66. Filmfestspiele Cannes 2013
»Jemand musste die Sachen machen.« |
||
Claude Lanzmann |
Da hätte man gerne zugehört: Ziemlich genau 20 Jahre ist es her, als Steven Spielbergs Schindlers Liste eine heftige Kontroverse auslöste. Claude Lanzmann hatte Spielberg und seinen Film damals öffentlich angegriffen, ihm Missbrauch der Geschichte und »Hollywoodisierung« der Shoah vorgeworfen – ein früher Vorwurf dessen, was später unter »Holocaust Industrie« verstanden wurde. Am Wochenende nun sind sich Lanzmann und Spielberg nach langer Zeit erstmals begegnet, bei einem Abendessen in Cannes im Rahmen der Filmfestspiele. Dort entscheidet Spielberg als Jurypräsident am Wochenende über Goldene und Silberne Palmen, Lanzmann präsentierte seinen neuen Film
Man hätte zu gerne gewusst, was Lanzmann und Spielberg miteinander geredet haben. Ob sie sich wirklich etwas zu sagen hatten, es vielleicht gar zu einer späten Beilegung des Streits kam, oder ob da am Ende nur zwei Alphatiere belanglose Freundlichkeiten austauschten, um den Gastgeber nicht in Verlegenheit zu bringen und so die Party zu verderben. Denn Alphatiere sind beide selbstverständlich, auch wenn man das bei Spielbergs öffentlich zur Schau getragenen Freundlichkeit weniger deutlich wird, als beim grummeligen Lanzmann. Und natürlich geht es bei solchen Kontroversen auch um Macht und persönliche Eitelkeiten, darum, wer am Ende die Deutungshoheit um die filmische Darstellung der Shoah behält, als deren erste und wahre Kinohausmeier sich wohl beide Regisseure sehen dürften.
+ + +
In Frankreich hat Lanzmann in der Hinsicht nach wie vor die Nase vorn, schon weil er Franzose und Spielberg Amerikaner ist. Das erlebte man wieder bei der umjubelten, mit lange Minuten dauerndem, stehenden Applaus gefeierten Premiere von Le dernier des injustes (Der Letzte der Ungerechten). Das Publikum war noch prominenter besetzt als sonst in Cannes, und begleitet wurde Lanzmann von der »Première Dame« Frankreichs, Valérie Trierweiler, der Lebensgefährtin von Präsident François Hollande.
+ + +
In seinem über drei Stunden dauernden Dokumentarfilm erzählt Lanzmann die Geschichte von Benjamin Murmelstein, des einzigen Präsidenten eines Judenrates in einem von den Nazis kontrollierten Ghetto, der den Zweiten Weltkrieg überlebt hatte. Basis des Films ist ein langes Interview, das Lanzmann 1975 im Rahmen der Arbeiten an Shoah mit Murmelstein geführt hatte. Lanzmann ergänzt es durch eine lose Erzählung der Geschichte des Konzentrationslagers Theresienstadt, das der Nazi-Propaganda bis fast zum Ende des Krieges als »Modell-Lager«, im NS-Jargon »Ghetto« diente. Dazu kommen Bilder von Lanzmanns Reise an die Schauplätze in ihrer heutigen Gestalt.
Vor allem der letzte Punkt unterscheidet diesen Film etwas von Shoah und Sobibor. Man sieht viel mehr Lanzmann diesmal, und das wirkt manchmal ein bisschen altherrenhaft. Als ließe sich der strenge Filmkünstler Lanzmann gehen. Aber immer wieder ist der Effekt auch ein anderer. Besonders als Lanzmann zur Hinrichtungsstätte in Theresienstadt tritt und die Ereignisse an einem der ersten Tage des Lagers detailliert beschreibt, ist der Eindruck intensiv, und lässt erschauern. Etwas später kommt es zu einem weiteren großartigen Moment, als Lanzmann im Hof der »kleinen Festung« Sätze aus der letzten Rede (zu Beginn des jüdischen Neujahrs) von Paul Eppstein liest, dem zweiten »Ältesten« und unmittelbaren Vorgänger Murmelsteins. Dort heißt es unter anderem: »Die Lage erlaubt mir nicht, offen zu sprechen, aber ich will euch die heutige Situation zumindest mit einem Vergleich skizzieren. Übers Meer fährt ein Schiff. Es ist mit vielen Tausend Passagieren besetzt. Alle sind bereits erschöpft und ungeduldig, weil die Fahrt viel länger dauert, als sie gerechnet hatten. Endlich erblicken sie das ersehnte Festland. Sie nähern sich ihm immer mehr. Doch statt der erwarteten Beruhigung macht sich Nervosität unter den Passagieren breit, die sich noch steigert, als sie bemerken, dass das Schiff jetzt noch langsamer fährt als vorher. Sie laufen zum Kapitän und fragen, wann sie endlich in den sicheren Hafen einlaufen werden. Sie fordern ihn mit Worten, mit Bitten und am Ende mit Beschimpfungen auf, die Fahrt zu beschleunigen, aber er beachtet sie nicht, lässt sie reden, schimpfen, fluchen und er schweigt, ja, erteilt das Kommando, noch langsamer zu fahren. Warum tut er das? Er als einziger weiß, dass an den Stellen, die sie gerade passieren, viele gefährliche Minen lauern, und dass große Vorsicht geboten ist, damit das Schiff nicht gegen eine Mine prallt. Was liegt denn daran, dass sie das Ziel einige Stunden später erreichen, wenn sie es nur heil und ohne Unfall erreichen. So wie dieser Kapitän handeln auch wir. Verlasst Euch auf uns! Habt Geduld, wir werden Euch alle in eine neue Zeit führen.«
