63. Berlinale 2013
Höhepunkte zumeist fern des Wettbewerbs |
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Narco cultura: Töten für die Droge |
Von Dieter Wieczorek
An Zuschauern mangelt es nicht in Berlin. Erneut stiegen die stolz verkündeten Ziffern. Doch jedes Plus hat seinen Preis. Und wenn nach Ablauf der Hälfte des Festivalprogramms noch immer keinen Favoriten für den Goldenen Bär sich abzeichnete, ist das nicht unbedingt ein gutes Zeichen. Selbst am Ende gab es zwar einen Gewinner, aber keinen favorisierten Film, der das Festival markiert, kein Werk, das durch unbestreitbare Innovationskraft oder Überraschungspotenziale überzeugt hatte. So ging der Hautpreis an Calin Peter Netzers Familiendrama Child Prose (Pozitia copilului). Das rumänische Werk folgt der Konfrontation einer überdominanten Mutter, Protagonist der korruptionsgewohnten Oberschicht, mit ihrem verzogenen, letztlich profillosen Sohn, der diese einerseits zurück stösst, andererseits auf sie angewiesen ist in seiner Krise, tötete er als Trunkener am Steuer mit erhöhter Geschwindigkeit ein Kind. Die Mutter – da herrscht wieder Einigkeit – muss es schon richten. Gewiss ist auf den zweiten Blick Netzers Werk auch die Geschichte einer Familie mit Kommunikationsbarrieren in einer maroden Gesellschaft, wo man gewöhnt ist, kaufen zu können, was man braucht, Zeugenaussagen eingeschlossen; gewiss auch eine Wiederaufnahme des Schuld-und-Sühne-Motivs im seinem letzten Abschnitt, da angesichts des Schmerzes der religiösen Eltern des Unfallopfers Rhetorik und Gestik der Machbarkeit doch versagen. Dagegen sehen sich Mutter und Sohn mit ihrem eigenen entgleisten Lebensformen konfrontiert. Gewiss bot Ingmar Bergman u. a. eine solche Problematik überzeugender und kondensierter. Aber das Kino, das sich quantitativ gross will, verlangt seine Verseichtungsopfer.
Positiv aus dem Rahmen fiel dagegen der kasachtanisch-deutsche Beitrag Harmony Lessons (Uroki Garmonii) von Emir Beigazin, ein Werk asketisch reduzierten Bildsprache ohne jede Rhetorik, dass sich auf die simpelsten, eindringlichsten Gesten konzentriert. Hier wird ein unter Kontrollzwang stehender, von Selbstzweifeln gezeichneter Jugendlicher mit den brutalen Mechanismus sozialer Ausgrenzung konfrontiert, bis hin zur Gefängnisfolter. In apathischer Ferne zum eigenen Körper erleidet der Jugendliche schuldlos seine Pein, ohne sich zur Wehr zu setzen. Eingespielte Szenen aus der Tier- und Insektenwelt transponieren das spezifische soziale Spektakel in eine anthropologisch-metaphysischen Dimension: der Konfrontation des kommunikationsentblössten Individuums mit gesellschaftlichen Mechanismen der Machtausübung. Den Willen zu einer eigenwilligen, cinematographischen Handschrift wird man Beigazin nicht ansprechen können.
Auch Ulrich Seidls Hoffnung, letztes Element seiner Paradies-Trilogie, gehört gewiss in diese Kategorie. Vielleicht weniger provokativ wie die in Kenia auf Liebes- und Sexsuche vagabundierten Mutter (Liebe:) 2012, präsentiert in Cannes und der selbstgeisslerischen, erotisch auf Jesus fixierten Tante Glaube: 2012 in Venedig wird hier die zur gleichen Zeit statthabende Lebensphase der Tochter eingespielt. Eingepfercht in ein steriles, disziplinsfanatisches Internat für übergewichtige Jugendliche versucht die junge Frau hilflos die Aufmerksamkeit eines egomanischen Lehrers für sich zu gewinnen, eines heuchlerischer Borderlinekandidaten zwischen Lust und Versagung, Regel und Provokation, Verführer und Strafender zugleich. Die junge Frau greift zu immer extrovertierteren Mitteln der Selbstentblößung in diesem an ein Marionettentheater gemahnendes Ambiente.
Die Berlinale ist unten den großen A-Festivals nach wie vor der Ort, wo mit eindringlichen Dokumentarfilmen zu rechnen ist. Gleich drei Beiträge behandeln den professionalisierten Auftragsmord, der das Ende der Zivilgesellschaft markiert.
