, über den man seine Gedanken im Festivaltrubel nicht so schnell geordnet bekommt. Sein Urteil allerdings schon. Wobei ich gern zugebe, dass man bei To the Wonder, um den es hier geht, schon mehr als einmal ins Grübeln kommen kann, was man da eigentlich gesehen hat. Und dann gab es da noch jenes Gespräch mit einem der mir sympathischsten, geschätztesten Direktoren eines Filmfestivals, ein Abend im »Maleti« Anfang der Woche, der dadurch noch eine Stunde länger wurde, dass dieser Direktor mich von seiner Ansicht überzeugen wollte, dass To the Wonder – mit meinen Worten aus dem Gedächtnis formuliert – ein absoluter Dreck ist, reaktionär und eigentlich gar kein Film, und ihn das Festival hätte ablehnen sollen.
Hm. Seine Argumente sind nicht alle von der Hand zu weisen. Mein Herz sagt aber »Nein!« Und mein kopf sagt: Zumindest ist es nicht so einfach. Also fangen wir noch einmal ganz langsam von vorn an,
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To the Wonder ist recht klar in sechs Akte gegliedert, denen eine Ouvertüre vorausgeht, und ein Epilog folgt. »Newborn. I open my eyes. I melt into the eternal night.« heißt der erste Satz, man ist auf einer Zugfahrt, gesprochen wird von einer Frauenstimme französisch, die Bilder sind gewollt grobkörnig, früher hätte man Super-8 vermutet, heute legt das Video nahe. »Pour la nuit eternel« sagt die Frau weiter, dann »I fall into the flame«. Wir beobachten ein Paar auf Frankreichreise: ein US-Amerikaner und die Erzählerin, eine in Paris lebende Ukrainerin. Sie sind zuerst in Paris, die Schwurbelkamera Emmanuel Lubetzki zeigt sie verliebt knutschen und tatschen, zeigt auch einen Buddha im Schaufenster, und vor allem das Pantheon. »What is she dreaming of?« sagt die Frauenstimme.
Dann ist das Paar am Atlantik, am Mont St.Michel, es ist Ebbe, sie gehen den Weg hoch zur Abtei, alles ist menschenleer, dann sieht man die Kirche, den Kreuzgang, erinnert sich, dass der Erzengel Michael es war, der den Teufel besiegte. Man sieht eine Rose, Meerwasser, die Sonne, das Paar auf dem Watt, die Flut, die kommt. Dazu läuft dann Wagner, die »Parzifal«-Ouvertüre.und wir wissen vielleicht, dass am Mont St.Michel auch eine wichtige Episode der Artussage spielt.
Dann wieder
Paris: »Love makes us one. two. one.« sagt die Frauenstimme. Im Appartement fragt die Tochter: »Why are you unhappy?« – »I dont know.« Im Park. Die Frauenstimme sagt: »Stop beeing so serious!« Die Freiheitsstatue. Ende der Ouvertüre.
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Malick ist offenkundig in seine lebensphilosophische Phase getreten. Das bedeutet Irrationalismus. Das muss man nicht gut finden, ist aber sein gutes Recht. Es geht aber auch, wie oft bei ihm, um Ehrfurcht, um Andacht vor dem Leben. Er hat auch den Mut zu Kitsch und Pathos.
Die Bildsprache und Narration sind im Prinzip dieselbe wie in The Tree of Life. Kino als Bewußtseinsstrom.
Als Gemurmel, Gestammel mitunter, als assoziatives Reden und Kreisen. Es bedeutet auch Verzicht auf Dialoge. Eine Kamera, die etwas entdeckt, nicht nur sieht, was sie schon kennt. Die gleitet, driftet, nie stillsteht. Nicht klar ist. Dazu läuft im Off klassische Musik: Berlioz, Wagner, Gorecki, Tschaikowsky, Haydn, Gounod. Filmsprachlich ist das so fragmentarisch wie experimentell. Und Malick hat die Ruhe weg...
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Der erste Akt zeigt nun die USA, angeblich Oklahoma. Gelbe Felder, ein Flugzeug am Himmel, später sieht man es noch mal. »How I loved you« sagt die Frauenstimme. Sie heißt Marina. Um das Dasein als single mum geht’s mit einer Nachbarin, um Amerika mit der Tochter: Ein Supermarkt, so sauber, die Felder, Weiß. Trotzdem sagt die Tochter: »We need to leave. There is something missing.«
Bilder eines Vergnügungsparks. Coney Island of the mind. Man hält es für möglich, dass
Marina verrückt ist. Die Wohnung ist immer leer, einzelne Kisten stehen herum. Ben Affleck auch. »Tu est pas mon pere.«
Bardem als Priester. Im ersten Moment etwas lächerlich. Aber warum nicht? Er redet immer nur mit Gott. Licht, Insekten, Gott als Allnatur. Zugleich verborgen. Jansenismus?
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Ein Gedanke: Wenn The Tree of Life ein Film über und aus Sicht von Jungens ist, ist To the Wonder vielleicht einer aus Sicht von Frauen? Er zeig das Diffuse, die Angst (»der« Frauen), »I write on water, what I dare not to say.« sagt die Frauenstimme.
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Ein zweiter: Was unangenehm auffällt: Diese Menschen haben immer Freizeit, nie Arbeit, einen permanenten Urlaub. Sie, gespielt von einem hübschen Model und Ex-James-Bond-Girl, läuft allzuoft in Unterwäsche herum. Wie in einer Werbung für »Victorias secret«.
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»Men revolt against god« predigt der Priester. Gott gibt uns Freiheit der Wahl. »The one thing god condamns is to avoid the choice, the risk, the possibility of betrayal. ... the man who hesitates, can do nothing...« Schlüsselsätze.
»If you'd asked me to stay, I would have« sagt die Frauenstimme. Sie reist ab. »Ewig existiert nicht.«
Zweiter Akt: Natur, Proben nehmen, Zorn, Afflick ist ein Umweltaktivist. Eine blonde Frau im Krankenhaus. Pferde. Büffel, Prärie, da kann man
mitdenken: Western, Indianer.
