25.05.2013
66. Filmfestspiele Cannes 2013

»Jemand musste die Sachen machen.«

Claude Lanzmann am Bahnsteig
Claude Lanzmann

Claude Lanzmanns neuer atemberaubender Film »Le dernier des injustes« an der Croisette – Cannes-Notizen, dritte Folge

Von Rüdiger Suchsland

Da hätte man gerne zugehört: Ziemlich genau 20 Jahre ist es her, als Steven Spiel­bergs Schind­lers Liste eine heftige Kontro­verse auslöste. Claude Lanzmann hatte Spielberg und seinen Film damals öffent­lich ange­griffen, ihm Miss­brauch der Geschichte und »Holly­woo­di­sie­rung« der Shoah vorge­worfen – ein früher Vorwurf dessen, was später unter »Holocaust Industrie« verstanden wurde. Am Wochen­ende nun sind sich Lanzmann und Spielberg nach langer Zeit erstmals begegnet, bei einem Abend­essen in Cannes im Rahmen der Film­fest­spiele. Dort entscheidet Spielberg als Jury­prä­si­dent am Wochen­ende über Goldene und Silberne Palmen, Lanzmann präsen­tierte seinen neuen Film

Man hätte zu gerne gewusst, was Lanzmann und Spielberg mitein­ander geredet haben. Ob sie sich wirklich etwas zu sagen hatten, es viel­leicht gar zu einer späten Beilegung des Streits kam, oder ob da am Ende nur zwei Alpha­tiere belang­lose Freund­lich­keiten austauschten, um den Gastgeber nicht in Verle­gen­heit zu bringen und so die Party zu verderben. Denn Alpha­tiere sind beide selbst­ver­s­tänd­lich, auch wenn man das bei Spiel­bergs öffent­lich zur Schau getra­genen Freund­lich­keit weniger deutlich wird, als beim grum­me­ligen Lanzmann. Und natürlich geht es bei solchen Kontro­versen auch um Macht und persön­liche Eitel­keiten, darum, wer am Ende die Deutungs­ho­heit um die filmische Darstel­lung der Shoah behält, als deren erste und wahre Kino­haus­meier sich wohl beide Regis­seure sehen dürften.

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In Frank­reich hat Lanzmann in der Hinsicht nach wie vor die Nase vorn, schon weil er Franzose und Spielberg Ameri­kaner ist. Das erlebte man wieder bei der umju­belten, mit lange Minuten dauerndem, stehenden Applaus gefei­erten Premiere von Le dernier des injustes (Der Letzte der Unge­rechten). Das Publikum war noch promi­nenter besetzt als sonst in Cannes, und begleitet wurde Lanzmann von der »Première Dame« Frank­reichs, Valérie Trier­weiler, der Lebens­ge­fährtin von Präsident François Hollande.

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In seinem über drei Stunden dauernden Doku­men­tar­film erzählt Lanzmann die Geschichte von Benjamin Murmel­stein, des einzigen Präsi­denten eines Juden­rates in einem von den Nazis kontrol­lierten Ghetto, der den Zweiten Weltkrieg überlebt hatte. Basis des Films ist ein langes Interview, das Lanzmann 1975 im Rahmen der Arbeiten an Shoah mit Murmel­stein geführt hatte. Lanzmann ergänzt es durch eine lose Erzählung der Geschichte des Konzen­tra­ti­ons­la­gers There­si­en­stadt, das der Nazi-Propa­ganda bis fast zum Ende des Krieges als »Modell-Lager«, im NS-Jargon »Ghetto« diente. Dazu kommen Bilder von Lanzmanns Reise an die Schau­plätze in ihrer heutigen Gestalt.