In Mexiko wird die Mordorganisation der Narcos mittlerweile von der heimischen Jugend abgefeiert. Junge Frauen begehren diese Männer als Partner. Ungestört können diese ihre Horrortaten in eigenen Songs verherrlichen, die massenhaft Absatz finden, auch in den anfänglich noch zögernden Radiostationen. Selbst über Polizeifunk werden ihre Werbespots »gesendet. Zentrum der Gewaltszene in Narco cultura ist die mexikanisch-amerikanische Grenze zwischen Ciudad Juárez, Ort der höchsten Mordrate Mexikos, und El Paso auf der us-amerikanischen Seite. Diese Movimiento Alterado Bewegung ist das Endprodukt einer Gesellschaft ohne wirksame Kontrollmechanismen, in der eine korrupte Polizei, unbehindert von machtlosen Realpolitik mit dem Mördergeschäft kollaboriert. Es scheint, dass in diesem Ambiente extremer Schutzlosigkeit der bekannte Mechanismus der Identifikation mit dem Aggressor seine fruchtbarsten Blüten treibt. Der Wille zur Selbstfeier der eigenen Kultur ist auch die Basis, die es dem Fotojournalisten Shaol Schwarz erlaubte, sich in diese gefährliche Szene zu infiltrieren, gewiss ohne zu viel Fragen zu stellen. So konnte dieses unglaubliche Dokument entstehen, das eine der – greifen die Notbremsen nicht schnell genug – nicht unwahrscheinlichsten Variante zukünftiger Gesellschaften weit über Mexiko hinaus zur Schau stellt. Nur eines ist prachtvoll in dieser Welt: die Friedhöfe, deren Gebäude oft reicher ausgestattet sind als übliche Wohnhäuser.«
In Indonesien wurden nach dem Militärputsch 1965 von Paramilitärs und angeworbenen Kriminellen über eine Million Nichtkonformer unter »Kommunistenverdacht« gestellt und umgebracht. Joshua Oppenhaimer wählt in seiner dänisch-norwegisch-grossbritischen Koproduktion The Act of Killing die Form der schauspielerischen Nachstellung der Mordszenarien, um den Tätern, bis heute in Amt und Ehre, nahe zu kommen. Begeistert folgen diese der Einladung zu – wie sie glauben – Filmstars zu werden und ihre effizienten Mord- und Foltermethoden selbst darzustellen. Bis heute sehen sie sich als Free Men, die auf eigenes Konto arbeiten und gleichzeitig vom Staat geschützt werden. Während der Dreharbeiten sind unter den Auftragskillern die unterschiedlichsten Reaktionen zu beobachten, die das eigentliche Zentrum des Filmes bilden: von narzisstischen Selbstverhärtung bis hin zu Spuren der Gewahrwerdens der eigenen Unmenschlichkeit und Schuld.
Auch die antibaskische Untergrundsorganisation GAU betreibt Auftragsmord als Tagesgeschäft. Einer ihrer Kollaborateure sieht man in Salomé Lamas im Berliner Forum-Programm platzierten Film No Man’s Land (Terra de ninguém) auf einem Stuhl sitzend minuziös seine Taten berichtend. Horrorszenen gehen Hand in Hand mit luziden Reflexionen zu politischen Zusammenhängen. An Witzen und Sprüchen mangelt es nicht. Der Mann mit CIA Vergangenheit in El Salvador und Erfahrungen in den Elitekommandos der Kolonialkriege in Mosambik und Angola weiß, wovon er spricht. Lamas nummeriert seine Aussagen als Reflexionsmaterial. Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, Selbststilisierung, Bekenntnis und Verdrängung verschwimmen, der Dokumentarfilm integriert die Reflexion seiner eigenen Grenzen. Die Interviews finden in einem abgeschatteten Raum statt. Nur selten tritt der Protagonist ins Freie, wie in eine andere, mögliche Welt. Am Ende sieht man ihn in seine aktuelle Clochardexistenz zurück kehren, unter einer Brücke in einer Hütte hausend. Bald darauf, so die Regisseurin, verlor sie den Kontakt zu ihm. No Man’s Land ist ein Werk, das Fragen aufwirft, nicht zuletzt zu den unhintergehbaren Fiktionalisationsgraden der »Realitätsdarstellung«, immer dann, wenn Kommentare oder Zeugenaussagen einfliessen.
