28.03.2013
63. Berlinale 2013

Höhe­punkte zumeist fern des Wett­be­werbs

Narco cultura
Narco cultura: Töten für die Droge

Höhepunkte zumeist fern des Wettbewerbs – Eine Festivalbilanz

Von Dieter Wieczorek

An Zuschauern mangelt es nicht in Berlin. Erneut stiegen die stolz verkün­deten Ziffern. Doch jedes Plus hat seinen Preis. Und wenn nach Ablauf der Hälfte des Festi­val­pro­gramms noch immer keinen Favoriten für den Goldenen Bär sich abzeich­nete, ist das nicht unbedingt ein gutes Zeichen. Selbst am Ende gab es zwar einen Gewinner, aber keinen favo­ri­sierten Film, der das Festival markiert, kein Werk, das durch unbe­streit­bare Inno­va­ti­ons­kraft oder Über­ra­schungs­po­ten­ziale überzeugt hatte. So ging der Hautpreis an Calin Peter Netzers Fami­li­en­drama Child Prose (Pozitia copilului). Das rumä­ni­sche Werk folgt der Konfron­ta­tion einer über­do­mi­nanten Mutter, Prot­ago­nist der korrup­ti­ons­ge­wohnten Ober­schicht, mit ihrem verzo­genen, letztlich profil­losen Sohn, der diese einer­seits zurück stösst, ande­rer­seits auf sie ange­wiesen ist in seiner Krise, tötete er als Trunkener am Steuer mit erhöhter Geschwin­dig­keit ein Kind. Die Mutter – da herrscht wieder Einigkeit – muss es schon richten. Gewiss ist auf den zweiten Blick Netzers Werk auch die Geschichte einer Familie mit Kommu­ni­ka­ti­ons­bar­rieren in einer maroden Gesell­schaft, wo man gewöhnt ist, kaufen zu können, was man braucht, Zeugen­aus­sagen einge­schlossen; gewiss auch eine Wieder­auf­nahme des Schuld-und-Sühne-Motivs im seinem letzten Abschnitt, da ange­sichts des Schmerzes der reli­giösen Eltern des Unfall­op­fers Rhetorik und Gestik der Mach­bar­keit doch versagen. Dagegen sehen sich Mutter und Sohn mit ihrem eigenen entgleisten Lebens­formen konfron­tiert. Gewiss bot Ingmar Bergman u. a. eine solche Proble­matik über­zeu­gender und konden­sierter. Aber das Kino, das sich quan­ti­tativ gross will, verlangt seine Vers­eich­tungs­opfer.

Positiv aus dem Rahmen fiel dagegen der kasach­tanisch-deutsche Beitrag Harmony Lessons (Uroki Garmonii) von Emir Beigazin, ein Werk asketisch redu­zierten Bild­sprache ohne jede Rhetorik, dass sich auf die simpelsten, eindring­lichsten Gesten konzen­triert. Hier wird ein unter Kontroll­zwang stehender, von Selbst­zwei­feln gezeich­neter Jugend­li­cher mit den brutalen Mecha­nismus sozialer Ausgren­zung konfron­tiert, bis hin zur Gefäng­nis­folter. In apathi­scher Ferne zum eigenen Körper erleidet der Jugend­liche schuldlos seine Pein, ohne sich zur Wehr zu setzen. Einge­spielte Szenen aus der Tier- und Insek­ten­welt trans­po­nieren das spezi­fi­sche soziale Spektakel in eine anthro­po­lo­gisch-meta­phy­si­schen Dimension: der Konfron­ta­tion des kommu­ni­ka­ti­ons­ent­blössten Indi­vi­duums mit gesell­schaft­li­chen Mecha­nismen der Macht­ausü­bung. Den Willen zu einer eigen­wil­ligen, cine­ma­to­gra­phi­schen Hand­schrift wird man Beigazin nicht anspre­chen können.