Die Römerbriefe des Paulus werden zitiert. Da heißt es: »All things work together for good.« Wenn er nun die beiden Frauen zusammen brächte, wäre es konsequent. Das wird er aber nicht tun.
»Do you want this? Do you know, what you want?« Nochmal: Die Sünde der Unentschiedenheit.
Rot, Gelb, Orange. Die Blonde ist ein Jeanstyp, ein all amercan girl. Offener, weniger kompliziert, aber auch langweiliger. Affleck fängt was mit ihr an. Ein Mann zwischen
Europa und Amerika.
Dritter Akt: Paris, Regen, Melina wieder. Die Tochter sei nun beim Vater. »Paris is dreadful«. Und alles nur weil das Visum ausgelaufen war. Der Staat ist mal wieder schuld.
Die Blonde: »Walk away, what we had was nothing, pleasure, lust«. Melina und Affleck heiraten. Liebe, Treue, Gefangene unterschreiben als Zeugen. Sie: »may be i should stop telling you, that I love you. I know that strong feelings make you uneasy.« Frühling, Pflanzen. Ein Röntgenbild beim Arzt:
»Would you want to have children?« – »Some day.«
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Unterwasserbilder: »Ou est la verité? Above or down there?« Grüne Wiesen. Vierter Akt: Eine Italienerin ermuntert Melina. Wie die Stimme des Teufels: »Live and do what you like.« Das Leben sei nur ein Traum. »You should be free, listen to your heart. We are gypsies... I am my own experiment. I want somebody to surprise me!«
Immer wieder die Sünde der Entscheidungslosigkeit. Die nicht genutzte Wahl. die vernachlässigte Freiheit. »Weak people never bring anything to an end for
themselves. They want the other people to do it.«
Dann geht sie mit einem Proll ins Motel. Der hat einen Totenkopf im Spinnennetz als Tatoo. Bisschen fett aufgetragen. Das Wagnerianische Malicks.
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Dann ist sie bald wieder weg aus Oklahoma. Endgültig. Affleck kann sehr dumm gucken. Es hilft ihm aber nichts. Christus kam nur bis Suburbia.
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Der sechste Akt zeigt vor allem den Priester. Er kümmert sich um Mongoloide und Strafgefangene. Und er kommuniziert mit Gott. Bardem auf Spanisch ist toll: »Where are you leading me? Christo accompaning me; Christo ante mi; Christo behind me; Christo above me; Christo under me; Christo en mi derecha; Christo en mi izquirda; Christo en mi...«
Als ob man mit Christus nur auf Spanisch angemessen sprechen kann.
Im Epilog noch einmal ein Aufwasch von allem: Amerikana, gelbe Felder,
Pferde, Mont St. Michel, Wagner
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Was soll das nun alles? Aus meiner Sicht: Ein Manifest des Pantheismus. Alleinheit. Eine Meditation über den Versuch, eins zu sein mit Gott. Die Liebe verbindet. »L’amour qui nous aime.« »We were made to see you.«
Vielleicht ist Malick ein Heideggerianer, auch der kam vom Katholizismus her. Und Malicks Verbindungen zur Philosphie, und zu Heidegger, von dem er ein Buch übersetzt hat, sind bekannt. Malick führt einen Diskurs über Schwäche und Stärke, über Hässlichkeit
und Schönheit. Gut möglich, dass er in vieler Hinsicht sehr konservativ ist. Aber das ist doch zweitrangig für seine Bedeutung als Künstler. War Celine, waren Pound und Jünger und Benn schlechte Schriftsteller?
To the Wonder bietet auch Innenansichten der Religion. Wenn man an Religion glaubt, dann ist das nicht der schlechteste Film über Religion. Im Gegenteil. Es geht aber vor allem um
die Liebe. Fragmente einer Sprache der Liebe. Liebe heißt hier immer auch Schönheit. Wir sind allein mit dem Tod
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To the Wonder war überhaupt der umstrittenste Film des Festivals in dem Sinn, dass ihn auch die, die ihn hassten, doch so ernst nahmen, wie jener Gesprächspartner. Im Stil von Andersons Master-Hauptfigur könnte ich es mir jetzt einfach machen und ihm stellvertretend für alle Kritiker erwidern: »Wovor hast Du Angst?« Oder: »Wenn einen ein Film so ärgert und aggressiv macht, spricht das ja schon wieder eher für ihn.«
Man könnte es im Übrigen auch mal so versuchen: Man hat auch Joyce und Proust zunächst nicht erkannt, Strawinsky gehasst, und Bracque und Picasso, man hat ihre Kunst »primitiv« und »wahnsinnig und einen Rückfall und ein Krisensymptom genannt. Und vielleicht war und ist sie auch unter anderem genau das. Vielleicht war und ist sie aber auch genial. Wir wissen das immer noch nicht ganz sicher, und genau darin liegt der Reiz. Und wenn ich hier behaupte, dass Malick Kunst macht, habe ich damit noch nicht gesagt, dass es immer gute Kunst ist...«
Es ist jedenfalls etwas zu einfach diesen Film anzugreifen. Denn er macht sich angreifbar. Ich finde, dass To the Wonder Malicks schwächster Film ist. Aber eben von Malick, das relativiert das Adjektiv »schwach«. Aber wenn ich die Wahl habe, Malick für das was er gut macht und was gelingt, zu verteidigen oder ihn für das was ihm misslingt, und was er schlecht macht, anzugreifen, dann muss ich nicht lange nachdenken, da ist die erste Rolle mir schon prinzipiell sympathischer.
Die Kritik, die hier zum Teil an Malick geübt wurde ist hart, grob, und mir insgesamt ein bisschen zu borniert. Wir alle kennen die Geschichte von des Kaisers neuen Kleidern. Die trifft aber vor allem dann zu, wenn einer zum Liebling von Kritikern und Publikum aufgestiegen ist – also in diesem Fall auf Kim Ki-duk und Ulrich Seidl, auf die liebsten Hofnarren der Filmgesellschaft.