TPB AFK : The Pirate Bay – Away From Keyboard – ist der Titel eines lang erwarteten Beitrags über die weltweit größte Tauschbörse des Internets. Der gebührenfreie Austausch von Filmen und Musik trifft den Nerv des weltweiten Kommerzes. Entsprechend hart die Reaktionen (nicht nur) Hollywoods, das mobil macht gegen die Technofreaks. Der Dokumentarfilm Simon Kloses geht eher den Persönlichkeitsprofilen der Hauptakteure nach, als dem soziopolitischen Phänomen. Er bringt junge Männer ins Bild, die in Dimensionen technischer Machbarkeit denken, Heimatlose, latent weltfremd und oft politisch unbedarft, körperlich zumeist schwächlich, kaum profitorientiert, stets schlichte Genies in ihrem Bereich, die am Sachverstand der Gerichte, die über sie urteilen, verzweifeln. Und selbst wenn die Gerichte kaum Gründe zu massiven Bestrafung finden, da kein Bereicherungsmotiv unterstellt werden kann, finden sich die Protagonisten, von Verhandlung zu Verhandlung gefordert, doch in einer Art Zeitgefängnis. Auch Interpol nimmt sich ihrer gerne an, planen sie einen Ausstieg, etwa in Asien. Die Herausforderer des Systems zahlen einen hohen Preis. Als Simon Klose während der Premiere auf der Berlinale von einem smarten Zuschauer gefragt wurde, wie er es denn selbst mit den Filmrechten hielte, antworte er schlicht, das der Film schon seit seiner Erst-Präsentation am Vortrag auf Youtube und anderen Foren integral einsehbar sei, die Reaktionen der Zuschauer im Saal mit eingeschlossen. Konsequent !
Die in diesem Jahr besonders fruchtbare Forumsektion bot noch eine Reihe anderer hervorzuhebender, formbewusster Werke. Der legendäre „Unabomber“ Ted Kaczynki, der Schlüsselfiguren der amerikanischen Wirtschaft mit Briefbomben angriff, um gegen die programmierten Katastrophen anzukämpfen, die das Geldkapitalsystem verursacht, ist abwesenden Zentrum in James Bennings (USA) experimentellen Dokumentarfilm Stemple Pass. Seine Tagebuchaufzeichnungen erklingen im Off. Die Kamera zeigt lediglich eine Waldlandschaft mit der rekonstruierten Hütte, in die sich Kaczynki über Jahre hinweg zurückgezogen hatte. Dort entwickelte seine Theorie und bereitete seine Anschläge vor. Die Kamera folgt geduldig den Jahresrhythmus der Natur in vier stillstehenden Einstellungen, teils in Harmonie, teils in Diskrepanz mit den erklingenden Reflexionen. Im ersten Teil kreisen diese noch um reine Natur- und Alltagsbeobachtungen. Im weiteren Verlauf fliessen dann immer mehr auch die radikalen Theoriefragmente Kaczynki ein, die an Theoreme der Frankfurter Schule erinnern, auch wenn sie zu anderen Konklusionen kommen. Der virulente, kondentierte Gedankenfluss steht in fremdartigen Kontrast mit der scheinbar unbewegten Natur, die einer anderen ontologischen Zone anzugehören scheint.
Zurück in die 80ger Jahre, in die Zeit der Anfänge der künstlichen Intelligenz und der Konfrontation zwischen menschlichem Geist und Maschine, wenn auch beschränkt auf die 64-Feldern des Schachspiels, versetzt den Zuschauer der US-Amerikaner Andrew Bujalskis. In seinem detailfreudigen Werk Computer Chess, gedreht mit einer zeitgenössischen Sony-Schwarzweiß-Videokamera, gelingt Bujalski auch ästhetisch die Rekonstruktion des emotional-sozialen Stands der Dinge zwischen Technoeuphorie und Spezialistendünkel, philosophischer Spekulation und harter Wettbewerbskonkurrenz. Selbst Anklänge an die aufkommende sexuelle Befreiungsbewegung fliessen ein, in Form einer sexorientierten Selbstfindungsgruppe, die sich im gleichen Hotel wie die Schachfreaks niederlässt. Wie ein authentisches Dokument einer verloren Zeit wirkt dieses aussergewöhnliche Werk voller skurriler Figuren, das mit Humor und Ernst den ausweglosen Kampf gegen die Kalkulationskapazität der Maschine nachzeichnet.
Die Schlüsselfigur des brasilianischen Avantgardebewegung, Hélio Oiticia, ist Zentrum des gleichnamigen Filmes seines Neffen César Oiticia Filho. In Form von Found-Footage und Dokumentarfilm-Fragment wird das Leben des eigentlichen Begründers der Tropiciána-Bewegung nachgezeichnet, dessen Schaffen Gemälde, Photographien, Skulpturen und Installationskunst ebenso einschloss wie Tanz und Filmkunst. Zugleich virulenter Rebell an der Homosexualitäts- wie an der Drogenkulturfront, transformiert sich das Porträt Hélios zu einem faszinierenden Spektrum einer der virulentesten Phasen der brasilianischen Kulturgeschichte. Das reiche, assoziative und wohl recherchierte Bildmaterial wurde in Berlin mit dem Caligari-Preis gewürdigt.