Vor allem der letzte Punkt unter­scheidet diesen Film etwas von Shoah und Sobibor. Man sieht viel mehr Lanzmann diesmal, und das wirkt manchmal ein bisschen alther­ren­haft. Als ließe sich der strenge Film­künstler Lanzmann gehen. Aber immer wieder ist der Effekt auch ein anderer. Besonders als Lanzmann zur Hinrich­tungs­stätte in There­si­en­stadt tritt und die Ereig­nisse an einem der ersten Tage des Lagers detail­liert beschreibt, ist der Eindruck intensiv, und lässt erschauern. Etwas später kommt es zu einem weiteren groß­ar­tigen Moment, als Lanzmann im Hof der »kleinen Festung« Sätze aus der letzten Rede (zu Beginn des jüdischen Neujahrs) von Paul Eppstein liest, dem zweiten »Ältesten« und unmit­tel­baren Vorgänger Murmel­steins. Dort heißt es unter anderem: »Die Lage erlaubt mir nicht, offen zu sprechen, aber ich will euch die heutige Situation zumindest mit einem Vergleich skiz­zieren. Übers Meer fährt ein Schiff. Es ist mit vielen Tausend Passa­gieren besetzt. Alle sind bereits erschöpft und unge­duldig, weil die Fahrt viel länger dauert, als sie gerechnet hatten. Endlich erblicken sie das ersehnte Festland. Sie nähern sich ihm immer mehr. Doch statt der erwar­teten Beru­hi­gung macht sich Nervo­sität unter den Passa­gieren breit, die sich noch steigert, als sie bemerken, dass das Schiff jetzt noch langsamer fährt als vorher. Sie laufen zum Kapitän und fragen, wann sie endlich in den sicheren Hafen einlaufen werden. Sie fordern ihn mit Worten, mit Bitten und am Ende mit Beschimp­fungen auf, die Fahrt zu beschleu­nigen, aber er beachtet sie nicht, lässt sie reden, schimpfen, fluchen und er schweigt, ja, erteilt das Kommando, noch langsamer zu fahren. Warum tut er das? Er als einziger weiß, dass an den Stellen, die sie gerade passieren, viele gefähr­liche Minen lauern, und dass große Vorsicht geboten ist, damit das Schiff nicht gegen eine Mine prallt. Was liegt denn daran, dass sie das Ziel einige Stunden später erreichen, wenn sie es nur heil und ohne Unfall erreichen. So wie dieser Kapitän handeln auch wir. Verlasst Euch auf uns! Habt Geduld, wir werden Euch alle in eine neue Zeit führen.«

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Im Zentrum des Films aber steht Murmel­stein selbst. Dieser ist eine überaus schil­lernde Figur. In Wien 1905 geboren und aufge­wachsen, trat der ausge­bil­dete Rabbi kurz nach dem »Anschluss« Öster­reichs im Sommer 1938 in die jüdische Verwal­tungs­or­ga­ni­sa­tion ein, und hatte dort schon bald direkt mit Adolf Eichmann zu tun. »Er hat bei mir Auswan­de­rung studiert.« Die NS-Behörden waren in den Anfängen der Endlösung ihres Verhal­tens noch unsicher. »Es sollte eine Selbst­de­por­ta­tion sein … Die Mario­nette sollte selber die Fäden ziehen.«

Murmel­stein erwies sich als geschickter Prag­ma­tiker – »Wenn Sie zeigen, dass Sie Angst haben, dann ist alles verloren.« –, der selbst eigene Möglich­keiten zur Flucht nicht nutzte, und statt­dessen die Auswan­de­rung vieler öster­rei­chi­scher Juden orga­ni­sierte, darunter sogar über Zug-Trans­porte 1940 und 1941 durch das besetzte (!) Frank­reich nach Portugal. Lanzmanns Film fesselt gerade durch den Reichtum an solchen Details und einige bisher unbe­kannte Fakten. Zu denen gehört auch die Erin­ne­rung an das heute fast verges­sene Lager Nisko, der erste, schnell abge­bro­chene Versuch eines »Modell-Lagers« im polni­schen Grenz­ge­biet, zwischen verseuchten Sümpfen und knapp vor Winter­an­bruch. Im Oktober 1939 war dieser »Nisko-Plan« die Blaupause für alle späteren Depor­ta­tionen und die Vernich­tungs­lager, ein Expe­ri­ment.