Umgekehrt gilt aber – und gerade wenn es so kontrovers hergeht – das Prinzip: »Im Zweifel für den Angeklagten«. Also den Regisseur. Die Argumente, die hier aufgefahren werden, liegen oft unter der Gürtellinie. Zum Beispiel ist zu hören, Malick sei ein Evangelikaler, ein Angehöriger der Sekte der »Newborn Christs«. Das sagen dann aber die gleichen, die bei einem Film aus einem islamischen Land immer argumentieren, das müsse man differenziert sehen und die jedem Film jüdischer Orthodoxer auf den Leim gehen.
Ich würde diesen Film ungemein gern mit Theologen sehen, einstweilen habe ich nicht den Eindruck, dass dies ein Film ist, dem man irgendeine Form von religiöser Propaganda vorwerfen kann.
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Man muss aber auch ehrlich zu sich selber sein: Klar: Wäre das ein Film von Kaurismäki oder der Film eines Russen wie Sokuriv, würde ich mir wohl weniger Gedanken über ihn machen. Zugleich erinnert mich das ganze Gewese ein bisschen an Wong Kar-wai: Dessen 2046 fanden 2004 in Cannes auch zuerst alle blöd, nach dem Festival war es dann plötzlich ein toller Film.
To the Wonder wirkt vor allem unfertig. Es gibt Momente, die völlig unklar sind, nicht aufgenommen werden, und zu viele lose Fäden.
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Andererseits muss man es als Zuschauer (und Kritiker sind Zuschauer) für möglich halten, dass ich nicht sofort verstehe, was ich dort sehe, dass mir erst Nachdenken und Interpretation, vielleicht sogar ein zweites Ansehen, den Film öffnen.
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Dies ist ein Film über Abwesenheit, Sehnsucht. Ein lyrischer, tief romantischer Film. Meditativ. Malick möchte Hingabe des Zuschauers. Nicht an ihn, nicht an Gott. An den Film.
Zudem ist der mitunter fast naiv wirkende Malick kein Zyniker. Er glaubt weiterhin, dass so etwas wie Wahrheit und ein Sinn des Lebens existieren, und dass der Mensch sie finden sollte. Für Anderson ist Wahrheit, zumindest im neuen Film dagegen nur das Ergebnis von menschlicher Manipulation.
Es ist
aber völlig legitim, vielleicht sogar notwendig, dass man im Kino nach dem Sinn des Lebens fragt. Muss man so fragen? Und muss man diese Antwort geben? Man muss nicht.
Pippi Langstrumpf auf Acid: Groteske und Geheimnis, Theologie und Tyrannei, Freiheitskämpfer und Wettermänner; Venedig-Notizen, Teil 3.
»Terroristen« sind charismatisch, klug, erfolgreich, schön – jedenfalls, wenn sie älter werden. Sie sehen dann aus wie Julie Christie. Wie Susan Sarandon. Wie Robert Redford. Oder diese Menschen sind eigentlich keine Terroristen. »Was dem einen sein Terrorist, ist dem anderen sein Freiheitskämpfer.« Hat ein kluger Mann gesagt, und es war weder Mao, noch Lenin.
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Für die diesjährigen Filmfestspiele von Venedig müsste man Theologie studiert haben. Aber geben wir es doch zu: Eigentlich nervt Religion, nervt Glauben, nervt Gott – jedenfalls im Kino. Warum muss man sich eigentlich dauernd auf Probleme einlassen, die man gar nicht hat, Das Schlimmste an diesen ganzen Venedig-Filmen um den Komplex Religion: Dass sie alle so selbstverständlich tun, als ginge es um etwas Wichtiges, und dass sie des nicht mehr beweisen müssen. Hinzu kommt, dass Religion/Glaube/Gott sich offenbar immer noch am besten für die blödesten Provokationen eignen. Ein gutes Beispiel hierfür ist der neue Film von Ulrich Seidl: Paradies: Glaube
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In Paradies: Glaube – dem zweiten Teil der Glaube-Liebe-Hoffnung-Trilogie nach Paradies: Liebe, der in Cannes lief – stellt der österreichische Regisseur (Hundstage) ganz und gar eine Frau ins Zentrum. Jene Maria ist eine fanatische katholische Fundamentalistin, die ihr Leben damit zubringt, ihre Mitmenschen zu missionieren – ob sie wollen oder nicht, und zwar mit einer gehörigen Portion Aggressivität. Schon die allererste Szene des Films spricht Bände: Da zieht sich Maria vor einem Kruzifix halbnackt aus, und verpasst sich genau 48 Peitschenhiebe auf den Rücken. Es gehört zu Seidls spezieller und seit jeher umstrittener Methode, dies dem Publikum direkt und in aller Ausführlichkeit – eben mit genug Zeit zum Mitzählen der einzelnen Schläge – zu zeigen. Da bewegt sich der halbe Saal schon recht unruhig und rutscht auf dem Sitz unwohl hin und her, als handle es sich um einen Beichtstuhl. Wir denken eher: Ah geh? So primitiv? Aber es »hat was« wie man so sagt, und verfehlt seine Wirkung nicht. Primitiv daran finde ich vor allem, dass man bei Seidl ja mit nichts anderem mehr rechnet, als mit Zumutungen. Man ist insofern nicht überrascht, sondern fühlt sich bestätigt, und das Publikum zieht sich Ekel und Abstoßung und die Faszination für die Freakshow rein, wie einmal im Jahr eine Darmspiegelung.