+ + +
Im Zentrum des Films aber steht Murmelstein selbst. Dieser ist eine überaus schillernde Figur. In Wien 1905 geboren und aufgewachsen, trat der ausgebildete Rabbi kurz nach dem »Anschluss« Österreichs im Sommer 1938 in die jüdische Verwaltungsorganisation ein, und hatte dort schon bald direkt mit Adolf Eichmann zu tun. »Er hat bei mir Auswanderung studiert.« Die NS-Behörden waren in den Anfängen der Endlösung ihres Verhaltens noch unsicher. »Es sollte eine Selbstdeportation sein … Die Marionette sollte selber die Fäden ziehen.«
Murmelstein erwies sich als geschickter Pragmatiker – »Wenn Sie zeigen, dass Sie Angst haben, dann ist alles verloren.« –, der selbst eigene Möglichkeiten zur Flucht nicht nutzte, und stattdessen die Auswanderung vieler österreichischer Juden organisierte, darunter sogar über Zug-Transporte 1940 und 1941 durch das besetzte (!) Frankreich nach Portugal. Lanzmanns Film fesselt gerade durch den Reichtum an solchen Details und einige bisher unbekannte Fakten. Zu denen gehört auch die Erinnerung an das heute fast vergessene Lager Nisko, der erste, schnell abgebrochene Versuch eines »Modell-Lagers« im polnischen Grenzgebiet, zwischen verseuchten Sümpfen und knapp vor Winteranbruch. Im Oktober 1939 war dieser »Nisko-Plan« die Blaupause für alle späteren Deportationen und die Vernichtungslager, ein Experiment.
Auch behauptet Murmelstein nachdrücklich, Eichmann habe persönlich – »mit dem Revolver in der Hand« – bei den Zerstörungen der Wiener Synagogen und anderen Ausschreitungen im Rahmen der Novemberpogrome 1938 (»Reichskristallnacht«) mitgewirkt – beim Jerusalemer Prozess hatte man Eichmann 1961 in diesem Punkt ausdrücklich entlastet. Hier urteilt Benjamin Murmelstein sarkastisch: »Wenn Prozess, dann anständig. Den Eichmann hinzurichten, ist keine Kunst.«
Seit Anfang 1943 war Murmelstein dann Mitglied im »Judenrat« von Theresienstadt, im November ‘44 wurde er als Eppsteins Nachfolger Ältester. Sein Verhalten in diesen Funktionen – zu deren Aufgaben die Organisation von Transporten in die Vernichtungslager gehörte – wurde von manchen im Rückblick verteidigt, andere griffen ihn dagegen scharf an, beschuldigten ihn der Kollaboration und forderten gar, wie Gershom Scholem, seine Hinrichtung. Murmelstein habe es »…am meisten verdient, vom jüdischen Volk gehängt zu werden.« Das ist mindestens selbstgerecht, und Murmelstein, von Lanzmann darauf angesprochen, erinnert daran, dass Sholem sich seinerzeit gegen die Hinrichtung Eichmanns ausgesprochen hatte: »…ist ein bisschen kapriziös, der Herr mit dem Aufhängen.«
+ + +
Lanzmann setzt sich mit solchen Kollaborations-Vorwürfen aber detailliert auseinander, fragt immer wieder nah, nach Gefühlen, Vorstellungen, Moral, nimmt Murmelstein richtig in die Mangel – doch der hat durchaus pragmatische Argumente auf seiner Seite: »Der Chirurg, der über den Kranken weint, bringt ihn um«, sagt er einmal, ein andermal nennt er sich selbst einen »Sancho Pansa, der mit beiden Beinen auf der Erde stand und kalkuliert hat, während die anderen ihre
Don-Quixoterien machten.«
Er hat aber auch gelegentlich Formulierungen, die den Ausreden der Täter zum Verwechseln ähnlich sehen: »Wir sind alle Menschen. … Jemand musste die Sachen machen. Als Jude unter Hitler kann ich mir den Luxus des Gentleman-seins nicht erlauben.«
Und es bleibt die grundsätzliche Frage: Kann man mit dem Teufel essen? Darf man mit den Nazis Geschäfte machen? Liegt nicht in jeder Haltung diesseits totaler Verweigerung, diesseits des Aufstands, der
Keim einer Korruption mit dem Bösen?