Auch Ulrich Seidls Hoffnung, letztes Element seiner Paradies-Trilogie, gehört gewiss in diese Kategorie. Viel­leicht weniger provo­kativ wie die in Kenia auf Liebes- und Sexsuche vaga­bun­dierten Mutter (Liebe:) 2012, präsen­tiert in Cannes und der selbst­geiss­le­ri­schen, erotisch auf Jesus fixierten Tante Glaube: 2012 in Venedig wird hier die zur gleichen Zeit statt­ha­bende Lebens­phase der Tochter einge­spielt. Einge­pfercht in ein steriles, diszi­plins­fa­na­ti­sches Internat für über­ge­wich­tige Jugend­liche versucht die junge Frau hilflos die Aufmerk­sam­keit eines egoma­ni­schen Lehrers für sich zu gewinnen, eines heuch­le­ri­scher Border­li­ne­kan­di­daten zwischen Lust und Versagung, Regel und Provo­ka­tion, Verführer und Stra­fender zugleich. Die junge Frau greift zu immer extro­ver­tier­teren Mitteln der Selbst­ent­blößung in diesem an ein Mario­net­ten­theater gemah­nendes Ambiente.

Der doku­men­ta­ri­sche Schwer­punkt : Auto­ma­ti­siertes Töten auf Auftrags­killer

Die Berlinale ist unten den großen A-Festivals nach wie vor der Ort, wo mit eindring­li­chen Doku­men­tar­filmen zu rechnen ist. Gleich drei Beiträge behandeln den profes­sio­na­li­sierten Auftrags­mord, der das Ende der Zivil­ge­sell­schaft markiert.

In Mexiko wird die Mord­or­ga­ni­sa­tion der Narcos mitt­ler­weile von der heimi­schen Jugend abge­feiert. Junge Frauen begehren diese Männer als Partner. Ungestört können diese ihre Horror­taten in eigenen Songs verherr­li­chen, die massen­haft Absatz finden, auch in den anfäng­lich noch zögernden Radio­sta­tionen. Selbst über Poli­zei­funk werden ihre Werbe­spots »gesendet. Zentrum der Gewalt­szene in Narco cultura ist die mexi­ka­nisch-ameri­ka­ni­sche Grenze zwischen Ciudad Juárez, Ort der höchsten Mordrate Mexikos, und El Paso auf der us-ameri­ka­ni­schen Seite. Diese Movi­mi­ento Alterado Bewegung ist das Endpro­dukt einer Gesell­schaft ohne wirksame Kontroll­me­cha­nismen, in der eine korrupte Polizei, unbe­hin­dert von macht­losen Real­po­litik mit dem Mörder­ge­schäft kolla­bo­riert. Es scheint, dass in diesem Ambiente extremer Schutz­lo­sig­keit der bekannte Mecha­nismus der Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Aggressor seine frucht­barsten Blüten treibt. Der Wille zur Selbst­feier der eigenen Kultur ist auch die Basis, die es dem Foto­jour­na­listen Shaol Schwarz erlaubte, sich in diese gefähr­liche Szene zu infil­trieren, gewiss ohne zu viel Fragen zu stellen. So konnte dieses unglaub­liche Dokument entstehen, das eine der – greifen die Notbremsen nicht schnell genug – nicht unwahr­schein­lichsten Variante zukünf­tiger Gesell­schaften weit über Mexiko hinaus zur Schau stellt. Nur eines ist pracht­voll in dieser Welt: die Friedhöfe, deren Gebäude oft reicher ausge­stattet sind als übliche Wohn­häuser.«

In Indo­ne­sien wurden nach dem Mili­tär­putsch 1965 von Para­mi­li­tärs und ange­wor­benen Krimi­nellen über eine Million Nicht­kon­former unter »Kommu­nis­ten­ver­dacht« gestellt und umge­bracht. Joshua Oppen­haimer wählt in seiner dänisch-norwe­gisch-gross­bri­ti­schen Kopro­duk­tion The Act of Killing die Form der schau­spie­le­ri­schen Nach­stel­lung der Mord­sze­na­rien, um den Tätern, bis heute in Amt und Ehre, nahe zu kommen. Begeis­tert folgen diese der Einladung zu – wie sie glauben – Filmstars zu werden und ihre effi­zi­enten Mord- und Folter­me­thoden selbst darzu­stellen. Bis heute sehen sie sich als Free Men, die auf eigenes Konto arbeiten und gleich­zeitig vom Staat geschützt werden. Während der Dreh­ar­beiten sind unter den Auftrags­kil­lern die unter­schied­lichsten Reak­tionen zu beob­achten, die das eigent­liche Zentrum des Filmes bilden: von narziss­ti­schen Selbst­ver­här­tung bis hin zu Spuren der Gewahr­wer­dens der eigenen Unmensch­lich­keit und Schuld.