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Auch sonst überschreitet der Film viele übliche Geschmacksgrenzen: Ein Krüppel robbt minutenlang durch die Wohnung, Betrunkene lallen, eine Sex-Orgie im Stadtpark wird explizit gezeigt, Kruzifixe werden im Dutzend zerschlagen und ein Ratzinger-Portrait fällt von der Wand – was übrigens vom italienischen Publikum mit Applaus gewürdigt wurde, der mir, einem religiös unmuskalischen und keineswegs papstpatriotischen Menschen saudumm vorkommt. So geht’s weiter durch den religiösen Sumpf der »Legio Cordis Jesu«, der Maria offenbar angehört. Einmal trifft sich die Gruppe und guckt in Kamera. Sie gucken also uns im Saal an, ernst und voller Liebe, und für ein paar Momente sind wir Jesus. Dann rufen sie im Chor: »Wir sind die Sturmtruppe der Kirche«; »Wir schwören Dir Treue bis in den Tod.«; »Wir schwören Dir, dass Österreich wieder katholisch wird.«
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Dazwischen missioniert die seltsame Hauptfigur, eine perverse Heilige, die jede neue Tortur als »Prüfung« freudig begrüßt, »Danke Jesus, Danke!« jauchzt nach den 48 Peitschenhieben. Sie erklärt zwei Geschiedenen: »Sie leben in Sünde.« Antwort: »Wer bestimmt, was Sünde ist?« Nur um die ihr anvertraute Katze kümmert sie sich dagegen nicht sehr gut. Auch nicht um einen Moslem, der im Rollstuhl sitzt, und plötzlich bei ihr einzieht. Er stellt sich als ihr Ehemann heraus, und gibt Anlaß,
ihm zu erklären, dass auch dessen Unfall »einen Sinn« gehabt hat. Der mann wiederum sagt ihr: »Du musst Dir eine andere Religion suchen.«
Dann wieder wird ein Messi missioniert, Weihwasser wird per Spray verteilt, bis Maria am Ende doch zusammenbricht, und den Christus am heimischen Kreuz geißelt.
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Was ist die Moral von alldem? Vielleicht dass Religion in Aggression mündet, und dass diese Aggressivität einer Eskalationsspirale unterliegt? Die Seidl zeigt. Vielleicht auch, dass der arme Jesus am Ende auch noch von seiner treuesten Jüngerin verraten wird? Vielleicht dass des bei Religion am Ende nur um Sex geht? Bei Seidl’s jedenfalls. Vielleicht dass das tyrannische Kino Seidl seine Hauptfigur so, lange und so weit demütigt, bis sie zusammenbricht und Seidl diesen Zusammenbruch zeigen kann. Seidl behauptet natürlich selber: »Meine Filme haben keine Message...«
Es sind insgesamt groteske Szenen, nicht angenehm zu sehen, aber stark in der Wirkung. Und das muss man über diesen Film sagen: Ich mag ihn nicht wirklich, sehe ihn nicht gern, aber er ist gut, und oft auch lustig. Ohne Frage ist der Film eine Zumutung, aber er ist auch stark in seiner Gnadenlosigkeit. Zumindest die Wahrheit der ungemilderten Provokation hat er auf seiner Seite.
Damit aber auch den billigen Beifall. und ich unterstelle Seidl, dass er Wirkungen, auch öffentliche,
sehr genau kalkuliert.
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Seidl zeigt alles im für ihn üblichen Stil: Ohne Neugier, nicht suchend, sondern alles von Anfang an wissend, uns ausstellend. Voyeuristisch. Im Gestus: Guckt mal liebe Kinder, was ich hier wieder Fürchterliches gefunden habe. Kino als Fahrt mit Geisterbahn. Hui, jetzt ham' wir uns aber gegruselt....
Visuell eine Kadrierung am Rand des Ästhetizismus, totale Symmetrie, Ordnung, Leere – Kino eines Kontrollfreaks, der das Zufällige, Unberechenbare zu hassen scheint. Und
der kalkuliert: Einmal kommt Marias Mann in ihr Schlafzimmer, öffnet die Tür zum Bad: Er rollt hinein, wir hören Geräusche, die nur als »pissen« zu deuten sind. Nach langen Sekunden des Zuhörens sehr wir, dass er nur den Wasserhahn betätigt.
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Ist das ein Dokumentarfilm? Darüber diskutierte ich gestern mit Tine und Patricia, den beiden großartigen Damen – Chefin und Assistentin – vom Kopenhagener Filmfestival, das sich auf Doku-Essays spezialisiert hat, und den Begriff derart weit steckt, dass sie wohl auch noch Malicks To the Wonder zeigen könnten. Ich halte Seidl für den Prototyp eines Arthouse-Exploitation-Filmers. seine Filme sind das Intellektuellen-Pendant zu Das Frauengefängnis von Cobra-City, Teil 3, also mit einer gewissen perversen Lust am Abgründigen gedreht. Die Lust immerhin nimmt für Seidl ein, und die Tatsache, dass seine Filme unvergleichlich und unnachahmbar sind.
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Das Schlußlied: »Ach wie flüchtig, ach wie nichtig...«
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»Ulrich« sagt der Filmkritiker, der immer in der ersten Reihe sitzt, wenn er »Seidl« meint. Er erzählt vom Abendessen, dass die Österreicher offenbar so kontrollfreakig ausgerichtet haben, dass noch nicht einmal der Weltvertrieb viel mitreden durfte, »ich dachte da sind nur sieben Leute, und dann waren 120 da. Hätte ich das geahnt, wäre ich nicht hingegangen.« Er scheint persönlich gekränkt durch die Anwesenheit der vielen. »Ich hab' damals die einzige Retro gemacht, die es je zu Seidl gegeben hat.« – »Man fühlt sich immer ein bisschen doof neben Dir« antwortet die Redakteurin.
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Wie ein kleiner feiner Kommentar zu Seidl und eine Antithese wirkt der Kurzfilm, in dem die große Liliana Cavani ein Kloster portraitiert: Ungemein menschlich, man sieht lustige Nonnen, die sehr offen über Glaubenszweifel, Frauenfeindlichkeit und Intellektuellenhass in der katholischen Kirche reden. So geht’s auch!