Wie alle Filme Lanzmanns ist Le dernier des injustes ein Dokument des Existentialismus; er rührt an grundlegendste moralische Fragen des angemessenen Verhaltens im Angesicht alltäglichen Massenmords.
+ + +
Es bleiben viele Rätsel. Nicht zuletzt Theresienstadt selbst. Lanzmann rekonstruiert das System Theresienstadt. Aber es bleibt die Frage: Warum gab es überhaupt das Lager? Und warum erhielt man es angesichts des verlorenen Krieges selbst Anfang 1945 auch unter hohen Kriegsanstrengungen noch aufrecht? Warum kam es noch 1944 zu dem berühmten Propaganda-Film Der Führer schenkt den Juden eine Stadt – »Quel cadeau!« (sagt dazu Lanzmann). Die
Beweggründe der Häftlinge, hier mitzumachen sind leicht nachvollziehbar: »Wenn sie uns zeigen, können sie uns nicht umbringen. Sollen sie mit uns Propaganda machen.«
Aber die Gründe für Theresienstadts Existenz liegen womöglich nicht in der Propagandawirkung. Benjamin Murmelstein hat eine einleuchtendere Erklärung und verweist auf Eichmanns Motivation: Der sei vor allem korrupt gewesen. »Solange Theresienstadt bestand, hatte Eichmann Gründe gehabt, eigene Fonds zu
haben.«
+ + +
Man kann nicht sagen, dass Murmelstein in dem Film dem Zuschauer durchweg sympathisch erscheint. Kaum glauben möchte man die Behauptung, man habe in Theresienstadt von »Auschwitz« und der Shoah bis kurz vor Kriegsende »nichts gewusst«. Ohne Frage scheint sein Verhalten auch durch eine gewisse Eitelkeit motiviert, möglicherweise genoss er die Machtstellung, die er innehatte. Mehrfach im Film betont er, er sei »ein Abenteurer« – eine frivole Selbstcharakterisierung vor dem Hintergrund nackten Terrors. Doch Lanzmann liegt es daran eine entscheidende Differenz zu betonen: »Es waren nicht die Juden, die einander gemordet haben. Wir sehen klar, wer die Mörder waren. Mir gefällt der Gedanke, dass mein Film, mehr Verständnis für Murmelstein wecken könnte, mehr Empathie, und dass die Verfolger sich beruhigen.«
+ + +
Am Ende sehen wir beide in Rom, wo Murmelstein lebte, vor dem Konstantinsbogen verschwinden: »Der Dinosaurus verschwindet von der Fläche.« resümiert der »Abenteurer« Murmelstein sein Leben. Er sei »vor Gefahr nicht zurückgeschreckt.« Und zu Lanzmann: Sie sind die letzte Gefahr für mich. Der antwortet »Ja, Sie sind ein Tiger.«
+ + +
Ein Tiger ist Lanzmann natürlich auch. Im Nachspann seines Films dankt er auch der Shoah-Foundation Spielbergs. Dort kann man längere Ausschnitte des Interviews mit Murmelstein nachgucken, und sich selbst einen Eindruck verschaffen.
+ + +
Gegenüber diesem Film verblasste alles andere. Im Wettbewerb enttäuschten die Coen-Brüder mit einer schön gemachten, aber durch und durch langweiligen und abgrundtief banalen Folk-Musik-Story (Inside Llewyn Davis).
In der unabhängigen »Quinzaine«-Sektion lief Ari Folmans The
Congress, eine sehr eigenwillige und in die Gegenwart und nahe Zukunft versetzte Verfilmung von Stanislav Lems »Der futuristische Kongress«. Halb als mit bekannten Stars – Robin Wright Penn und Danny Huston – besetzer Realfilm, halb als Animation in dem aus Waltz With Bashir bekannten Stil, konfrontiert der Film eine reale, analoge, schmutzig-depressive Zukunft aus Lumpen,
Zeppelinen und Bauhaus-Moderne mit einer bunten Gegenwelt der Halluzination, die erscheint wie der LSD-Trip eines Comiczeichners. Matrix lässt grüßen. Robin Wright spielt sich selbst, einen alternden Filmstar, der seinen Körper verkauft, um in der virtuellen Welt nicht mehr zu altern. Als »Rebel Robot Robin« wird sie dort zum Superheldenstar. The Congress ist am besten als Parodie des Filmbusiness voller kluger Verweise auf Stanley Kubrick, Film noir und Science-Fiction-Kino. auch die Animation schafft begeisternde poetische Momente. Demgegenüber ermüdet Folmans/Lems Moralisieren gegen die Entertainment-Kultur und die Alternative zwischem falschem Glück und unglücklichem, aber wahrhaftigem Leben wirkt nicht nur etwas angestaubt, es
scheint auch weniger klar, wie man sich hier entscheiden möchte.
+ + +
So verstand man, warum dieser Film nur in einer Nebenreihe landete, nicht im Wettbewerb. So wird Steven Spielberg diesen Film vorerst nicht sehen, und eine letzte Spitze Folmans nicht hören, die dagegen eher Lanzmann amüsieren dürfte: »Nazis and Holocaust in cinema bring the awards.«