Auch behauptet Murmel­stein nach­drück­lich, Eichmann habe persön­lich – »mit dem Revolver in der Hand« – bei den Zers­törungen der Wiener Synagogen und anderen Ausschrei­tungen im Rahmen der Novem­ber­po­grome 1938 (»Reichs­kris­tall­nacht«) mitge­wirkt – beim Jeru­sa­lemer Prozess hatte man Eichmann 1961 in diesem Punkt ausdrück­lich entlastet. Hier urteilt Benjamin Murmel­stein sarkas­tisch: »Wenn Prozess, dann anständig. Den Eichmann hinzu­richten, ist keine Kunst.«

Seit Anfang 1943 war Murmel­stein dann Mitglied im »Judenrat« von There­si­en­stadt, im November ‘44 wurde er als Eppsteins Nach­folger Ältester. Sein Verhalten in diesen Funk­tionen – zu deren Aufgaben die Orga­ni­sa­tion von Trans­porten in die Vernich­tungs­lager gehörte – wurde von manchen im Rückblick vertei­digt, andere griffen ihn dagegen scharf an, beschul­digten ihn der Kolla­bo­ra­tion und forderten gar, wie Gershom Scholem, seine Hinrich­tung. Murmel­stein habe es »…am meisten verdient, vom jüdischen Volk gehängt zu werden.« Das ist mindes­tens selbst­ge­recht, und Murmel­stein, von Lanzmann darauf ange­spro­chen, erinnert daran, dass Sholem sich seiner­zeit gegen die Hinrich­tung Eichmanns ausge­spro­chen hatte: »…ist ein bisschen kapriziös, der Herr mit dem Aufhängen.«

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Lanzmann setzt sich mit solchen Kolla­bo­ra­tions-Vorwürfen aber detail­liert ausein­ander, fragt immer wieder nah, nach Gefühlen, Vorstel­lungen, Moral, nimmt Murmel­stein richtig in die Mangel – doch der hat durchaus prag­ma­ti­sche Argumente auf seiner Seite: »Der Chirurg, der über den Kranken weint, bringt ihn um«, sagt er einmal, ein andermal nennt er sich selbst einen »Sancho Pansa, der mit beiden Beinen auf der Erde stand und kalku­liert hat, während die anderen ihre Don-Quixo­te­rien machten.«
Er hat aber auch gele­gent­lich Formu­lie­rungen, die den Ausreden der Täter zum Verwech­seln ähnlich sehen: »Wir sind alle Menschen. … Jemand musste die Sachen machen. Als Jude unter Hitler kann ich mir den Luxus des Gentleman-seins nicht erlauben.«
Und es bleibt die grund­sätz­liche Frage: Kann man mit dem Teufel essen? Darf man mit den Nazis Geschäfte machen? Liegt nicht in jeder Haltung diesseits totaler Verwei­ge­rung, diesseits des Aufstands, der Keim einer Korrup­tion mit dem Bösen?
Wie alle Filme Lanzmanns ist Le dernier des injustes ein Dokument des Exis­ten­tia­lismus; er rührt an grund­le­gendste mora­li­sche Fragen des ange­mes­senen Verhal­tens im Angesicht alltäg­li­chen Massen­mords.

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Es bleiben viele Rätsel. Nicht zuletzt There­si­en­stadt selbst. Lanzmann rekon­stru­iert das System There­si­en­stadt. Aber es bleibt die Frage: Warum gab es überhaupt das Lager? Und warum erhielt man es ange­sichts des verlo­renen Krieges selbst Anfang 1945 auch unter hohen Kriegs­an­stren­gungen noch aufrecht? Warum kam es noch 1944 zu dem berühmten Propa­ganda-Film Der Führer schenkt den Juden eine Stadt – »Quel cadeau!« (sagt dazu Lanzmann). Die Beweg­gründe der Häftlinge, hier mitzu­ma­chen sind leicht nach­voll­ziehbar: »Wenn sie uns zeigen, können sie uns nicht umbringen. Sollen sie mit uns Propa­ganda machen.«
Aber die Gründe für There­si­en­stadts Existenz liegen womöglich nicht in der Propa­gan­da­wir­kung. Benjamin Murmel­stein hat eine einleuch­ten­dere Erklärung und verweist auf Eichmanns Moti­va­tion: Der sei vor allem korrupt gewesen. »Solange There­si­en­stadt bestand, hatte Eichmann Gründe gehabt, eigene Fonds zu haben.«