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Es muss nicht auf Seidl zutreffen und war nicht auf ihn gemünzt, aber im Gespräch mit Alexandra aus Wien entspinnt sich folgender Dialog: Ich: »Ihr tut so, als ob ihr Manieren habt, aber eigentlich habt ihr keine.« Sie: »Ja, das ist unser Geheimnis. Das ist der Charme.«
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Zwei Frauen blicken in einen Apple-Computer, und damit uns an, zusammen mit dem Apple-Logo, das bekanntermaßen angeblich durch jene berühmte Anekdote inspiriert wurde, nach der Isaac Newton das Gravitationsgesetz durch einen fallenden Apfel entdeckt habe. Der angebissene Apfel könnte sich aber doch auch auf die biblische Geschichte vom Baum der Erkenntnis und die Vertreibung aus dem Paradies beziehen, auf den Sündenfall. Im Zusammenhang mit diesem Film, macht diese
Interpretation jedenfalls mehr Sinn.
Das übertrieben offenkundige Product Placement auch, erzählt Brian De Palma hier doch eine Geschichte aus der Welt des Marketing.
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Passion heißt De Palmas neuer Film. Was natürlich als erstes die Frage nahelegt, wer hier denn für wen oder was passioniert sei? In jedem Fall zwei Frauen, zunächst für, dann auch gegeneinander. Christine ist die Blonde (Rachel McAdams), wie im klassischen Film Noir auch hier kalt wie Eis. Eine Werbechfin. Die Dunkelhaarige (Naomi Rapace) ist ihre Assistentin und unsere Sympathieträgerin. Im Zentrum steht die mit allen Mitteln ausgetragene Konkurrenz zwischen den beiden Frauen, um Männer wie um Karriere. Man sieht vor allem dies: Frauen, die die besseren Männer sind, zugleich Hysterikerinnen, am Rande des Nervenzusammenbuchs. und die Chronik einer angekündigten Katastrophe.
Seit jeher fühlt sich De Palma der ehrwürdigen Tradition des Thrillers verpflichtet. Sein neuer Film spielt in Berlin, ist gespickt mit deutschen Darstellern, allen voran Karoline Herfurth. De Palmas großes Vorbild ist seit jeher Alfred Hitchcock und auch der drehte einst mit Der zerrissene Vorhang einen Berlin-Film. Die Themen haben seit 1966 allerdings gewechselt, und statt des
Ost-West-Konflikts nimmt de Palma daher die Abgründe der PR-Branche aufs Korn, die unsere Welt kaputt macht: »Passion« handelt von komplex verstricken Leidenschaften, von Sex and Crime, von Anschein und Wirklichkeit.
Irgendwann wir dann die Blonde Christine brutal ermordet wird, und man verdächtigt gleich auch als Zuschauer die Konkurrentin – und die Wahrheit war eigentlich schon klar, als wir Isabelle nach 10 Minuten beim Fremdgehen erwischten.
Spiele, Überraschungen,
Ideenklau, Treppen und Masken sind so die Leitmotive und Fetische des Films, der grob nach Alain Corneaus Crime d’Amour angelegt wurde.
De Palma inszeniert wie gewohnt sehr relaxed und straight, dabei voller Lust für die eigenen Passionen: Direkte und indirekte Hichtchock-Zitate, und ein paar De Palma-Zitate. Passion ist auch lustig, und der Regisseur gewinnt dem Schauplatz Berlin viele ungewohnte Seiten ab, ohne dauernd Denkmäler abzufilmen um finanzielle »Berlin-Effekte« zu generieren. Passion hat großartige Szenen, Alptraumeffekte. Man merkt allerdings auch, dass die Produktion viel zu wenig Geld hatte: De Palma ist ein Regisseur der Schauwerte, er muss visuell klotzen und protzen können, um als Auteur sichtbar zu werden.
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»Parlez vous francais?« – ich dachte, ich werde nachdem Weg gefragt, sage ja, plötzlich zückt die kleine Dame ein Mikrophon und ich gebe dem französischen Fernsehen ein Interview zu De Palma – auf französisch. Hm. »Citacions de Hitchcock et de soi meme... domage qu'il n'a pas d’argent suffisant...« Wie sich das wohl anhört. »Mais i est un grand auteur!« Genau!
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Manchmal sieht dann alles aus wie ein deutsches Fernsehspiel. Es gibt auch zwei drei Szenen, die sind völlig übertrieben, schlecht gespielt und inszeniert – ein Tatort von De Palma wär allerdings auch mal was.
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Mit Alexeij Balabanow hat De Palma gemeinsam, dass beide nur tun, was ihnen Spaß macht. Me too heißt der neue Film dieses besten russischen Regisseurs. Nach »2raumwohnung« fragt auch er: »Sind wir glücklich? Und wenn ich jetzt sage – was stimmt – der Film wirke, als hätte Dostojewski einen Science-Fiction-Roman geschrieben, dann klingt das viel besser, als es ist: Ein manisch-depressiver Film, den man vielleicht noch mal außerhalb eines Festivals in Ruhe angucken muss.«
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Eine Doppelgängergeschichte und vertauschte Identitäten ist auch der einzige deutsche Beitrag: Du hast es versprochen von Alex Schmidt läuft außer Konkurrenz. Die Regisseurin war bis vor kurzem Studentin in Potsdam, und die Einladung ins Programm von Venedig ist ein toller Erfolg. Am Ende ist ihr Film aber nicht mehr, als solide gemachtes Horrorkino über drei Freundinnen, von denen eine in ihrer Kindheit traumatisiert wurde, und sich an den beiden anderen rächt. Im Gedächtnis bleibt vor allem Mina Tander in einem klugen, ungewöhnlichen Auftritt in der Hauptrolle. Und dass wir das jetzt hinschreiben liegt wirklich nicht nur daran, dass wir mit der leider unter Wert gehandelten Darstellerin gestern in unserer Stammbar »Maleti« sehr angenehm geplaudert haben.
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»Ich hatte große Sympathie für die Bürgerrechtsbewegung, für Widerstand und Protest gegen die US-Regierung. Ich glaube bis heute, dass die einen guten Grund hatten, zu rebellieren.« Wären doch alle Filmemacher auch persönlich so interessant und intelligent wie Robert Redford – dem Kino der Welt, besonders aber dem Hollywoods ginge es besser.