Auch die anti­bas­ki­sche Unter­grundsor­ga­ni­sa­tion GAU betreibt Auftrags­mord als Tages­ge­schäft. Einer ihrer Kolla­bo­ra­teure sieht man in Salomé Lamas im Berliner Forum-Programm plat­zierten Film No Man’s Land (Terra de ninguém) auf einem Stuhl sitzend minuziös seine Taten berich­tend. Horror­szenen gehen Hand in Hand mit luziden Refle­xionen zu poli­ti­schen Zusam­men­hängen. An Witzen und Sprüchen mangelt es nicht. Der Mann mit CIA Vergan­gen­heit in El Salvador und Erfah­rungen in den Elite­kom­mandos der Kolo­ni­al­kriege in Mosambik und Angola weiß, wovon er spricht. Lamas numme­riert seine Aussagen als Refle­xi­ons­ma­te­rial. Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, Selbst­sti­li­sie­rung, Bekenntnis und Verdrän­gung verschwimmen, der Doku­men­tar­film inte­griert die Reflexion seiner eigenen Grenzen. Die Inter­views finden in einem abge­schat­teten Raum statt. Nur selten tritt der Prot­ago­nist ins Freie, wie in eine andere, mögliche Welt. Am Ende sieht man ihn in seine aktuelle Clochard­ex­is­tenz zurück kehren, unter einer Brücke in einer Hütte hausend. Bald darauf, so die Regis­seurin, verlor sie den Kontakt zu ihm. No Man’s Land ist ein Werk, das Fragen aufwirft, nicht zuletzt zu den unhin­ter­geh­baren Fiktio­na­li­sa­ti­ons­graden der »Reali­täts­dar­stel­lung«, immer dann, wenn Kommen­tare oder Zeugen­aus­sagen einfliessen.

TPB AFK : The Pirate Bay – Away From Keyboard – ist der Titel eines lang erwar­teten Beitrags über die weltweit größte Tausch­börse des Internets. Der gebüh­ren­freie Austausch von Filmen und Musik trifft den Nerv des welt­weiten Kommerzes. Entspre­chend hart die Reak­tionen (nicht nur) Holly­woods, das mobil macht gegen die Tech­no­freaks. Der Doku­men­tar­film Simon Kloses geht eher den Persön­lich­keits­pro­filen der Haupt­ak­teure nach, als dem sozio­po­li­ti­schen Phänomen. Er bringt junge Männer ins Bild, die in Dimen­sionen tech­ni­scher Mach­bar­keit denken, Heimat­lose, latent weltfremd und oft politisch unbedarft, körper­lich zumeist schwäch­lich, kaum profit­ori­en­tiert, stets schlichte Genies in ihrem Bereich, die am Sach­ver­stand der Gerichte, die über sie urteilen, verzwei­feln. Und selbst wenn die Gerichte kaum Gründe zu massiven Bestra­fung finden, da kein Berei­che­rungs­motiv unter­stellt werden kann, finden sich die Prot­ago­nisten, von Verhand­lung zu Verhand­lung gefordert, doch in einer Art Zeit­ge­fängnis. Auch Interpol nimmt sich ihrer gerne an, planen sie einen Ausstieg, etwa in Asien. Die Heraus­for­derer des Systems zahlen einen hohen Preis. Als Simon Klose während der Premiere auf der Berlinale von einem smarten Zuschauer gefragt wurde, wie er es denn selbst mit den Film­rechten hielte, antworte er schlicht, das der Film schon seit seiner Erst-Präsen­ta­tion am Vortrag auf Youtube und anderen Foren integral einsehbar sei, die Reak­tionen der Zuschauer im Saal mit einge­schlossen. Konse­quent !