Der Grenzfluss zwischen Indien und Bangladesch ist Schauplatz des improvisierten Überlebens. Auf einer hier entstandenen, lediglich aus Sand bestehenden Insel flüchteten sich die Bewohner einer benachbarten, gefluteten Ortschaft. Schmugglergeschäfte sichern die notwendigsten Einkünfte. In dieser zukunftslosen Situation beobachtet Sourav Sarangi in Char... The No Man?s Land (...Moddhikhane Char) über Jahre hinweg die Heimatlosen, die sich als Stellhalter globaler Expatisierung und Delokalisation lesen lassen. Lassen sich bei den Heranwachsenden noch Spuren von Lebenskraft und Hoffnung aufspüren, hat sich das Leben der Erwachsen reduziert auf Fatalismus und alltägliche Zwangsrituale.
Eine Extremsituation ist Thema auch des indischen Dokumentarfilms Powerless von Fahad Mustafa undDeepti Kakkar. Stromausfälle sind in Hauptstadt Kanpur an der Tagesordnung. Chaotischer könnte das Kabelgewirr und die dadurch verursachten permanenten Kurzschlüsse kaum sein. Schwarzleitungen allüberall. Der Rebell Lal Singh hat sich zur Aufgabe gemacht, die Verarmten zu versorgen. Die Vorsitzende des Energiekonzern Kesco sucht nach offizielleren Lösungen. Beide sind mit nahezu unkontrollierbaren Problemen konfrontiert, in der die Korruptionsmechanismen der indischen Gesellschaft deutlich werden. Angesichts der Problematik der Stromversorgung schaffen die Filmemacher das beeindruckendes Bild einer anarchischen Gesellschaft wider Willen, die an ihrer eigenen Dekomposition arbeitet. Und doch scheint in dem Kabelwirrwarr noch etwas wie Lebenslust auf, die Freunde an sprühenden Funken und Lebensimprovisationskunst.
Wesentlich stiller geht es in Massimo d’Alolfi und Marina Parentis meditativen Dokumentarfilm Materia Oscura zu, der eine auf den ersten Blick idyllische Landschaft ins Bild bringt, die sich auf den zweiten Blick als durch und durch marode und verpestet entpuppt. Die sardinische Region Salto di Quirra ist seit 1956 Waffenerprobungsstandort. Zerstörte Gerätschaften, Munition und verrotteten Müll werden von den Filmemachern minuziös, leise und kommentarlos gesichtet. Zutiefst berührt, dass sich selbst an diesem Ort einige Farmer durch Land- und Tierwirtschaft zu behaupten versuchen, in einem fast aussichtslosen Kampf gegen die Umweltzerstörung. So zeigen die Filmemacher beispielsweise Bilder lebensunfähig geborener Kälber, die trotz sorgsamen Pflege und Sonderbehandlung dahinsiechen und krepieren. Die intensiven Blicke der verkerbten Gesichter der Einwohnen wirken wie Mahnung und zugleich Abgesang einer Menschheit auf verlorenem Posten angesichts der funktionierenden Kriegswirtschaft. Materia Oscura ist ein Werk ohne Kommentar und Informationszugabe, von einigen dokumentarischen Bildern der Militärarchive abgesehen. Gerade so wirken die Bilder wie die Sprache des kranken Körpers der Landschaft selbst.
Nach jahrelangen Ausflügen in die Welt vitaler Absurditäten und des performativen Spiel mit verspielten Sinn, Hintersinn und Unsinn kehrt der Schweizer Peter Lichti in sein Elterhaus zurück, um hier mit einem noch nachhaltigerem Irrsinn aufzuspüren. Sein in Vaters Garten – Die Liebe meiner Eltern porträtiertes Elternpaar wirkt auf den großstädtischen Zuschauer wie ein Fossil aus vergangenen Zeiten. Zwischen Bigotterie und Lebensentsagung werden hier alte Rollenmuster knallhart durchlebt. Hölle, Himmels und der liebe Gott sind hier Begriffe ohne Metaphernsinn, unangezweifelte Dimensionen der eigenen Daseinsdeutung. Die Eltern Lichtis führten ein nicht wirklich glückliches, aber ruhiges Leben, ein Leben ohne Alternative in einer Welt, wo Werte nicht diskutiert, sondern geteilt werden. Bedrückend und berührend wirkt diesen Paar in seinem Verzichtsgestus, nie mehr gewollt zu haben vom Leben. Lichti nähert sich ihnen vorsichtig an, gewiss mit Humor, aber auf Polemik, Überheblichkeit oder Kommentardistanz. Er lässt das Paar selber sprechen und nachwirken. So entsteht ein eindingliches Porträt einer Welt am Rand des Schwindens.