Da saß er gestern nun, wie gewohnt hervorragend aussehend bei der Pressekonferenz im marmornen Casino von Venedig, und blendete mit seinem strahlenden Redfordlächeln und gescheiten Antworten die Weltpresse noch mehr als der Sonnenschein draußen vor der Tür.
Er sprach über Widerstand und politischen Untergrund – »das wird immer passieren, und das ist etwas sehr Gesundes« –; über Gewalt: »Manchmal ist Gewalt eine Option. Auch Schmerz ist Gewalt. Es gibt emotionale
Gewalt«; über den Zustand der USA heute: – »We are such a young country... the opportunity is not equal. ... it is really about the one percent ... Es gibt da den Kampf zweier Seiten des Denkens: Die Angst vor der Veränderung gegen die Einsicht, dass eine Veränderung unvermeidlich ist.« und über die Leute von »The Weather Underground«, jenen nun von ihm portraitierten linken systemgegnern, die vor Gewalt nicht zurückscheuten: »I believe, they had the right ideas. ... they
stood up against hypocracy, ... their cause was a good cause.« Über Generationen: »Every Generation has its moment of discontent. I see the same conditions repeating themselves and the same mistakes repeating themselves.«
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Redford ist nicht allein der für viele immer noch schönste Mann von Hollywood. Er ist auch einer der großen Aktivisten des liberalen Amerika. In seinem neuen Film The Company You Keep reist Redford, der neben der Regie auch die Hauptrolle spielt, zurück in die Erinnerung an die frühen 70er Jahre: »Ich wollte die Geschichte des amerikanischen Untergrunds schon vor über 30 Jahren erzählen.
Damals ging das nicht. Das Thema war zu frisch! Heute ist das alles ein Stück amerikanischer Geschichte.«
Seinerzeit wollten die »Weatherman« die Welt verbessern – eine radikale Untergrundgruppe die für Bürgerrechte und gegen den Vietnam-Krieg kämpfte. Man war pazifistisch, überfiel zwar Banken, und warf Bomben, sorgte aber dafür, dass keine Menschen zu schaden kamen. Bis das einmal doch passierte – der Sündenfall.
Von diesen und anderen realen Geschehnissen ausgehend erzählt Redford eine fiktive Geschichte, um einen Ex-Weatherman, dessen Identität nach 30 Jahren Versteckspiel auffliegt. Er ist zwar an der Tat, für die er gesucht wird unschuldig, will aber das Schweigegelübde der Gruppe nicht brechen. So geht es hier um einen klassischen Gewissenskonflikt: Die Entscheidung zwischen zwei im konkreten fall unvereinbaren moralischen Prinzipien, zwischen Wahrheit und Loyalität.
Redfords Film erinnert atmosphärisch gleich an zwei Werke aus Redfords größter Zeit, der Ära des »New Hollywood«, als Amerika einmal für kurze Zeit gesellschaftskritisches Kino machte: Den Paranoia-Thriller Die drei Tage des Condor und das Watergate-Drama Die Unbestechlichen. Denn auch hier kommt ein junger Journalist vor, der zwischen Wahrheitssuche, Ehrgeiz
und dem, was richtig ist, noch seinen moralischen Kompass finden muss.
Anhand dieser Figur geht es auch um die Zukunft des Journalismus in einer Zeit mit weit weniger Idealismus als damals, in der es wichtiger ist, wer die Story zuerst hat, als woraus sie eigentlich besteht. Es entsteht kein schmeichelhaftes Portrait des Journalismus, sondern das eines Journalismus um jeden Preis: Er besteht aus bestechen, flirten, lügen, blosstellen.
An diesen beiden Hauptfiguren geht es
auch um die Dichotomie zwischen zwei Generationen: Der 68er und der heutigen.
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The Company You Keep ist spannendes, engagiertes, dabei unterhaltend erzähltes Kino, bis in die Nebenrollen gespickt mit Stars, denen Redford jeweils wunderbare Auftritte gibt: Julie Christie, Susan Sarandon, Nick Nolte und viele mehr – Hollywood at it’s best. In Zeiten, in denen auch 11 Jahre nach dem 11 September, Terroristenangst und in deren Gefolge der Sicherheitswahn
den Ton angeben, und sich die Politik Obamas von der des George W. Bush nur graduell unterscheidet, unternimmt Redford eine Ehrenrettung des liberalen Amerika.
Und der Film ist noch mehr als das, nämlich eine faszinierende politische Provokation: Redford zeigt, dass der Staat nicht immer im Recht ist, und die sogenannten Terroristen nicht immer im Unrecht.
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Die einzige doofe Frage an Redford, die nach seiner Frau, kam aus Deutschland, von einer, die sich als ARD-Vertreterin vorstellte. »Your werri biutifull weifff...« – Redfords lustige Zwischenbemerkung: »Don’t believe what see on TV.« Danach wurde die dann richtig politisch: »Sink watt iss häppenink in Amerikkaaa...«
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Einst war Harmony Korine ein Star des US-Independent-Kinos. Er drehte Filme über die übersehenen schmutzigen Ecken seiner Heimat und hielt so den Vereinigten Staaten den Spiegel vor. Die Filme waren gut, aber ehrlich gesagt nicht so, dass man sie sich gern ein zweites Mal anschauen wollte. Erinnern wir uns nur an Gummo, 1998 beim Filmfest München. Ich kenne ein Mädchen, das nach
dem Besuch dieses Films beschlossen hat, niemals Kinder kriegen zu wollen.