Die in diesem Jahr besonders frucht­bare Forumsek­tion bot noch eine Reihe anderer hervor­zu­he­bender, form­be­wusster Werke. Der legendäre „Unabomber“ Ted Kaczynki, der Schlüs­sel­fi­guren der ameri­ka­ni­schen Wirt­schaft mit Brief­bomben angriff, um gegen die program­mierten Kata­stro­phen anzu­kämpfen, die das Geld­ka­pi­tal­system verur­sacht, ist abwe­senden Zentrum in James Bennings (USA) expe­ri­men­tellen Doku­men­tar­film Stemple Pass. Seine Tage­buch­auf­zeich­nungen erklingen im Off. Die Kamera zeigt lediglich eine Wald­land­schaft mit der rekon­stru­ierten Hütte, in die sich Kaczynki über Jahre hinweg zurück­ge­zogen hatte. Dort entwi­ckelte seine Theorie und bereitete seine Anschläge vor. Die Kamera folgt geduldig den Jahres­rhythmus der Natur in vier still­ste­henden Einstel­lungen, teils in Harmonie, teils in Diskre­panz mit den erklin­genden Refle­xionen. Im ersten Teil kreisen diese noch um reine Natur- und Alltags­be­ob­ach­tungen. Im weiteren Verlauf fliessen dann immer mehr auch die radikalen Theo­riefrag­mente Kaczynki ein, die an Theoreme der Frank­furter Schule erinnern, auch wenn sie zu anderen Konklu­sionen kommen. Der virulente, konden­tierte Gedan­ken­fluss steht in fremd­ar­tigen Kontrast mit der scheinbar unbe­wegten Natur, die einer anderen onto­lo­gi­schen Zone anzu­gehören scheint.

Zurück in die 80ger Jahre, in die Zeit der Anfänge der künst­li­chen Intel­li­genz und der Konfron­ta­tion zwischen mensch­li­chem Geist und Maschine, wenn auch beschränkt auf die 64-Feldern des Schach­spiels, versetzt den Zuschauer der US-Ameri­kaner Andrew Bujalskis. In seinem detail­freu­digen Werk Computer Chess, gedreht mit einer zeit­genös­si­schen Sony-Schwarz­weiß-Video­ka­mera, gelingt Bujalski auch ästhe­tisch die Rekon­struk­tion des emotional-sozialen Stands der Dinge zwischen Tech­no­eu­phorie und Spezia­lis­ten­dünkel, philo­so­phi­scher Speku­la­tion und harter Wett­be­werbs­kon­kur­renz. Selbst Anklänge an die aufkom­mende sexuelle Befrei­ungs­be­we­gung fliessen ein, in Form einer sexori­en­tierten Selbst­fin­dungs­gruppe, die sich im gleichen Hotel wie die Schach­freaks nieder­lässt. Wie ein authen­ti­sches Dokument einer verloren Zeit wirkt dieses ausser­ge­wöhn­liche Werk voller skurriler Figuren, das mit Humor und Ernst den ausweg­losen Kampf gegen die Kalku­la­ti­ons­ka­pa­zität der Maschine nach­zeichnet.

Die Schlüs­sel­figur des brasi­lia­ni­schen Avant­gar­de­be­we­gung, Hélio Oiticia, ist Zentrum des gleich­na­migen Filmes seines Neffen César Oiticia Filho. In Form von Found-Footage und Doku­men­tar­film-Fragment wird das Leben des eigent­li­chen Begrün­ders der Tropi­ciána-Bewegung nach­ge­zeichnet, dessen Schaffen Gemälde, Photo­gra­phien, Skulp­turen und Instal­la­ti­ons­kunst ebenso einschloss wie Tanz und Filmkunst. Zugleich viru­lenter Rebell an der Homo­se­xua­li­täts- wie an der Drogen­kul­turfront, trans­for­miert sich das Porträt Hélios zu einem faszi­nie­renden Spektrum einer der viru­len­testen Phasen der brasi­lia­ni­schen Kultur­ge­schichte. Das reiche, asso­zia­tive und wohl recher­chierte Bild­ma­te­rial wurde in Berlin mit dem Caligari-Preis gewürdigt.

Der Grenz­fluss zwischen Indien und Bangla­desch ist Schau­platz des impro­vi­sierten Über­le­bens. Auf einer hier entstan­denen, lediglich aus Sand bestehenden Insel flüch­teten sich die Bewohner einer benach­barten, geflu­teten Ortschaft. Schmugg­ler­ge­schäfte sichern die notwen­digsten Einkünfte. In dieser zukunfts­losen Situation beob­achtet Sourav Sarangi in Char... The No Man?s Land (...Moddhikhane Char) über Jahre hinweg die Heimat­losen, die sich als Stell­halter globaler Expa­ti­sie­rung und Delo­ka­li­sa­tion lesen lassen. Lassen sich bei den Heran­wach­senden noch Spuren von Lebens­kraft und Hoffnung aufspüren, hat sich das Leben der Erwachsen reduziert auf Fata­lismus und alltäg­liche Zwangs­ri­tuale.