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Man kann nicht sagen, dass Murmel­stein in dem Film dem Zuschauer durchweg sympa­thisch erscheint. Kaum glauben möchte man die Behaup­tung, man habe in There­si­en­stadt von »Auschwitz« und der Shoah bis kurz vor Kriegs­ende »nichts gewusst«. Ohne Frage scheint sein Verhalten auch durch eine gewisse Eitelkeit motiviert, mögli­cher­weise genoss er die Macht­stel­lung, die er innehatte. Mehrfach im Film betont er, er sei »ein Aben­teurer« – eine frivole Selbst­cha­rak­te­ri­sie­rung vor dem Hinter­grund nackten Terrors. Doch Lanzmann liegt es daran eine entschei­dende Differenz zu betonen: »Es waren nicht die Juden, die einander gemordet haben. Wir sehen klar, wer die Mörder waren. Mir gefällt der Gedanke, dass mein Film, mehr Vers­tändnis für Murmel­stein wecken könnte, mehr Empathie, und dass die Verfolger sich beruhigen.«

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Am Ende sehen wir beide in Rom, wo Murmel­stein lebte, vor dem Konstan­tins­bogen verschwinden: »Der Dino­saurus verschwindet von der Fläche.« resümiert der »Aben­teurer« Murmel­stein sein Leben. Er sei »vor Gefahr nicht zurück­ge­schreckt.« Und zu Lanzmann: Sie sind die letzte Gefahr für mich. Der antwortet »Ja, Sie sind ein Tiger.«

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Ein Tiger ist Lanzmann natürlich auch. Im Nachspann seines Films dankt er auch der Shoah-Foun­da­tion Spiel­bergs. Dort kann man längere Ausschnitte des Inter­views mit Murmel­stein nach­gu­cken, und sich selbst einen Eindruck verschaffen.

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Gegenüber diesem Film verblasste alles andere. Im Wett­be­werb enttäuschten die Coen-Brüder mit einer schön gemachten, aber durch und durch lang­wei­ligen und abgrund­tief banalen Folk-Musik-Story (Inside Llewyn Davis).
In der unab­hän­gigen »Quinzaine«-Sektion lief Ari Folmans The Congress, eine sehr eigen­wil­lige und in die Gegenwart und nahe Zukunft versetzte Verfil­mung von Stanislav Lems »Der futu­ris­ti­sche Kongress«. Halb als mit bekannten Stars – Robin Wright Penn und Danny Huston – besetzer Realfilm, halb als Animation in dem aus Waltz With Bashir bekannten Stil, konfron­tiert der Film eine reale, analoge, schmutzig-depres­sive Zukunft aus Lumpen, Zeppe­linen und Bauhaus-Moderne mit einer bunten Gegenwelt der Hallu­zi­na­tion, die erscheint wie der LSD-Trip eines Comic­zeich­ners. Matrix lässt grüßen. Robin Wright spielt sich selbst, einen alternden Filmstar, der seinen Körper verkauft, um in der virtu­ellen Welt nicht mehr zu altern. Als »Rebel Robot Robin« wird sie dort zum Super­hel­den­star. The Congress ist am besten als Parodie des Film­busi­ness voller kluger Verweise auf Stanley Kubrick, Film noir und Science-Fiction-Kino. auch die Animation schafft begeis­ternde poetische Momente. Demge­genüber ermüdet Folmans/Lems Mora­li­sieren gegen die Enter­tain­ment-Kultur und die Alter­na­tive zwischem falschem Glück und unglück­li­chem, aber wahr­haf­tigem Leben wirkt nicht nur etwas ange­staubt, es scheint auch weniger klar, wie man sich hier entscheiden möchte.

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So verstand man, warum dieser Film nur in einer Neben­reihe landete, nicht im Wett­be­werb. So wird Steven Spielberg diesen Film vorerst nicht sehen, und eine letzte Spitze Folmans nicht hören, die dagegen eher Lanzmann amüsieren dürfte: »Nazis and Holocaust in cinema bring the awards.«