Jetzt ist Korine im Wettbewerb um den Goldenen Löwen mit Spring Breakers vertreten und auch hier geht es um Trash – aber im völlig anderen, übertragenen Sinne: Als Inbgriff für die Grenzbereiche der Popkultur, für das was die New Yorker Schriftstellerin Susan Sontag einst in ihrem berühmtesten Essay »Camp«
nannte, also Dinge, die »so schlecht sind, dass sie schon wieder gut sind.«
Spring Breakers ist ein Film, den man sich sehr gern und immer wieder anschauen möchte. Allein schon wegen James Franco, seiner Goldzahnreihe und der Antwort auf die Frage, ob er denn Geld habe: »I am money.« Korine erzählt von Strandparties, leichtem Leben und leichtbekleideten Girls. Die kommen auf den schwachsinnigen Gedanken ein Lebensmittelgeschäft zu überfallen, um sich Geld für ihre »Spring Breaker«-Party zu beschaffen. Dabei lernen sie einen Gangster kennen – eben Franco. Aber nicht diese wunderbar haarsträubend konstruierte Geschichte, die nun erst beginnt, ist die Hauptsache bei Spring Breakers, sondern wie sie erzählt wird: Überbordend und anarchistisch ist Korines Stil, dabei voller Liebe zu seinen Figuren – so gelingt ihm mit dieser ironischen Höllenfahrt durch die Popkultur ein Beispiel für die vielen Möglichkeiten des Kinos einer der bislang ungewöhnlichsten Venedig-Beiträge: Eine Art Pippi Langstrumpf – auf Acid!!
,p class=»oben_xs«>»Bella!, bellissima!!, emozionante!!!; Venedig-Notizen, Teil 4.«
Wir werden unseren Freund und Kupferstecher Dr. Josef Schnelle, pardon: Giuseppe Rapido in Zukunft nur noch Orakel-Jupp nennen. Denn wie im Vorjahr bei Sokurov hatte er auch diesmal erstaunlich früh und sicher vorausgesagt, dass Kim Ki-duk den Hauptpreis gewinnen würde: »Großartig. Goldener Löwe« verkündete die sms gleich nach der ersten Pressevorführung am letzten Montag.
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Venedig trägt man in den Kleidern. Entweder es regnet oder es ist schwül wie im brasilianischen Dschungel. in diesem Jahr war das Wetter jedenfalls nur schwer erträglich. Heute mal wieder Amazonaswetter, Lagunendunst, alles stickt und klebt.
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Die ersten Preise in Venedig sind vergeben: Es ist wie immer der »Bisato d’Oro« (Goldener Aal), der »Premio Maleti«, der der Preis der unabhängigen Filmkritiker, ist womit natürlich keiner sagen möchte, alle anderen seien abhängig. Da wir selbst in der Jury sind, melden wir hier auch einfach das der Preis für die »Beste Regie« an die Argentinierin Jazmin López ging, und der Preis für die beste Darstellerin an Nora Aunor, Hauptdarstellerin in Brillante Medozas leider ansonsten etwas zu glatten Film Sinapupunam. Das war am Freitag vor der Prteisverleihung. Am Samstag dann war alles anders.
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Italien, wie wir es kennen und lieben: Leichtbekleidete Dauerlächel-Moderatorinnen als fleischgewordene Remineszenz an Bunga-Bunga-Land; Moderatoren im Smoking, die vor der Abschlußgala zwei Stunden lang ununterbrochen moderierten, und alles, aber auch alles, was sich da aus den Lancia-Sponsorenboliden schälte, »bella!«, »bellissima!!«, »emozionante!!!« fanden, und Ulrich Seidl fragten: »What is the message of your movie?« (»Meine Filme haben keine Message...«); ein vergessener Preis für einen Kurzfilm (der wurde dann am Abend beim Buffet nachgereicht); ein vertauschter Preis (er wurde dann halt gleich auf offener Bühne zurückgetauscht, wofür Laetizia Casta dann halt mal – »one moment please, there was a little mistake, hihi« – die Preisrede Ulrich Seidls unterbrach. »Gods punishment« lästerten da ein paar angesichts von Seidls massiver Religionskritik). Und auch sonst Pleiten, Pech und Pannen bei der Preisverleihung. Ansonsten gab es noch Lieder am Lido. Und auch die Preisvergabe selbst bot am Samstag eine handfeste Überraschung, als der Präsident der Internationalen Jury, Hollywoodregisseur Michael Mann, den Gewinner des Goldenen Löwen verkündete: »It’s my great pleasure to give the Golden Lion Award to: Kim Ki duk«.
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Als in den letzten Tagen unter den Besuchern der Filmfestspiele von Venedig über die möglichen Sieger spekuliert wurde, hatte kaum einer den Koreaner Kim Ki-duk auf der Rechnung.
Die anderen ausgezeichneten Filme, das prächtige Generationenportrait Après mai vom Franzosen Olivier Assayas, Paul Thomas Andersons The Master, eine verkappte Biographie des Scientology-Gründers L.Ron Hubbard, zugleich die Fortsetzung von Andersons Americana-Epen über Vater-Sohn-Beziehungen und schließlich Ulrich Seidls in ihrer Provokation so kalkulierte, wie in der Inszenierung großartig enervierende Katholizismus-Groteske Paradies: Glaube – sie alle hatte
man unter den Favoriten gesehen. Und das es auch einen italienischen Sieger geben würde, das gebot allein schon die Höflichkeit gegenüber den Gastgebern.
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Aber ausgerechnet Kim Ki Duk! Mehr als einmal war die Regiekarriere des Koreaners schon am Ende. In seinem eigenen Land war er immer ein Außenseiter. Die Koreaner mögen Kim nicht, sie unterstellen ihm Kalkül und finden seine Filme so wenig intelligent wie stillos. Und wer die letzten Werke von Kim, der jährlich mindestens einen Film dreht, gesehen hatte, alles, was etwa seit 2005 auf Festivals lief, musste den Kritikern recht geben: Zu manieriert waren diese Filme, und hatten nichts
zu sagen – ganz anders, als so viele andere Werke aus dem »Land der Morgenstille«.
Kim war am Ende. Er trank zuviel, erlitt psychische Zusammenbrüche und konnte nicht mehr drehen. Doch im letzten Jahr kam Arirang und mit diesem Film zog sich Kim wieder einmal selber aus dem Sumpf: Ein Dokumentarfilm über die eigene Schaffenskrise, in der man nur Kim allein in seiner bescheidenen
Provinzhütte sieht, beim Feuermachen, Kochen, Schlafen, und beim Lamentieren über die eigene Lage. Damit drehte Kim, der Maler begonnen hat, auch ein filmisches Selbstportrait in der Tradition der Alten Meister. Als Münchhausen des Kinos findet Kim offenbar die Kraft zu einem Neubeginn – und so sang er denn vor der versammelten Weltpresse das koreanische Volkslied Arirang.
