63. Berlinale 2013
Der aus der Kloschüssel trinkt |
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Birol Ünel – Remake oder Original? |
Von Felicitas Hübner
Berlinale 2012:
Der Schauspieler Birol Ünel sollte lesen. Die Texte von Miron Zownir. Ünel sollte die Texte lesen, die Zownir in Cut-Up-Technik geschrieben hatte. Einer der bekannteren Protagonisten der Cut-Up-Schreibtechnik ist der US-amerikanische Schriftsteller William S. Burroughs. Die Lesung sollte während der »Directors Lounge 8« im »Naherholung Sternchen« in Berlin-Mitte stattfinden. Das »Naherholung Sternchen« ist ein Wohngebietsklub aus DDR-Zeiten.
Direkt hinter dem Kino International in der Karl-Marx-Allee gelegen, bietet es dem Medien- und Filmfestival Unterschlupf.
Doch Birol Ünel konnte an jenem Abend während der Berlinale im Februar 2012 nicht lesen. Er hatte seine Lesebrille nicht dabei. In einer prompt durchgeführten Publikumsumfrage fanden sich Augengläser mit der richtigen Dioptrien-Zahl. Ünel wurde die Brille auf die Nase geschoben, auf die Bühne gesetzt und das Manuskript in die Hand gedrückt. Als nächstes Lesehindernis erwies sich der Promille-Gehalt des Schauspielers. Er mühte sich, er mühte sich wirklich. Weil er sich am Ende eines Textes nicht immer erinnern konnte, dass er ihn bereits gelesen hatte, las er ihn eben noch mal vor. Die Art seines Vortrags passte tatsächlich ganz gut zur Cut-Up-Idee. Vielleicht hätte es auch Burroughs gefallen.
Die Ünel zur Seite gestellten Musiker machten anfangs noch freundliche Miene zum enervierenden Spiel. Miron Zownir bangte um seinen Abend und um seinen Star. Ünel stotterte zwar, verlas sich, verließ die Bühne, schwieg, trank Weißwein. Doch Zownir umgarnte seinen Vorleser, feuerte ihn an und gipfelte in dem Versprechen, die Musiker würden Birols Vortrag von nun an nicht mehr »unterbrechen«. Birol Ünel war sich seiner Bedeutung bewusst und lebte dieses selbstbewusst auf der Bühne aus. Die geborgte Lesebrille rutschte, die Brille fiel runter, die Brille hielt alles aus. Doch zwei Personen im Publikum beobachteten dieses mit bangem Grauen: Die, die die Brille organisiert hatte, und die, der die Brille gehörte.
Birol Ünel las weiter. Er griff sich einen neuen Text und verkündete, von nun an »querlesen« zu wollen. Das Publikum rief, dass er das schon die ganze Zeit täte.
Die Brillenbesitzerin und Verfasserin dieses Textes konnte ihre Lesehilfe am Ende des Abends unbeschadet aus einer Weißweinlache retten.
Ein Jahr später.
Berlinale 2013:
Weil ein betrunkener, berühmter Mann ein schönes Sujet bietet, kam der Autor Miron Zownir auf die Idee, den legendären Abend zu verfilmen. Der Film trägt den aussagekräftigen Titel Absturz und hatte während der Berlinale in der »Directors Lounge 9« am 10. Februar 2013 im »Naherholung Sternchen« seine Weltpremiere. Hauptdarsteller Birol Ünel as himself. Das Publikum teils echt, teils aus befreundeten Kulturbiotopen
rekrutiert. So durfte zum Beispiel der Elektropunker und Vertreter des modernen Arbeiterliedes Rummelsnuff mitspielen.
Um die Lesung der besonderen Art wurde eine 19-minütige Geschichte gesponnen, die der beeindruckenden Absurdität des Originals nicht gerecht wurde. Birol Ünel kraucht sturzbetrunken auf den Bodenkacheln des Männerklos herum. Seine alkoholisierte Kehle labt er mit frischem Wasser aus dem Stehpinkelbecken.
Da betritt eine Putzfrau die Szene. Die türkische Fachkraft für Raumpflegeangelegenheiten ist jung, hübsch, trägt kein Kopftuch und spricht ganz gut Deutsch, aber mit Akzent. Vielleicht soll sie des Filmemachers Alter Ego sein. Mit einer bereits vertrauten Begeisterung stürzt sie dem sich auf der Toilette sitzend erholenden Trunkenbold entgegen. Sie hat den Star aus Fatih Akins Gegen die Wand sofort erkannt. Der Deutsch-Türke Ünel, Träger des Deutschen Filmpreises 2004, reagiert mit divenhafter Schnoddrigkeit …
Eines der wichtigsten Requisiten des Originalabends – die Lesebrille – kam im Remake nicht vor.