Eine Extrem­si­tua­tion ist Thema auch des indischen Doku­men­tar­films Powerless von Fahad Mustafa undDeepti Kakkar. Strom­aus­fälle sind in Haupt­stadt Kanpur an der Tages­ord­nung. Chao­ti­scher könnte das Kabel­ge­wirr und die dadurch verur­sachten perma­nenten Kurz­schlüsse kaum sein. Schwarz­lei­tungen allü­berall. Der Rebell Lal Singh hat sich zur Aufgabe gemacht, die Verarmten zu versorgen. Die Vorsit­zende des Ener­gie­kon­zern Kesco sucht nach offi­zi­el­leren Lösungen. Beide sind mit nahezu unkon­trol­lier­baren Problemen konfron­tiert, in der die Korrup­ti­ons­me­cha­nismen der indischen Gesell­schaft deutlich werden. Ange­sichts der Proble­matik der Strom­ver­sor­gung schaffen die Filme­ma­cher das beein­dru­ckendes Bild einer anar­chi­schen Gesell­schaft wider Willen, die an ihrer eigenen Dekom­po­si­tion arbeitet. Und doch scheint in dem Kabel­wirr­warr noch etwas wie Lebens­lust auf, die Freunde an sprühenden Funken und Lebens­im­pro­vi­sa­ti­ons­kunst.

Wesent­lich stiller geht es in Massimo d’Alolfi und Marina Parentis medi­ta­tiven Doku­men­tar­film Materia Oscura zu, der eine auf den ersten Blick idyl­li­sche Land­schaft ins Bild bringt, die sich auf den zweiten Blick als durch und durch marode und verpestet entpuppt. Die sardi­ni­sche Region Salto di Quirra ist seit 1956 Waffe­n­er­pro­bungs­standort. Zerstörte Gerät­schaften, Munition und verrot­teten Müll werden von den Filme­ma­chern minuziös, leise und kommen­tarlos gesichtet. Zutiefst berührt, dass sich selbst an diesem Ort einige Farmer durch Land- und Tier­wirt­schaft zu behaupten versuchen, in einem fast aussichts­losen Kampf gegen die Umwelt­zer­störung. So zeigen die Filme­ma­cher beispiels­weise Bilder lebens­un­fähig geborener Kälber, die trotz sorgsamen Pflege und Sonder­be­hand­lung dahin­sie­chen und krepieren. Die inten­siven Blicke der verkerbten Gesichter der Einwohnen wirken wie Mahnung und zugleich Abgesang einer Mensch­heit auf verlo­renem Posten ange­sichts der funk­tio­nie­renden Kriegs­wirt­schaft. Materia Oscura ist ein Werk ohne Kommentar und Infor­ma­ti­ons­zu­gabe, von einigen doku­men­ta­ri­schen Bildern der Mili­tär­ar­chive abgesehen. Gerade so wirken die Bilder wie die Sprache des kranken Körpers der Land­schaft selbst.

Nach jahre­langen Ausflügen in die Welt vitaler Absur­di­täten und des perfor­ma­tiven Spiel mit verspielten Sinn, Hinter­sinn und Unsinn kehrt der Schweizer Peter Lichti in sein Elterhaus zurück, um hier mit einem noch nach­hal­ti­gerem Irrsinn aufzu­spüren. Sein in Vaters Garten – Die Liebe meiner Eltern porträ­tiertes Eltern­paar wirkt auf den großs­täd­ti­schen Zuschauer wie ein Fossil aus vergan­genen Zeiten. Zwischen Bigot­terie und Lebens­ent­sa­gung werden hier alte Rollen­muster knallhart durchlebt. Hölle, Himmels und der liebe Gott sind hier Begriffe ohne Meta­phern­sinn, unan­ge­zwei­felte Dimen­sionen der eigenen Daseins­deu­tung. Die Eltern Lichtis führten ein nicht wirklich glück­li­ches, aber ruhiges Leben, ein Leben ohne Alter­na­tive in einer Welt, wo Werte nicht disku­tiert, sondern geteilt werden. Bedrü­ckend und berührend wirkt diesen Paar in seinem Verzichts­gestus, nie mehr gewollt zu haben vom Leben. Lichti nähert sich ihnen vorsichtig an, gewiss mit Humor, aber auf Polemik, Über­heb­lich­keit oder Kommen­tar­di­stanz. Er lässt das Paar selber sprechen und nach­wirken. So entsteht ein einding­li­ches Porträt einer Welt am Rand des Schwin­dens.