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Hat er den Preis verdient? Ich kenne außer Giuseppe Rapido keinen, der den Preis angemessen findet. Kims Siegerfilm Pieta ist trotz seines Titels eine sehr weltliche Rachegeschichte, bei der eine Mutter einen zynischen Schuldeneintreiber für den Tod ihres Sohnes bestraft. Die vom Koreaner ungewohnte Arthouse-Variante eines Exploitation-Films – nicht wenigen schien deren so unnötige
wie explizite Gewaltdarstellung vor allem den Zuschauern gegenüber sadistisch. Kim mischt Elemente verschiedener koreanischer Erfolgsfilme der Konkurenten miteinander – auf schlechte, aber für westliche Geschmäcker konsumierbare Weise. Kulinarisches kino a la Korea.
Ich finde: Wer Kim für diesen Film einen Preis gibt, hat dessen Gesamtwerk nicht präsent, und auch nicht das von Park Chan-wook und Kim Jee-woon. Ich selbst mochte Kim ki-duk früher, besonders Address Unknown und The Isle, finde aber, das seine Filme spätestens nach Bin-Jip langweilig wurden. Aber offenbar war Pieta
im Gegensatz zu anderen mehrheitsfähig – in einer Jury, die sichtbar miteinander gestritten hat: Zu deutlich waren die Unterschiede zwischen den prämierten Filmen.
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Was wirklich blöd ist: Die drei Hauptpreise bekommen genau die drei selbstbesoffensten Regisseure des Wettbewerbs. wieder einmal bewahrheiten sich so zwei Bauernregeln: Die erste lautet: Je besser die Jury, um so schlechter die Preise. Die stimmt nicht immer, in Cannes 2009 und 2011 wurde sie widerlegt. Die zweite lautet, und sie stimmt immer: In Venedig gewinnen immer die falschen Filme. Davon kann sich jeder selbst überzeugen.
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Mehrere Tage lang war das dominierende Thema bei den Filmfestspielen von Venedig klar: Innenansichten von Glaube und Religion, vor allem in ihrer strengeren Variante. Und so blicken wir besonders sensibilisiert noch auf jede kleine depperte Religionsanspielung. Oder auf einen Moment wie diesen, in dem Alba Rohrwacher, die Haupt- nicht aber Titelfigur in Marco Bellocchios Wettbewerbsbeitrag Bella Addormentata (»Schlafende Schönheit«) mit einem Mann ins Bett geht, den sie gerade am Morgen kennengelernt hat. Sie spielt in diesem Sterbehilfedrama eine gläubige Katholikin, die auch noch Maria heißt, und gegen Euthanasie protestiert, und nun mit einem Mann schläft, der auf der Gegenseite für Freiheit und Laizismus demonstriert. bevor sie den Geliebten umarmt, dreht sie ihre Halskette um, das daran befestigte Kreuz hängt nun an ihrem Rücken. Das ist die Art Kitsch, in diesem Fall Religionskitsch, bei der Bellocchio, einst ein linker, hochpolitischer und gesellschaftskritischer Filmemacher mittlerweile angekommen ist. Bella Addormentata ist eine gut besetzte, nervtötende und völlig überflüssige Quälerei – am siebten Festivalmorgen, an dem alle schon etwas in den Seilen hängen, nur noch schwer erträglich.
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Mit dem neuen Leiter Alberto Barbera ist in Venedig Ordnung eingekehrt, angenehme Normalität, die auch etwas Langweiliges hat. Keine Mitternachtsfilme mehr, kein Chinesen-Stars im doppelten Dutzend, keine Bunga-Bunga-Stimmung. Dafür zieht sich ein leicht staatstragender Zug durchs Programm. Die interessanteren Filme warten wieder in den »Orrizonti«
So ging am Samstag ein insgesamt gutes, aber keinesfalls überragendes Festival zuende, in dem die Themenfilme deutlich das
Interesse an der Form, am Experiment und künstlerischer Innovation überwogen. Inhaltlich ging es um Glaube und facettenreiche Innenansichten von Religion, um das Erbe von 1968, und die sehr aktuelle Frage, wann Widerstand gerechtfertigt sein kann. Die Geschichten waren spannend und auch politisch brisant, während ästhetisch das Kino hier kein Film neu erfunden hat.
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Barbera kann also einigermaßen zufrieden sein. Der Neuanfang ist geglückt. Aber ob er wirklich etwas von Programmierung versteht? Das Festival war gut, es war viel los, zugleich plätscherte alles so dahin. Es gab keine rechte Dramaturgie, außer ein paar Äußerlichkeiten: Amerikaner am Anfang und am Ende, dazwischen Asiaten und Europäer. Oder: Religion am Anfang, dann die Frage nach dem Erbe von 1968.
Und die Baustellen sind nicht zu übersehen. Vom gescheiterten Bau des
Festivalpalasts ist nur ein großes doppeltes Loch geblieben – in der Erde und finanziell. Und der mit großem Aplomb verkündete Markt war ein Reinfall. In dunklen überklimatisierten Räumen saßen die Händler und holten sich statt neuen Aufträgen nur eine Erkältung.
So muss sich Venedig noch mehr einfallen lassen, um die Konkurrenz weiter auf Distanz zu halten. Bisher ist das Alleinstellungsmerkmal vor allem die dekadente Schönheit der Lagunenstadt, das aber durch überteuerte Hotels und Logistikpannen mehr als ausgeglichen wird. Die inneritalienische Konkurrenz scharrt bereits mit den Füßen: Im November findet in Rom das zweite große Festival Italiens statt. Rom hat Geld und umgarnt die Produzenten mit geradezu luxeriösen Bedingungen – und sein neuer Direktor ist ein alter Bekannter: Barberas Venedig-Vorgänger Marco Müller. Er wird sich gestern, wegen der Preise und wegen der Pannen, die Hände gerieben haben.